Wie kann der Staat Vertrauen organisieren?

Ohne Vertrauen in andere können wir uns nicht entfalten und folglich nicht in Freiheit leben. Umgekehrt gilt: Ohne Misstrauen würden wir unweigerlich zum Opfer von Ausbeutern werden. Daher misstraut der wachsame Mensch seinem Gegenüber. Wir brauchen beides: Vertrauen und Misstrauen.
Was zwischen mir und dir gilt, gilt für alle, und besonders für die Organisation einer demokratischen Gemeinschaft. Sie funktioniert nur, wenn sie auf dem Grundvertrauen zwischen den Menschen beruht und dieses fördert und sichert. Von einem idealistischen Menschenbild ausgehen darf man dabei nicht, sondern man muss in Rechenschaft ziehen, dass es Menschen gibt, die Vertrauen missbrauchen.

Das Gesetz verlangt Vertrauen
Die schweizerische Gesetzgebung versucht, Treu und Glauben zwischen den Menschen umfassend zu etablieren. Sie hütet sich dabei, einzig und allein auf das Gute im Menschen zu bauen, vielmehr geht sie davon aus, dass Vertrauen missbraucht wird. Beinahe durchwegs wird dabei das folgende Prinzip angewendet:
• Im Allgemeinen wird bei der grossen Mehrheit der Bürger ein gegenseitiges Grundvertrauen vorausgesetzt – aufgrund ihrer Erziehung, ihrer Kultur und ihrer Religion. Dies kommt gesetzgeberisch in der sogenannten Freiwilligkeit zum Ausdruck.
• Um dieses Grundvertrauen zu stärken und zu festigen, sieht das Gesetz Anreize und Sanktionen zur Förderung vertrauensvollen Verhaltens vor (Ungültigkeit von Verträgen, Schadensersatz etc.)
• Aber es sieht auch Zwangsmassnahmen vor, bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung. Dieses Prinzip findet sich im Zivilrecht, im Bankenwesen, im Umweltrecht.
Im Zivilrecht wird zum Beispiel die eheliche Untreue verboten. In Handel, Wirtschaft und Vertragswesen schützt man den guten Glauben durch mögliche Schadenersatzforderungen oder Ungültigkeitserklärung der Verträge. Für einen Beruf mit hoher Verantwortung, wie Bergführer, Lokomotivführer oder Pilot wird eine entsprechende Ausbildung und das Einhalten der Vorschriften vorgeschrieben. Dennoch bleibt, wenn wir uns einer Technologie anvertrauen, der menschliche Faktor das grösste Risiko.
Treu und Glauben gelten auch im öffentlichen Recht, also im Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Auf Beamte und Auskunftspersonen soll man sich verlassen dürfen. Ein klassisches Beispiel liefert der Fall Roman Polanski: Ein Staat darf einem Bürger (in diesem Fall einem Ausländer), gegen den seit Jahren ein Haftbefehl vorliegt, nicht einerseits die Bewilligung für einen Hauskauf erteilen, Steuern erheben, ihn während Jahren ein- und ausreisen lassen, um ihn dann zur Teilnahme an einem Filmfestival mit Preisübergabe (unter Beteiligung eines Bundesamtes) einzuladen und daraufhin unvermittelt zu verhaften und auszuliefern. Polanski wurde in seinem Vertrauen in die Schweiz vom Bundesrat geschützt.

