Wie Miss Bildung zu Missbildung wurde
Erinnerungen eines Ex-Lehrers und Ex-Schulleiters
«Schule mit Kuhstall verglichen», lautete die Überschrift eines Artikels in der lokalen westfälischen Zeitung über meine Abiturrede. Zusammen mit einer Mitschülerin hatte ich die gängigen Bildungsformen mit Herdentrieb, Mästen, Wiederkauen von Stoff, kaltem Metall von Melkmaschinen auf warmblutdurchflossenen Zitzen verglichen und vielleicht auch etwas von Kuhfladen gesagt. Ich erinnere mich noch an den Applaus. Wir hatten wohl einen Nerv getroffen.
Es folgte akademisches Schein(e)sammeln in den Universitäten Münster, Berlin und Salamanca. Lehramtstudium in den Fächern Englisch und Spanisch. Warum Lehramt wusste ich damals selbst nicht so genau. Um mein Studium zu finanzieren, unterrichtete ich nebenbei Deutsch für Ausländer, Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge. Viele Spätaussiedler kamen aus Kasachstan oder anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Herzensliebe Menschen, aber sie schienen gewohnt zu sein, den Stoff passiv eingetrichtert zu bekommen. Einmal baten sie darum, lieber ein Diktat zu schreiben, statt eine Bildergeschichte kreativ weiterzuspinnen. Für mich eine Schlüsselszene. Nachdem ich das erste Staatsexamen in der Tasche hatte, wollte ich vom zweiten nichts mehr wissen.
Statt in den Schuldienst ging ich auf Weltreise. Nach einem Jahr brachte mich das Rad nach Istanbul und der Zufall als Deutschlehrer an eine türkische Privatschule. Dort – und später an einer anderen Schule in Izmir – unterrichtete ich einige Jahre lang Kinder der vierten bis neunten Klasse.
Das türkische Schulsystem ist eine Paukanstalt. Grundschüler haben acht Stunden Unterricht pro Tag, fünf Tage die Woche, und abends müssen sie noch Berge an Hausarbeiten erledigen. Noch schlimmer wird es, wenn es auf Prüfungen zugeht. Dann gehen die Kinder auch am Samstag und Sonntag den Stoff je acht Stunden in privatwirtschaftlichen «dershane» durchkauen – ähnlich den Repetitorien für Juristen. So kommen die armen Kinder dann locker auf 60 Wochenstunden – zwei bis drei Fahrstunden pro Tag nicht mitgerechnet. Was der europäische Gerichtshof für Menschenrechte wohl dazu sagen würde? Und dennoch, ich hatte Eltern, die sich beschwerten, dass ihre Kinder nicht genug Hausaufgaben bekommen hätten. Ich hörte von Fällen, wo Spielzeug weggeschlossen wurde, weil das Kind ja jetzt in die Schule geht.
Lerninhalte und -rahmen schafften es schnell, natürliche kindliche Neugierde und Wissensdrang einzuschläfern. Die Kinder und Jugendlichen lernten nach ökonomischen Effizienzkriterien zu urteilen: Ist dies prüfungsrelevant oder nicht? Das Fach Deutsch war es nicht. Das machte die Sache nicht leichter.
Mein Eindruck war: Etwa ein Drittel der zu Beschulenden kam ganz gut zurecht, ein Drittel mogelte sich durch, für ein Drittel war die Schulzeit wertlos. Diese Erfolgsquote ist zu schlecht. So eine Schule ist Verschwendung. Potentiale, wahre Interessen und die Selbständigkeit der Kinder können sich nicht entfalten. Auch das ganze Notensystem ist völlig pervers. Es drückt nichts mehr aus. Schulen und Schüler werden zu reinen Zahlen im konkurrierenden Rankingspiel. Auf der Strecke bleiben Effizienz, Gemeinschaft, Freude, Sinn. Aus Miss Bildung wird Missbildung und Mastbildung. Meine Versuche, von innen und aus der Positionen des Lehrers heraus etwas zu ändern, gerieten schnell an Grenzen. Ich ging.
Ich wollte noch einen Versuch starten und gründete mit einer Gruppe von Eltern eine eigene kleine Schule. Zu Anfang sassen wir zu dritt zusammen und sagten: Wir machen das einfach. Wir hatten keinen Träger, kein Gebäude, kein Geld, keine Lehrkräfte, nichts. Und nach der ersten Präsentation nur eine Frist von sieben Wochen, in der Eltern sich entscheiden mussten, ob sie ihre Kinder zu uns schicken. Das waren die intensivsten sieben Wochen meines Lebens. Viele sagten, das funktioniert nicht. Zum Glück haben wir nicht auf sie gehört.
