Wo bleibt die Friedensbewegung?

Der militärische Heilsmythos verbaut die Zukunft für kommende Generationen. Aber wirkungsvoller Pazifismus braucht die Jugend.

Das Lamento im Anschluss an die Ostermärsche ist seit Jahren zum Ritual geworden: Die Friedensbewegung habe den Anschluss verpasst, erreiche keine Leute mehr und sei hoffnungslos überaltert. Nur selten wird hingegen etwas über die erstaunlichen Kontinuitäten in der pazifistischen Arbeit berichtet. Einige Verbände sind schon im 19. Jahrhundert gegründet worden. Es gibt sogar in ländlichen Gebieten Initiativen, die seit drei oder gar fünf Jahrzehnten vor Ort beharrlich für den Frieden streiten. Organisierte Friedensarbeit ist jedoch schon immer die Sache einer Minderheit gewesen. In Krisenmomenten musste es sich stets neu erweisen, ob dieser «harte Kern» die Voraussetzungen für breite Lernprozesse und eine Massenbewegung im öffentlichen Raum verbessern konnte. Erst ein Bewusstsein vieler Menschen, selbst betroffen zu sein, ermöglicht es, dem Kriegsrad in die Speichen zu fallen.
So waren die im Jahr 1958 von England ausgehenden Ostermärsche mitnichten von Beginn an ein Selbstläufer. Heute ist vor allem der zweite Höhepunkt der Friedensbewegung in den 1980er Jahren im öffentlichen Bewusstsein, als die atomaren Aufrüstungspläne viele Menschen in Angst versetzten: «Besuchen Sie Europa, solange es noch steht!» Im Februar 2003 führte dann der millionenfache Protest gegen den bevorstehenden Angriffskrieg der USA gegen den Irak in vielen Städten auf dem ganzen Globus zur grössten simultanen Friedensdemonstration der gesamten Menschheitsgeschichte.
Der vielfältige Widerstand gegen eine neue Welt-Kriegsordnung im ganzen letzten Jahrzehnt hat jedoch nicht wenige Friedensinitiativen ausgezehrt und ob seiner scheinbaren Wirkungslosigkeit schliesslich Gefühle von Ohnmacht verstärkt. Junge Menschen sind bei Demonstrationen eindeutig in der Minderheit, in vielen Friedensgruppen trifft man sie gar nicht an.

Es gibt unzweifelhaft ein Nachwuchsproblem und so etwas wie einen «Traditionsabbruch». Die Ursachen sind vielfältig. Bis zur Jahrtausendwende konnte eine Mehrheit auf eigene Erfahrungen oder persönliche Erzählungen von Eltern, Grosseltern und sogar Urgrosseltern zurückgreifen. Vorauszusetzen war ein breites Verständnis davon, was Krieg und Kriegsfolgen bedeuten. Familiäre Auswirkungen der Abgründe des 20. Jahrhunderts sind ein wichtiges Bewegungsmotiv in vielen pazifistischen Biographien. Das menschliche Leidensgedächtnis ist jedoch kurz, wie schon Bert Brecht wusste. In der dritten Generation sind die Tränen der Altvorderen getrocknet und bedeuten nicht mehr viel.
Gesellschaftliche Kraftfelder, die einmal als wichtige Träger der Kriegskritik galten, sind in den «neoliberalen» Jahrzehnten in beschleunigtem Tempo zusammengeschmolzen. Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und kirchlich oder vom bildungsbürgerlichen Humanismus geprägte Milieus fallen als Katalysatoren der Friedensbewegung heute weitgehend aus. In Deutschland wurde die Friedensbewegung zu grossen Teilen durch die Partei der Grünen korrumpiert. Die einst von Pazifisten selbst «nach oben gebrachte» ökologische Parteirichtung erkaufte sich 1998 die politische Macht in der rot-grünen Regierungskoalition unter Gerhard Schröder mit einer Beteiligung am Kriegssystem. Seitdem wird fast zwanghaft der – an sich leicht widerlegbare – Heilsmythos von «menschenfreundlichen Kriegseinsätzen» vorgetragen. Dies führte unter anderem auch zu einer beispiellosen Schwächung der Friedensbewegung im Bereich Medien und Publizistik. Ehedem kritische Blätter schwenkten um auf weichgezeichnete Camouflage-Farben und verbreiteten die Narrative von PR-Agenturen im Dienste des Militärs.