Das Vertrauen in den Staat und in seine Behörden
In der Politik wird ganz besonders um Vertrauen geworben, vor allem um das Vertrauen in Personen. Doch das Misstrauen in der Politik ist allgegenwärtig und offensichtlich. In der direkten Demokratie behält sich der Stimmbürger das letzte Wort über Verfassung und Gesetze vor. Das führt denn auch zu dem beruhigenden Umstand, dass die Wahl der Regierung als weniger wichtig angesehen wird, weil all ihre Gesetzesvorlagen an der Urne verhindert werden können.
Dennoch lebt auch die direkte Demokratie von Repräsentation, vom Vertrauen in Regierungsmitglieder, in Parlamentarier, in Parteipräsidenten und in Parteiparolen. Ohne Vertrauen ist Repräsentativität nicht möglich. Enttäuschungen über das Verhalten gewählter Regierungsmitglieder sind in repräsentativen Demokratien denn auch regelmässig gross. Es ist schon beinahe ein politisches Ritual, dass ein siegreicher Kandidat das ihm entgegengebrachte Vertrauen wieder verliert und in Ungnade fällt. Dieser Vertrauensschwund wiederum führt zu einer Spirale populistischer Versprechen, die nicht zu erfüllen sind, und zu Enttäuschungen beim Wähler, die so vorprogrammiert sind.
Die Organisation eines demokratischen Staates geht daher von Misstrauen aus, von einem möglichen Missbrauch der Macht: Durch Gewaltenteilung, Checks and Balances oder durch ein Rotationsverfahren, wie im Fall des Bundespräsidiums, wird die Gefahr von Machtballung verringert. Das stärkt das Vertrauen in das politische System. Dazu gehört auch, dass weder Bundesrichter noch Bundesräte während der Amtszeit abberufen werden können. Bei uns gibt es keine Vertrauensfrage, weil das Vertrauen in den gewählten Bundesrat von der Verfassung für vier Jahre vorausgesetzt wird. Dies ist nichts anderes als ein Schutz der demokratischen Institution (nicht etwa der Gewählten) und Ausdruck des Vertrauens in das politische System. Einerseits will man damit die Verantwortung bei der Vertrauensprüfung, nämlich der Wahl, schärfen (damit zum Beispiel nicht ein Kandidat auf den Schild gehoben wird, der früher Veruntreuungen begangen hat), andererseits die Abwahlmöglichkeit nicht zur Disziplinierung und Medienhatz verkommen lassen. Je besser die Staatsform, desto weniger muss das Vertrauen in die Person strapaziert werden. Da braucht es dann nicht mal mehr besonders gute Politiker, schon gar keinen dauerhaften Bundespräsidenten – selbst zwei Jahre wären da zu lang.
Das Vertrauen in politische Systeme und Ideologien einerseits und dasjenige in Personen andererseits stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Das zeigt sich schon im privaten Bereich: Junge Paare wählen das Konkubinat auch deswegen, weil sie die Bindung, das gegenseitige Vertrauen, eben gerade nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern freiwillig aus dem eigenen Herzen erbringen wollen. Je grösser das Vertrauen in die Personen, desto kleiner das Bewusstsein für Institutionen wie die Gewaltenteilung: Kleine Kantone haben zum Teil bis heute Mühe damit. Umgekehrt: Je anonymer und unübersichtlicher eine Gesellschaft, desto ausgeklügelter die Sicherheitsmechanismen.
Und: Populisten, die persönliche Machtfülle und damit grenzenloses Vertrauen für sich verlangen, neigen dazu, das Misstrauen gegen «das System» zu schüren. Je nach politischer Optik wird dieses System dann als globale Kapitalismusmafia oder als classe politique bezeichnet. Umgekehrt: Je grösser der Vertrauensverlust einzelnen Vertretern gegenüber, desto rascher werden systemische Massnahmen getroffen. Das beobachten wir häufig im Alltag: Technische Systeme sollen menschliche Fehler korrigieren.
Mein Eintritt in den Verwaltungsrat einer Baufirma nach dem Ausscheiden aus dem Bundesrat hat viele enttäuscht, weil das bisher Bürgerlichen vorbehalten gewesen war (in Deutschland auch Sozialdemokraten). Deswegen hat die beratende Kommission des Nationalrats auch eine zweijährige Karenzfrist beschlossen. Ich habe mich umgehend bei Oprah Winfrey zwecks Beichte angemeldet ... – und finde überdies die beschlossene Karenzfrist gar nicht schlecht, denn es braucht mindestens zwei Jahre, bis man nach dem Rücktritt aus dem Bundesratsleben weiss, was man eigentlich will und soll.
Solche Entwicklungen zeigen, dass sich das Vertrauen in Personen auf systemische Massnahmen, politische Modelle oder auch Ideologien verlagert.