Wir gründeten einen Verein. Es bildete sich ein starkes Team. Den Geschäftsführer einer Fluggesellschaft überzeugte unsere Präsentation, er unterstützte uns im ersten Jahr mit 100'000 Euro, das waren schon zwei Drittel der kalkulierten Summe für den Anfang. Wir fanden eine schöne Villa mit Garten und Teich, bauten sie aus und eröffneten nach nur neun Monaten seit unserer erster Zusammenkunft eine deutsche Auslandsschule mit 24 Kindern. Ich arbeitete als Geschäftsführer, Lehrer und Schulleiter.
Die Schule existiert noch immer, ist stark gewachsen und sicher erfolgreicher und kindgerechter als viele in der Umgebung. Die Kids konnten sich im Garten austoben, sie fühlten sich sehr wohl, nach Schulende kriegten wir sie manchmal nicht vom Gelände. Wir versuchten Elemente von Montessori und Waldorf einzuführen. Der Drang und Hang, sich an bestehende Systeme und Standards anzugleichen, macht allerdings auch nicht vor dieser Botschaftsschule halt.
Nach selbsterarbeitetem Burnout, kurzer Auszeit und sieben Jahren Türkei fühlte es sich für mich richtig an, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Ich arbeitete ein Jahr in einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Eine vergleichsweise gute Schule: kompetente Schulleitung, nette Kollegen, kooperative Schüler, moderne Ausstattung. Wer hier verbeamtet wurde, wollte nicht wieder weg. Aber selbst in dieser heilen Welt gab es in mehreren Klassen Fälle psychischer Probleme oder Überforderung. Und immer noch zu viel Fremdbestimmung. Die direkte Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen war für mich das Erfüllendste, aber daneben gab es zuviel bürokratische Formalien und wiederkehrende Klausurenberge. Und jeden Tag den gleichen Weg zur Arbeit, die gleichen Routinen. Ich gestand mir ein: Es ist nicht meins.
Ich zog nach Berlin und baute mir eine Existenz als Experte der Collaborative Economy auf, begeistert von deren Potentialen. Hierzu zähle ich auch Open Knowledge, Open Learning, Open University oder MOOCS – Massive Open Online Courses. Das sind interessante neue Entwicklungen mit Veränderungspotential. Die englischen Begriffe zeigen jedoch, dass sie hier noch nicht wirklich angekommen sind.
Es ist doch pervers: Die Welt um uns verändert sich rasant. Wir wissen nicht, ob im nächsten Jahr unser Finanzsystem noch existiert, wie die Klimakrise unsere Lebensgrundlagen verändert, welche Innovationen morgen nötig sind. Nur eins scheinen wir genau zu wissen, nämlich was unsere Kinder in 12 oder 13 Schuljahren fürs Leben gelernt haben müssen. Dafür gibt es Curricula, die sogar das Was, Wann und Wie schon im Vorfeld genau festlegen, geschrieben von Experten in Amtstuben, die hellseherisch in die Zukunft und einfühlsam in die Fähigkeiten, Interessen und Potentiale der einzelnen Kinder blicken können.
«School kills creativity», so beschreibt es Sir Ken Robertson in seinem gleichnamigen TED-Talk mit britischem Humor. Auch heutige Schulen sind immer noch aufgebaut wie Fabriken zu Beginn der industriellen Revolution: Kinder kommen gleichaltrig rein, kriegen das Gleiche eingetrichtert, werden wie auf dem Fliessband sortiert und aussortiert. Alles läuft nur über extrinsische Motivation, über Belohnung oder Bestrafung. Das geht doch auch anders.
Interessant finde ich demokratische Schulen, wie die 1968 in Massachussetts gegründete Sudbury School. Die Kinder entscheiden selbst, was, wo, wie und mit wem sie lernen – eine Horrorvorstellung für Kontrollfreaks. Evaluationen fanden jedoch heraus, dass Absolvierende solcher Schulen später öfter sinnerfüllte Berufe fanden und im Schnitt lebenszufriedener waren als andere. Auch in Berlin entstanden in den letzten Jahren demokratische Schulen. Die Herausforderung besteht darin, eine Umgebung zu schaffen, in der Kinder neugierig bleiben und von sich aus weiter lernen wollen.