Junge Menschen, die in den 1990er Jahren sozialisiert worden sind, assoziierten den Soldatenberuf zumeist mit «friedenserhaltenden Massnahmen» (Peacekeeping) bzw. sogenannten «humanitären Interventionen». Auch deshalb konnte bis vor Kurzem in der Öffentlichkeit der absurde Eindruck aufrechterhalten werden, der westliche Soldateneinsatz im endlosen Afghanistan-Krieg erschöpfe sich weitgehend in Komitees zum Bau von Brunnen und Schulen. Beim Einsatz der Drohnentechnologie bleibt das ferngelenkte Morden auf jedem beliebigen Schauplatz der Erde ohnehin unsichtbar. Die Auswirkungen der «Antiterror-Kriegspropaganda» werden im ironischen Statement einer dreissigjährigen Sozialpädagogin gut auf den Punkt gebracht: «Wieso sollte man sich denn in Friedensbewegungen und auf Ostermärschen engagieren? Wir sind doch eine friedliche Nation, sagen die Politik und die Medien (...). Krieg haben die anderen, und das liegt am Islam.»
Für die zunehmende Alltagstauglichkeit des Kriegerischen spielt darüber hinaus die Militarisierung der unterhaltungsindustriellen Massenkultur eine wichtige Rolle. In Film- und Computerspielproduktionen hat sie während des letzten Vierteljahrhunderts ein unvorstellbares Niveau erreicht. Ungezählte Leinwand-Blockbuster verschiedenster Genres propagieren das «Programm Krieg» für alle Zeit- und Raumdimensionen.  Die erfolgreichsten Titel des Sortiments sind fast jedem Jugendlichen bekannt. Nahezu in allen Klassen sitzen noch immer – vorwiegend männliche – Schüler, die einen beträchtlichen Teil des Tages damit verbringen, vor einem Bildschirm Militärtechnologie zu simulieren oder mit eigenem «Waffen-Ich» (Ego-Shooter) in ein virtuelles Kriegsszenarium einzusteigen. Erst seit islamistische «Gotteskrieger» die westlichen Medienformate kopieren, werden die weit in den Alltag reichende kommerzielle Gewaltkultur und das elektronische Militär-Entertainment nicht mehr nur von Pazifisten kritisch gesehen.
Aus Rückmeldungen junger Menschen könnte die Friedensbewegung jedoch lernen, wo ihre eigenen Schwächen und Defizite liegen: Die Friedenstaube habe kein «sexy» Image, sondern stehe für Langweiligkeit und kraftlose Traditionsübung. Eine überzeugend provozierende und lustvolle – auch künstlerisch überzeugende – Performance finde man hingegen nicht. Es fehle der Mut zum Verrückten und zu populären Kampagnen. Vielfach
variiert wird die Kritik am herkömmlichen Strassenprotest: «Die Schweige- und Latschdemos finde ich nervig.» Der hohe moralische Anspruch vieler erprobter Aktivisten mag ehrenwert sein, doch traurige oder gar verbitterte Gesichter wirken nicht einladend.

Das ausserordentlich breite «Themenfeld» der Friedensbewegung wird oft als unüberschaubar und sehr kompliziert empfunden. Viele vermissen einen klaren Schwerpunkt oder eine Kernaussage, die alle Themenfelder miteinander verbindet. Homepages der Friedensbewegung imponieren allenfalls durch Unübersichtlichkeit. Neue Medien würden selten genutzt. Kaum anzutreffen seien attraktive Formen des zivilen Ungehorsams, in denen die «Power» von Gewaltfreiheit erfahrbar werde, sowie soziale «Erlebnisräume».
Dabei sind die Rahmenbedingungen für einen breiten Friedensprotest gemeinsam mit der jüngeren Generation keineswegs ungünstig. Junge Leute, so meint der Philosoph Richard David Precht, seien aufgrund eines gewandelten Familiengefüges heute vielfach sensibler und empathischer als frühere Generationen. Die Shell-Studie von 2015 weist durchaus auf eine steigende Bereitschaft zum politischen Engagement hin. Wenn es um Themen wie «Klimawandel», «gerechte Bedingungen für den Welthandel» und «Kontrolle von Konzernmacht» geht, sind bei Protesten alle Altersstufen vertreten. Im Februar dieses Jahres haben Hunderttausende in Barcelona auf der Strasse ihre Solidarität mit den Geflüchteten gezeigt. Diese Demonstration ist überwiegend von jungen Leuten organisiert worden!
Das verbindende Symbol, das den Zusammenhang der grossen Themen erhellt, könnte ein Bild zur Einheit der menschlichen Familie sein: «One world – one human family.» Das Programm «Krieg» verbaut kommenden Generationen die Aussicht auf ein gutes Leben. Ohne gerechtere Verhältnisse auf dem Globus kann es aber keinen Frieden geben, weil ein aggressives Wirtschaftssystem sich im Zweifelsfall immer für das Töten – nicht für das Teilen – entscheiden wird. Alle drängenden Zivilisationsfragen – wie Klimawandel, Zerstörung der Lebensgrundlagen und Bevölkerungsexplosion – können in einer vernetzten Welt nur von allen gemeinsam gelöst werden: «Entweder retten wir uns alle, oder wir gehen alle zugrunde.» (Leonardo Boff) Doch die Wetterfahne weist derzeit nicht in Richtung Zusammenarbeit. Eine Aufrüstung sondergleichen und neue Kriege stehen bevor. Nur ein selbstbewusster und auch lustvoller Pazifismus wird die Jugend dazu verführen können, für ihre eigene Sache – eine Zukunft ohne Krieg – einzustehen.

Peter Bürger ist katholischer Theologe und arbeitet als freier Publizist in Düsseldorf. www.friedensbilder.de
14. Mai 2017
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