List und Vertrauen
Die politischen und moralischen Fragen kreisen um Folgendes: Welches Vertrauen wird geschützt oder vorgeschrieben? Denn es herrscht das Gebot bedingungslosen Vertrauens ebenso wenig, wie es eine absolute Wahrheitspflicht gibt. Hingegen gibt es die listige Taktik, die raffinierte Verführung.
Das gilt zwischen den Menschen, das gilt im Wettbewerb, also in Handel und Wirtschaft. Es gibt die Suche nach Vorteilen, List und Täuschung, Tricks und Übertölpelung.
Was geniesst also Vertrauensschutz? Was ist List, was ist Arglist? Was ist Verführung, was ist Manipulation? Wie weit geht die Selbstverantwortung?
Wie weit geht Konsumentenschutz, wie weit die Phantasie und Übertreibung der Werbung? Das sind Diskussionen, die auch politischen Schwankungen, das heisst einem stets wechselnden Menschenbild unterliegen. Dieselben Fragen stellen sich in der Staatsleitung selber: Sind Listenverbindungen zulässig? Nach welchen Kriterien soll ein Abstimmungstermin festgelegt werden? Welche Vorlagen kommen gleichzeitig zur Abstimmung?

Wie organisiert der Staat das Vertrauen?
Wie wird das Grundvertrauen zwischen den Menschen hergestellt und gefördert? Kann der Staat hierzu etwas beitragen?
Niccolò Machiavelli geht in seinem Werk Der Fürst davon aus, dass das Zusammenleben der Menschen wesentlich durch die Angst vor Sanktionen organisiert werde; nicht Vertrauen oder gar Liebe, sondern nur die Furcht vor dem Gesetz halte die Menschen zusammen. Ganz abgesehen davon, dass uns dies nicht als Modell eines demokratischen Staates vorschwebt, müssen wir sehen: Selbst mit uneingeschränkten polizeilichen Mitteln, selbst mit einem totalen Polizeistaat könnte zwischen den Menschen kein echtes Vertrauen erzwungen und garantiert werden. Der Ansatz muss daher genau umgekehrt sein: Zuerst die Freiwilligkeit, dann Anreize und erst als ultima ratio Sanktionen. Daher gilt auch bei uns das Konzept der Freiwilligkeit; das Vertrauen in die Bürger oder in eine Branche ist Prinzip. Das Umweltgesetz oder das Energiegesetz folgen diesem Aufbau. Die Schweiz kennt beim freiwilligen Papier- und Kartonsammeln bessere Resultate als Länder, in denen dies vorgeschrieben ist. Auch gegen Geldwäscherei wird jetzt Selbstregulierung proklamiert. Die Regeln zur Bekämpfung von Schwarzgeld werden vorerst an die Branche delegiert.
Es folgen Anreize, welche die Schärfung des moralischen Bewusstseins fördern (Aufklärungskampagnen, wie etwa zur Toleranz im Strassenverkehr), und erst als letzte Massnahme kommen Verbote und Sanktionen zur Anwendung.