Das ist mein Weg und meine persönliche Geschichte. Meine Bewunderung gilt allen, die sich dafür einsetzen, von innen etwas zu verändern.
Aufgezeichnet von Ute Scheub
Mehr zum Thema Bildung im Schwerpunktheft «Missbildung» (Zeitpunkt 133)
Es folgte akademisches Schein(e)sammeln in den Universitäten Münster, Berlin und Salamanca. Lehramtstudium in den Fächern Englisch und Spanisch. Warum Lehramt wusste ich damals selbst nicht so genau. Um mein Studium zu finanzieren, unterrichtete ich nebenbei Deutsch für Ausländer, Spätaussiedler und Kontingentflüchtlinge. Viele Spätaussiedler kamen aus Kasachstan oder anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Herzensliebe Menschen, aber sie schienen gewohnt zu sein, den Stoff passiv eingetrichtert zu bekommen. Einmal baten sie darum, lieber ein Diktat zu schreiben, statt eine Bildergeschichte kreativ weiterzuspinnen. Für mich eine Schlüsselszene. Nachdem ich das erste Staatsexamen in der Tasche hatte, wollte ich vom zweiten nichts mehr wissen.
Statt in den Schuldienst ging ich auf Weltreise. Nach einem Jahr brachte mich das Rad nach Istanbul und der Zufall als Deutschlehrer an eine türkische Privatschule. Dort – und später an einer anderen Schule in Izmir – unterrichtete ich einige Jahre lang Kinder der vierten bis neunten Klasse.
Das türkische Schulsystem ist eine Paukanstalt. Grundschüler haben acht Stunden Unterricht pro Tag, fünf Tage die Woche, und abends müssen sie noch Berge an Hausarbeiten erledigen. Noch schlimmer wird es, wenn es auf Prüfungen zugeht. Dann gehen die Kinder auch am Samstag und Sonntag den Stoff je acht Stunden in privatwirtschaftlichen «dershane» durchkauen – ähnlich den Repetitorien für Juristen. So kommen die armen Kinder dann locker auf 60 Wochenstunden – zwei bis drei Fahrstunden pro Tag nicht mitgerechnet. Was der europäische Gerichtshof für Menschenrechte wohl dazu sagen würde? Und dennoch, ich hatte Eltern, die sich beschwerten, dass ihre Kinder nicht genug Hausaufgaben bekommen hätten. Ich hörte von Fällen, wo Spielzeug weggeschlossen wurde, weil das Kind ja jetzt in die Schule geht.
Lerninhalte und -rahmen schafften es schnell, natürliche kindliche Neugierde und Wissensdrang einzuschläfern. Die Kinder und Jugendlichen lernten nach ökonomischen Effizienzkriterien zu urteilen: Ist dies prüfungsrelevant oder nicht? Das Fach Deutsch war es nicht. Das machte die Sache nicht leichter.
Mein Eindruck war: Etwa ein Drittel der zu Beschulenden kam ganz gut zurecht, ein Drittel mogelte sich durch, für ein Drittel war die Schulzeit wertlos. Diese Erfolgsquote ist zu schlecht. So eine Schule ist Verschwendung. Potentiale, wahre Interessen und die Selbständigkeit der Kinder können sich nicht entfalten. Auch das ganze Notensystem ist völlig pervers. Es drückt nichts mehr aus. Schulen und Schüler werden zu reinen Zahlen im konkurrierenden Rankingspiel. Auf der Strecke bleiben Effizienz, Gemeinschaft, Freude, Sinn. Aus Miss Bildung wird Missbildung und Mastbildung. Meine Versuche, von innen und aus der Positionen des Lehrers heraus etwas zu ändern, gerieten schnell an Grenzen. Ich ging.
Ich wollte noch einen Versuch starten und gründete mit einer Gruppe von Eltern eine eigene kleine Schule. Zu Anfang sassen wir zu dritt zusammen und sagten: Wir machen das einfach. Wir hatten keinen Träger, kein Gebäude, kein Geld, keine Lehrkräfte, nichts. Und nach der ersten Präsentation nur eine Frist von sieben Wochen, in der Eltern sich entscheiden mussten, ob sie ihre Kinder zu uns schicken. Das waren die intensivsten sieben Wochen meines Lebens. Viele sagten, das funktioniert nicht. Zum Glück haben wir nicht auf sie gehört.
