Wenn die wilde Göttin uns den Weg weist

Lilith: Göttin, Dämonin, schwarze Muse, weise Frau. Ihr Ruf schwankt zwischen Faszination und Schrecken. Das neue Buch von Zeitpunkt-Autorin Kerstin Chavent greift einen Mythos auf, der heutigen Frauen als Befreiungsweg dient. Wir bringen das Vorwort des Buches als Leseprobe.

 In Zeiten tiefster Spaltung taucht sie am Himmel auf, um unserer Sehnsucht nach Versöhnung und der Überwindung von Gegensätzen Ausdruck zu verleihen.
In Zeiten tiefster Spaltung taucht sie am Himmel auf, um unserer Sehnsucht nach Versöhnung und der Überwindung von Gegensätzen Ausdruck zu verleihen.

Als Verführerin der Männer gilt sie, als Schutzgöttin der Dirnen, Alptraum der Wöchnerinnen, Inbegriff der emanzipierten Frau. In vielen Überlieferungen ist sie das Negative schlechthin: dunkel, frustrierend, kriminell, katastrophenhaft, abnormal, vergiftend – eine Übeltäterin im schlimmsten Sinne.

Kein Wesen der jüdisch-christlichen Mythologie wird so konträr rezipiert wie die rebellische Vorgängerin Evas. Ihr Mythos ging um die Welt. Sowohl bei semitischen wie auch nichtsemitischen Völkern taucht sie auf, bei Babyloniern und Assyrern, Juden und Arabern, Sumerern und Hettitern. Aus griechisch-byzantinischen, koptischen, äthiopischen, armenischen, syrischen, neugriechischen, südslawischen und russischen Legenden ist sie bekannt, denen allen eines gemeinsam ist: die Erzählung von einem gefährlichen weiblichen Dämon, der von einem oder zwei überlegenen männlichen Heiligen oder von einem Propheten überwältigt, unschädlich gemacht und schliesslich vertrieben wird.

Ihr Ruf schwankt zwischen Faszination und Schrecken. Lange war Lilith in Vergessenheit geraten. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde sie in der Kunst als Personifikation der Sünde und der Verführung wiedererweckt. In den 1960er-Jahren machte sie die jüdische Frauenbewegung zum Emblem der Emanzipation. In Videospielen und Science-Fiction-Filmen taucht sie als furchtlose und erotische Kämpferin auf. Ihr Name wird wieder gern vergeben.

Erste schriftliche Zeugnisse stammen aus den sumerisch-babylonischen Kulturen Mesopotamiens. Lil-la oder Lil-lû galt als Windgeist. Im Asyrisch-Babylonischen bedeutet Lilith so etwas wie Teufelin. In der jüdischen Tradition wurde die ursprünglich babylonische Göttin Lilitû zu einer Wüstendämonin. Im Hebräischen und im Arabischen wird sie mit der Nacht assoziiert. Ihr Name steht für Anziehung, Verführung, Erotik, Schöpferkraft, Evolution, Autonomie und Freiheit.

Sie wird als Nachtgespenst bezeichnet, als Schreieule, als Phantom des Bösen und der Dunkelheit, als Königin der Hexen, gleichzeitig Kindesmörderin und Geburtshelferin, Weib des Leviathans und Gemahlin Gottes. In ihrer Gegensätzlichkeit haftet ihr etwas Irritierendes an, etwas Verunsicherndes, Herausforderndes. Sie ist das Eine und das Andere: Nähe und Distanz, Leidenschaft und Kühle, Forderung und Verweigerung. In Zeiten tiefster Spaltung taucht sie am Himmel auf, um uns zu helfen, uns in unserer Komplexität und Widersprüchlichkeit zu verstehen und um unserer Sehnsucht nach Versöhnung und der Überwindung von Gegensätzen Ausdruck zu verleihen.

