Wirkt zusammen – oder geht unter!

Der Imperativ der Evolution: uns als ein Wir erkennen. Nicht individuelle Genialität entscheidet das Überleben, sondern ­Gemeinschaft und die Kooperation zwischen Männern und Frauen.

Machen wir uns einmal klar: Mit wenigen Ausnahmen folgen achteinhalb Milliarden Menschen, egal welcher Religion oder politischen Identität sie sich zurechnen, weitgehend demselben Paradigma und demselben Ziel. Und zwar einem, das ihnen selbst gar nicht dient. So gut wie alle tanzen nach der Pfeife des kapitalistischen, materialistischen Denkmusters – selbst die, die sich Sozialisten nennen. Sie nehmen mit ihren alltäglichen Konsum- und Denkgewohnheiten an der Zerstörung von Erde und Natur teil, auch wenn sie diese eigentlich schützen wollen. Trotz aller propagierten Individualität hat sich die Menschheit in eine uniforme Masse gewandelt und folgt den globalen Informationsfeldern, deren Kanäle bis in die letzten Ecken des Planeten reichen.

Sind wir alle ferngesteuert? Ja, sind wir. Und wir steuern uns selber fern, denn wir tragen den Stützpunkt des kapitalistischen Systems in uns: Es sind Angst und Getrenntheit, eingeschrieben in unsere Seelen durch menschheitliche, traumatische Erfahrungen der Geschichte. Es ist eine so omnipräsente und furchtbare Angst, dass wir sie fast nie ins Bewusstsein holen – aber sie bringt uns dazu, uns permanent abzusichern, abzulenken, Lebenskräfte abzuwehren.  Sie lässt uns an Mangel glauben. Sie macht uns weis, dass Vertrauen eine falsche Entscheidung ist.
Sie lässt uns intelligenteste technische, ökonomische oder soziale Systeme aufbauen, die alle nach dem Prinzip von Schutz und Angriff funktionieren. Das Paradigma ist so normal, dass es kaum noch jemand merkwürdig findet.

Wie nehmen wir das Steuer wieder in die eigene Hand? Wie werden wir tatsächlich wieder zu freien Individuen, die ihre wirklichen Ziele verfolgen?
Meine erste und wichtigste Antwort ist: Wir müssen zusammenkommen! Uns als ein Wir zu erkennen, uns mit allen Lebewesen als Gemeinschaft zu empfinden und entsprechend zu handeln: Das empfinde ich als den Imperativ der Evolution an den Menschen heute. Die Zeit des abgetrennten Ego-Männchens ist vorbei. Nicht individuelle Genialität und herausragende Einzigartigkeit entscheiden über das Überleben unserer Spezies, sondern unsere Fähigkeit, uns mit anderen zusammenzufinden zu einem neuen Wir.
Es ist ja nichts Neues. Gemeinschaftsbildung liegt uns sozusagen in den Zellen. Die Geschichte der Evolution ist voll von Zusammenschlüssen, Kooperationen und Krisenmanagement durch Teambildung. Es begann schon bei den ersten urzeitlichen Einzellern, die in Grenzsituationen dazu übergingen, Mehrzeller zu bilden. Einzelne, bisher konkurrierende Lebewesen wurden zu Organen eines Organismus, verständigten sich mit den anderen Organen über ihre Aufgabe und – überlebten. Das Erfolgsrezept hiess: Wirkt zusammen – oder geht unter!
  
Der Verlust unserer Fähigkeit zum Zusammenleben hat auch mit der geschichtlichen Entmachtung der Frauen zu tun. Fast alle Gemeinschaften und sozialen Utopien der Geschichte wurden von Männern konzipiert und in einer Zeit gegründet, in der Frauen nicht viel galten. In diesem Ungleichgewicht entsteht keine nachhaltige Gemeinschaft. Es braucht den sozialen Pol, den «Herd» jeder Gemeinschaft mit all den mütterlichen, heimatschaffenden Qualitäten. Den Ort oder die Person, zu der man auch dann zurückkehren kann, wenn man weiss, dass man etwas falsch gemacht hat, denn hier gibt es Kommunikation, Begegnung, Vergebung, Humor und auch mal Korrektur.