Grundvertrauen vermag der Staat nicht zu erwirken
Auf Androhung von Gefängnis und gesellschaftlicher Ächtung allein zu bauen wäre aber der machiavellistische Weg zu vertrauensvollem Verhalten.
Die entscheidende Frage bleibt deshalb: Wie gelangen die Menschen zu einem Verhalten, welches gegenseitiges Vertrauen von innen heraus lebt? Wie keimt diese «Freiwilligkeit», wie sie das Gesetz postuliert, als Rückgrat unseres Verhaltens?
Das eigentliche Grundwasser des menschlichen Vertrauens, das Grund- und Gottvertrauen, kann der Staat allein kaum bewirken. Er ist angewiesen auf Religion und Kultur, die nicht nur von der rationalen Notwendigkeit des Vertrauens für das Funktionieren einer Gesellschaft ausgehen, sondern auf einer Metaebene – oder in den Urwogen, in den Tiefen der Seelen – das menschliche Verhalten, die Frage von Gut und Böse prägen.
Wie verhalte ich mich meinen Mitmenschen gegenüber? Da schaut niemand im Zivil- oder Obligationenrecht nach, bevor er entsprechend fühlt oder handelt. Das verinnerlicht er, längst bevor er lesen kann. Die Quelle findet sich bei den Menschen selbst, und gespeist wird sie unter anderem aus dem ewigen Grundwasser der Kulturen, Traditionen und Religionen. Sie haben das Gewissen von Generationen geweckt und geschärft. Jede Gesellschaft gestaltet die Regeln des Zusammenlebens neu. Sie greift dabei zurück auf Traditionen, Religionen. Und deswegen muss ein aufgeklärter Staat Religions- und Kulturfreiheit gewähren: Damit er selber funktionieren kann.
Der Staat – und mit ihm die Wirtschaft – sind also auf Religion und Kultur angewiesen. Sie müssen daher diejenigen Institutionen fördern und unterstützen, die sich dieser Aufgabe annehmen. Das sind Kirchen, Religionsgemeinschaften, das ist die Kultur. Deswegen muss der Staat Kultur und Religion Freiraum gewähren, Autonomie und Entfaltungsmöglichkeiten bieten, auch mit materiellen Mitteln.
Bezüglich Kultur kann das etwa bedeuten, dass Sponsoring steuerlich begünstigt wird, dass die nationalen Fernsehanstalten entsprechende Aufträge erhalten. TV und Radio haben nicht nur einen Informationsauftrag, sondern auch einen Kulturauftrag zu erfüllen. Dazu gehört auch die Unterhaltung. Was früher die Funktion der Märchen war, über Generationen hinweg Geschichten und Traditionen weiterzuerzählen, übernehmen heute die Massenmedien. Unterhaltung ist eine kulturelle Aufgabe und nicht nur ein samstagabendliches Geblödel. Diese Verantwortung muss der Staat in seinen Konzessionen festhalten.
Bezüglich der Religionen kann das für den Staat etwa heissen, dass Kirchen oder religiöse Gemeinden anerkannt werden, dass man sie staatlicherseits unterstützt (zum Beispiel indem man die Kirchensteuern durch den Staat einziehen lässt wie im Kanton Zürich), oder dass beispielsweise juristische Personen Kirchensteuern bezahlen müssen. Die gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Religion bedeutet für beide, dass sie sich zwar Unabhängigkeit gewähren, aber auch einem Dialog stellen müssen.

Ohne Vertrauen keine Gemeinschaft
Wer eine Gemeinschaft organisiert, muss aber von Vertrauensmissbrauch zwischen den Menschen ausgehen, sonst bleibt er blauäugig und liefert die Vertrauensseligen ans Messer der Betrüger. Und doch kann mit keiner Polizeigewalt Vertrauen erzwungen werden. Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit können nicht vorgeschrieben, sondern müssen erlebt und gelebt werden.
Kultur, Tradition, Erziehung formen das aktive und passive Grundvertrauen. Wie sich die Menschen zuhause, in der Wirtschaft und in der Politik tatsächlich verhalten, was sie in all den Bereichen, die nicht mit Vorschriften erfasst werden können leben und vorleben, bildet die moralische Grundlage einer Gesellschaft. Nimmt gegenseitige Übertölpelung als Lebensformel Überhand, zerfällt eine Gesellschaft. Werden Treu und Glauben als Wert gepflegt, kann sie sich nachhaltig entwickeln.


Der vorliegende, von der Redaktion leicht gekürzte und bearbeitete Text basiert auf einem Vortrag zur Frage «Wie kann der Staat Vertrauen organisieren?», den Moritz Leuenberger anfangs Jahr an einem Symposium der Universität Zürich zum Thema «Vertrauen verstehen» hielt. Der Zeitpunkt dankt dem Autor für den Erstabdruck.





Mehr zum Thema Vertrauen und Glaubwürdigkeit im Schwerpunktheft «Trau mir!», ab 1. März 2013. Inhaltsübersicht