Wir gründeten einen Verein. Es bildete sich ein starkes Team. Den Geschäftsführer einer Fluggesellschaft überzeugte unsere Präsentation, er unterstützte uns im ersten Jahr mit 100'000 Euro, das waren schon zwei Drittel der kalkulierten Summe für den Anfang. Wir fanden eine schöne Villa mit Garten und Teich, bauten sie aus und eröffneten nach nur neun Monaten seit unserer erster Zusammenkunft eine deutsche Auslandsschule mit 24 Kindern. Ich arbeitete als Geschäftsführer, Lehrer und Schulleiter.
Die Schule existiert noch immer, ist stark gewachsen und sicher erfolgreicher und kindgerechter als viele in der Umgebung. Die Kids konnten sich im Garten austoben, sie fühlten sich sehr wohl, nach Schulende kriegten wir sie manchmal nicht vom Gelände. Wir versuchten Elemente von Montessori und Waldorf einzuführen. Der Drang und Hang, sich an bestehende Systeme und Standards anzugleichen, macht allerdings auch nicht vor dieser Botschaftsschule halt.
Nach selbsterarbeitetem Burnout, kurzer Auszeit und sieben Jahren Türkei fühlte es sich für mich richtig an, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Ich arbeitete ein Jahr in einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Eine vergleichsweise gute Schule: kompetente Schulleitung, nette Kollegen, kooperative Schüler, moderne Ausstattung. Wer hier verbeamtet wurde, wollte nicht wieder weg. Aber selbst in dieser heilen Welt gab es in mehreren Klassen Fälle psychischer Probleme oder Überforderung. Und immer noch zu viel Fremdbestimmung. Die direkte Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen war für mich das Erfüllendste, aber daneben gab es zuviel bürokratische Formalien und wiederkehrende Klausurenberge. Und jeden Tag den gleichen Weg zur Arbeit, die gleichen Routinen. Ich gestand mir ein: Es ist nicht meins.
Ich zog nach Berlin und baute mir eine Existenz als Experte der Collaborative Economy auf, begeistert von deren Potentialen. Hierzu zähle ich auch Open Knowledge, Open Learning, Open University oder MOOCS – Massive Open Online Courses. Das sind interessante neue Entwicklungen mit Veränderungspotential. Die englischen Begriffe zeigen jedoch, dass sie hier noch nicht wirklich angekommen sind.
Es ist doch pervers: Die Welt um uns verändert sich rasant. Wir wissen nicht, ob im nächsten Jahr unser Finanzsystem noch existiert, wie die Klimakrise unsere Lebensgrundlagen verändert, welche Innovationen morgen nötig sind. Nur eins scheinen wir genau zu wissen, nämlich was unsere Kinder in 12 oder 13 Schuljahren fürs Leben gelernt haben müssen. Dafür gibt es Curricula, die sogar das Was, Wann und Wie schon im Vorfeld genau festlegen, geschrieben von Experten in Amtstuben, die hellseherisch in die Zukunft und einfühlsam in die Fähigkeiten, Interessen und Potentiale der einzelnen Kinder blicken können.
«School kills creativity», so beschreibt es Sir Ken Robertson in seinem gleichnamigen TED-Talk mit britischem Humor. Auch heutige Schulen sind immer noch aufgebaut wie Fabriken zu Beginn der industriellen Revolution: Kinder kommen gleichaltrig rein, kriegen das Gleiche eingetrichtert, werden wie auf dem Fliessband sortiert und aussortiert. Alles läuft nur über extrinsische Motivation, über Belohnung oder Bestrafung. Das geht doch auch anders.
Interessant finde ich demokratische Schulen, wie die 1968 in Massachussetts gegründete Sudbury School. Die Kinder entscheiden selbst, was, wo, wie und mit wem sie lernen – eine Horrorvorstellung für Kontrollfreaks. Evaluationen fanden jedoch heraus, dass Absolvierende solcher Schulen später öfter sinnerfüllte Berufe fanden und im Schnitt lebenszufriedener waren als andere. Auch in Berlin entstanden in den letzten Jahren demokratische Schulen. Die Herausforderung besteht darin, eine Umgebung zu schaffen, in der Kinder neugierig bleiben und von sich aus weiter lernen wollen.
Das ist mein Weg und meine persönliche Geschichte. Meine Bewunderung gilt allen, die sich dafür einsetzen, von innen etwas zu verändern.
Aufgezeichnet von Ute Scheub
Mehr zum Thema Bildung im Schwerpunktheft «Missbildung» (Zeitpunkt 133)
05. September 2014
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