Jede Gemeinschaft ist nur so gut, wie sie es schafft, das Weibliche und das Männliche zu ehren. Das Spannungsfeld der polaren Kräfte hält sie lebendig: Geist und Eros, Planung und Kreativität, Mut zur Wahrheit und Mut zum Genuss, Heimat und globale Herausforderung, Theorie, Vision und Forschung sowie Geborgenheit für die Kinder.
Was würde geschehen, wenn sich immer mehr Menschen zusammenschliessen – so wie einst die ersten Einzeller in den prähistorischen Pfützen, die sich zu Mehrzellern zusammenschlossen, um den evolutionären Herausforderungen gewachsen zu sein? Wie in der Biologie könnte sich ein Erfolgsrezept, das einmal gelungen ist, zunächst unbemerkt, aber unaufhaltbar verbreiten: inspirierte Nachbarschaften in Metropolen, Zukunftswerkstätten in alten Fabriken, Food-Coops und Info-Cafés im ganzen Land werden zu Gemeinschaftskeimlingen und Netzwerken, die gemeinsam die Verantwortung für ihre Region oder Stadt übernehmen. Friedensdörfer in Krisenregionen, Lebensgemeinschaften und selbstverwaltete Flüchtlingscamps werden Wissen über nachhaltige Architektur, Energietechnologie, Ökologie, Kunst und Konfliktlösung anwenden und Ergebnisse liefern für eine neue globale Kultur des Friedens und der Nachhaltigkeit. Die einzelnen Menschen und Gruppen werden sich als Organe einer grösseren Bewegung sehen – und überleben!
Utopisch? Vielleicht. So wie die Idee des Mehrzellers für die bisherigen Einzeller.

Das Vorbild von Zukunftsgemeinschaften ist das Biotop, nicht die Herde oder die Armee. Zukunftsgemeinschaften leben nicht von Gleichmacherei, sondern von ausgeprägter Individualität und Vielfalt. Wir müssen in unseren Gemeinschaften genug Platz für die Entwicklung des Einzelnen lassen, genügend Zeit für das Allein-Sein und für das gegenseitige Erkennen: Wir werden sehen, dass Unterschiede und Vielfalt unsere Gemeinschaft bereichern. Wir werden auch den Unterschied zwischen dem Ich und dem Ego erkennen: Während das Ego trennt, ist das Ich immer etwas, das verbindet.

Es gibt keine funktionierende Gemeinschaft ohne Individualität. Umgekehrt gibt es keine Individualität ohne Gemeinschaft: Wir entwickeln sie nicht allein im Kämmerlein, wir brauchen Kontakt, Feedback, Reibung, um zu erkennen, wer wir sind und ein Gefühl für unsere Stärken und Schwächen zu bekommen. Die Gemeinschaft kann ein Schutzraum sein, unsere persönliche Wahrheit zu erkennen und auszusprechen.
Glaube ich denn tatsächlich, dass Gemeinschaften – so viele es auch sein und so gründlich sie auch arbeiten mögen – dem globalen Kapitalismus und dem Kriegssystem ernsthaft etwas entgegensetzen können? Kommunen gegen die Macht des digital gesteuerten, global organisierten, militärisch gestützten Weltsystems? Das hört sich so an wie Mistgabeln gegen Raketen. Doch so ist es nicht gemeint.
Zunächst: Dieses scheinbar so machtvolle System ist gerade dabei, sich selbst abzuschaffen. Das können wir kaum noch aufhalten. Wir können nur hoffen und unser Bestes tun, dass dieser Vorgang mit möglichst wenig Gewalt und Not vonstattengeht.
  
Aber was kommt nach dem Zusammenbruch der Grosssysteme? Wir können uns ja einmal in Gedanken umschauen: Was passiert, wenn die Supermärkte leer sind, wenn die Strom- und Wasserversorgung nicht mehr funktioniert? Im Moment wären die meisten von uns kaum in der Lage, das lange zu überleben. Ganz sicher nicht in einem Single-Haushalt in einem anonymen Wohnblock.
Permakultur-Erfinder Bill Mollison sagte: «Wenn du aus dem Fenster schaust und nicht deine Nahrung wachsen siehst, dann hast du ein Problem.» Dasselbe könnten wir für Energie, Baustoffe, Wasser sagen: Wir müssen unsere Versorgung wieder so organisieren, dass wir sie sehen und dafür die Verantwortung übernehmen können.
Die Gemeinschaftsbewegung hat meines Erachtens die Aufgabe, ein Leben vorzubereiten, das nicht mehr auf die globalisierte Wirtschaft angewiesen ist: Versorgungssysteme, die den Zusammenbruch überstehen und mit der Natur kooperieren, vernetzte Regional-Autonomien, intelligente Solarsysteme, regionale Wirtschaftskreisläufe, dezentrale ökologisch und sozial verträgliche Kleinindustrie, weltweiter Wissenstransfer statt Warentransport – und ein soziales, kulturelles und sexuelles Leben, das Vertrauen und Liebe erzeugt und deshalb wahrhaft nachhaltig ist.    


 
Auszug aus dem Buch von Leila Dregger:
Frau-Sein allein genügt nicht – mein Weg als Aktivistin für Frieden und Liebe
edition Zeitpunkt, März 2017, 196 S., CHF 19.00 / EUR 17.00
Bestellung hier
01. März 2017
von: