Wenn die Liebe geht
Für manche Paare ist die Trennung das Beste, was ihnen passieren kann, nachdem man einander jahrelang im Weg gestanden ist.
Menschen ändern sich. Lebensumstände ändern sich. Ansichten. Überzeugungen. Manche Menschen wollen sich entwickeln, andere nicht. Oder man entwickelt sich in verschiedene Richtungen.
Muss man sich trennen, wenn man nicht mehr am gleichen Strick zieht?
Das Leben ist grundsätzlich anstrengend. Nicht immer, aber oft. Das liegt daran, dass man nicht weiterkommt, so lange man sich in der Komfortzone aufhält. Dort, wo es nicht anstrengend ist. Entwicklung geschieht am Rand, wo es ungemütlich wird – nicht in der Mitte. Da kann man jeden Biologen fragen.
Man muss sich also anstrengen, um im Leben wohin zu kommen. Wenn man in einem Gespann mit einem Partner ist, der in die andere Richtung zieht, kann man sich vorstellen, wie viel zusätzliche Energie aufgewendet werden muss, damit die Richtung beibehalten werden kann. Dabei war es doch früher mal ganz in Ordnung. Heirat, Kinder, Eigenheim, Kinder ausgeflogen, wieder mehr Zeit – und jetzt?
Der Psychiater und Psychotherapeut M. Scott Peck (1936 bis 2005) vergleicht in seinem Buch «Der wunderbare Weg» die Ehe mit einem Basecamp. Das haben Mann und Frau bei der Hochzeit gemeinsam errichtet. Erfolgreiche Bergsteiger wissen, dass ein gut eingerichtetes Basecamp entscheidend für den Erfolg der Expedition ist – und für ihr Überleben. Es muss stabil konstruiert und mit Vorräten ausgerüstet sein. Mann und Frau errichten also ein Basecamp, um ihren Nachwuchs darin grosszuziehen oder ein anderes gemeinsames Projekt zum Fliegen zu bringen. So weit, so gut. Aber dann:
Der Mann verursacht Eheprobleme, wenn er, kaum ist er verheiratet, all seine Kraft und Energie dem Erklimmen ferner Gipfel widmet und es versäumt, sich um sein Basecamp, die Ehe, zu kümmern. Er erwartet, dieses in bester Ordnung vorzufinden, wenn er von anstrengenden Touren heimkehrt, damit er sich erholen kann, übernimmt aber keine Verantwortung für den Unterhalt (mit Ausnahme der finanziellen, wenn er das Geld verdient).
Eines Tages findet er bei seiner Rückkehr desolate Zustände vor: Der Haushalt liegt in Trümmern, die Frau hat einen Nervenzusammenbruch, spricht dem Alkohol zu, ist mit dem feschen Nachbarn durchgebrannt oder weigert sich aus anderen Gründen, ihren Job als Hüterin des Hauses zu erledigen. Der Mann fällt aus allen Wolken. Er hat nichts davon bemerkt, weil er mit seinen Abenteuern beschäftigt war.
Die Frau verursacht natürlich auch Eheprobleme, wenn sie die Errichtung des Basecamps als den Höhepunkt ihres Daseins betrachtet, als den Gipfel all ihrer Bemühungen. Für sie ist das Basecamp die Erfüllung. Mehr geht nicht. Deshalb versteht sie nicht, warum der Mann jetzt unbedingt ausschwärmen und diese blödsinnigen Gipfel erklimmen muss. Warum kann er nicht einfach bei ihr zu Hause bleiben, damit man es gemeinsam schön und gemütlich hat?
Manchmal hilft es, wenn man etwas weiss über männliche und weibliche Energie. Das Männliche will etwas erschaffen, umsetzen, in die Welt bringen. Männliche Energie ist zielgerichtet, passgenau und leistungsorientiert. Das Weibliche hingegen dehnt sich aus und gibt den Raum. Es ist grenzenlos, uferlos. Frauen sind Hüterinnen und Bewahrerinnen. Sie schüren das Feuer am Herd und zerlegen das Mammut, das der Mann nach einem anstrengenden Tag vor die Höhle schleift. Das sind archaische Strukturen, die immer noch in uns wirksam sind, ob es uns nun passt oder nicht.
Es steckt in unserer DNA.
“But let there be spaces in your togetherness, and let the winds of the heavens dance between you.” Khalil Gibran
Das bedeutet keineswegs, dass Männer jagen und Frauen kochen sollen. Jeder Mensch verfügt über männliche und weibliche Energie. Die Kunst ist, diesen Energien den gebührenden Raum zu geben. Für die Ehe heisst es: Mann und Frau müssen beide zum Feuer schauen und beide ausschwärmen, um neues Land zu erobern – aber alles zu seiner Zeit und im richtigen Mass.
Die besten Ehen führen jene, die Individualität nicht nur dulden, sondern sie kultivieren, selbst mit dem Risiko, dass es zur Trennung kommt, weil es nicht mehr passt, man aber nicht von einander abhängig ist, so dass man nicht zusammenbleiben muss. Viele Männer und Frauen bleiben aneinander kleben, weil man zu zweit einfach weniger allein ist. Diese Form der passiven Abhängigkeit hat mit Liebe nichts zu tun. Wer ohne den anderen nicht sein kann, ist im Grunde genommen ein Parasit, der einen anderen Menschen braucht, um existieren zu können. Liebe dagegen ist, wenn zwei Menschen sich für einander entscheiden, die genau so gut ohne einander sein könnten.
Man muss die Flinte nicht sofort ins Korn werfen. Liebe hat nichts mit Verliebtheit, dafür umso mehr mit Arbeit und Mut zu tun. In einer erwachsenen Beziehung, die nicht geprägt ist von Projektionen und Kindheitsverletzungen, steht das Wachstum der Partner im Vordergrund: Ich helfe dir zu werden, was in dir angelegt ist.
Es ist legitim, wenn Mann oder Frau sagt: Ich will nicht wachsen. Ich will mich nicht entwickeln. Ich will diese Arbeit nicht tun. Ich will bleiben, wo ich bin. Es ist ebenfalls legitim, wenn Mann oder Frau sagt: Ich will wachsen. Ich will mich entwickeln. Ich will diese Arbeit tun. Ich will nicht bleiben, wo ich bin.
Wenn zwei nicht das gleiche Ziel haben, trennen sich die Wege. Auch das ist legitim.
Mehr dazu
- Der wunderbare Weg, von M. Scott Peck
- Leseprobe «Der wunderbare Weg» bei Random House
- A candid conversation with America's best-selling psychiatrist about the joys of love, the evils of Satan and the problem with fidelity, sehr ausführlicher Text von David Sheff aus dem Jahr 1992
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