In der Astronomie ist Lilith als ein unerklärlicher Schatten bekannt, der vor der Sonne vorüberzieht. Ihr astrologisches Zeichen - ein Kreis, der in der Mitte durch eine horizontale Linie geteilt wird – symbolisiert einen Geist, der sich entlang eines Weges manifestiert. Dieser Weg ist kein leichter. Lilith gilt als die dunkle Seite des Mondes. Mond und schwarzer Mond repräsentieren zusammen die Dialektik von Sein und Nicht-Sein, Leben und Tod, Anpassung und Wildheit.

Auch wenn er nicht von der Sonne beschienen wird und wir ihn nur als Sichel sehen: Der Mond ist ganz. Im patriarchalen Weltbild jedoch wurde nur der helle Mond beibehalten und seine dunkle Seite verteufelt und ausgegrenzt. Was ursprünglich zusammengehörte, wurde zerteilt. Der Mond wurde mit der Frau assoziiert und die Sonne mit dem Mann. So gilt die Frau bis heute als passiv und dunkel und der Mann als aktiv und hell.

Lilith hingegen ist eine astronomische Besonderheit. Sie ist ein sensitiver Punkt auf der Mondbahn, der nicht der Abhängigkeit von der Sonne und somit dem männlichen Prinzip unterliegt. Lilith ist frei, autonom, unabhängig. Sie repräsentiert eine Ebene, auf der die Frau nicht als das «schwache Geschlecht» gilt. Lilith fordert heraus. Sie initiiert. Wo wir einseitig sind und unsere Kreativität und unsere Leidenschaft einengen, durchkreuzt sie unsere Pläne. Wo wir glaubten, die Kontrolle zu haben, entgleitet sie uns. Was wir für wahr hielten, zieht sie in Zweifel. Lilith ist der fallende Vorhang im Welttheater. Sie kann uns ins Chaos stürzen. Doch wer sich auf sie einlässt, dem bietet sie die Chance, ganz zu werden und heil.

In der jüdisch-christlichen Mythologie beginnt Liliths Geschichte im Garten Eden. Sie war die erste Frau Adams und wie er aus der Mutter Erde erschaffen. Anders als Eva war sie dem Manne ebenbürtig. Lilith repräsentiert eine Zeit, in der Frauen und Männer gleichberechtigt miteinander lebten und sich gegenseitig ergänzten. Diese Zeit endete mit der Geschichte von einer Rippe.

Anders als Lilith hatte Eva keine Mutter. Sie wurde gewissermassen künstlich erschaffen, erfunden von einem männlichen Geist, hervorgegangen aus einem männlichen Körperteil. Auch wenn heute kaum noch jemand an die Geschichte mit der Rippe glaubt und immer mehr Menschen sich von den christlichen Religionen abwenden: Wie keine andere hat diese Erzählung den Verlauf der Menschheitsgeschichte geprägt. Das Christentum bleibt die mit Abstand am weitesten verbreitete Religion in der Welt. Erst danach folgen Islam, Hinduismus, Buddhismus und Judentum.

Adam und Eva. Fast jeder kennt die Geschichte von einer Frau, die dem Manne untertan ist. So steht es geschrieben. So soll es von Anfang an gewesen sein. So soll es bleiben. So ist es bis heute. Bis heute verdienen Frauen auch in den Industrienationen für dieselbe Arbeit teilweise deutlich weniger als Männer. An die wichtigen Posten kommen Frauen auch heute nur selten heran. Weltpolitik wird trotz ein paar herausragender, sich dominant gebärdender Frauengestalten fast ausschliesslich von Männern gemacht.

Es sind die Frauen, die am schwersten an der Doppelbelastung Familie und Beruf zu tragen haben. Alleinerziehende Mütter gehören zu den am meisten benachteiligten Menschen der Gesellschaft. Wesentlich häufiger als Männer sind Frauen Opfer männlicher Gewalt. Heute wie zu Evas Zeiten: Die weibliche Hälfte der Menschheit spielt per se die zweite Geige. Bis heute verstecken sich Frauen hinter Männern und überlassen ihnen die grossen Entscheidungen. Bis heute stehen die Männer vorne, während Frauen weiterhin die Arbeiten machen, die man nur sieht, wenn sie nicht gemacht werden.

Lilith betritt die Bühne in einem Moment, in dem die Menschheit an einem Scheideweg steht. Als Gaias verborgene Schwester repräsentiert sie die dunklen Anteile in uns, in denen sich gleichzeitig unsere Kraft und unsere Kreativität verbergen. Die ursprüngliche Schöpferin allen Lebens entfaltet ihre formgebende, kreative Kraft dort, wo der Schmerz am tiefsten ist. Sie steht dafür, uns vom Urteil anderer zu lösen, uns unabhängig von äusseren Realitäten zu machen und unseren tiefen Wunsch nach Selbstbestimmung zu leben.

Lilith ist kein Symbol für einen Gott oder eine Göttin. Sie steht für die Fähigkeit des Menschen, nicht nur seine Götter zu erschaffen, sondern selber zum Schöpfer zu werden. Sie repräsentiert eine Zeit, in der das Mütterliche im Mittelpunkt stand und die Gebärkraft der Frauen als eine göttliche Kraft verehrt wurde, eine Zeit, in der der Schutz des Lebens die höchste und wichtigste Aufgabe des Menschen war und in der es anstelle eines alleinherrschenden Vatergottes eine allumfassende Mutter gab, die alle ihre Kinder liebte und nährte.

Wer ist diese Frau, die das Gegensätzliche in sich vereint und das Dunkle nicht flieht? Wer ist die Frau, die jeden Tag hundert ihrer Kinder opferte, die den Namen Gottes kennt und nicht fürchtet? Wer ist die, die nicht als Messias daherkommt, sondern als Teufelsweib, das sich nicht davor scheut, dem Allerhöchsten die Stirn zu bieten? Wer ist die Widerspenstige, die für ihren Ungehorsam aus dem Paradies verbannt wurde? Wer ist dieser Stachel im Fleische eines Patriarchats, das uns glauben macht, die Welt sei schon immer von Männern beherrscht worden und es habe schon immer Kriege gegeben?

Der Weg, den wir hier beschreiten, ist kein leichter. Wie im «Königsweg»liegt eine Heldenreise vor uns. Auch dieses Mal geht es ums Ganze, um die Bereitschaft, uns auch mit den Schatten auseinanderzusetzen, bevor das Licht am Ende des Tunnels sichtbar werden kann. Wer könnte uns besser begleiten als Lilith? Wie keine andere hat sie erfahren, was es bedeutet, alles zu verlieren. Sie wurde vertrieben, verdammt und verteufelt. Alles wurde ihr genommen: ihre Kinder, ihr Zuhause, ihr guter Ruf.

Und doch ist sie da. Durch nichts hat sie sich unterkriegen lassen. Bis heute hat sie sich ihre Ursprünglichkeit und ihre Echtheit bewahrt und die Erinnerung an die Zeit der Grossen Göttin, aus der einst alles entsprang. Nicht als Jungfrau fein kommt sie daher, sondern als eine starke, sinnliche und erotische Frau, die es wagt, zu fluchen und Fehler zu machen. Nicht als brave Tochter ist sie gekommen, als Papas Liebling und Mamas Zierde, als perfekte Ehefrau und Mutter, sondern als eine, die es nicht darauf anlegt, es allen recht zu machen. Lilith eckt an. Sie hält es aus, unbequem zu sein und den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen. Wer besser als sie wäre dazu geeignet, Antworten auf die Fragen unserer Zeit zu finden, die nicht dort ansetzen, wo die Probleme entstanden sind, sondern viel früher?


 

Cover

Kerstin Chavent : Die wilde Göttin, Scorpio 2025

16. Januar 2025
von:

Über

Kerstin Chavent

Submitted by cld on Mi, 05/17/2023 - 22:38
Kerstin Chavent

Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung,  In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.