Wo die Weisheit des Volkes ein Zuhause hat

In der direkten Demokratie können wir «Ja» sagen oder «Nein». Immerhin. Aber es ginge auch anders. Dafür aber sollte das Trennende in politischen Prozessen in den Hintergrund treten und das Gemeinsame müsste wachsen dürfen.

(Foto: Christine Ax)

«Willkommen in der Dezentrale», steht auf einem Schild, das im Garten an der kleinen Natursteinmauer anlehnt, und auf seine Renovierung wartet. Chris Zumbrunn, in dessen Kopf Platz für die ganze Komplexität der Welt zu sein scheint, hat mich unten in Saint-Imier abgeholt. Eine Zahnbahn bringt uns in wenigen Minuten auf den Mont Soleil. Auf 1298 Meter Höhe findet man hier eine kleine Ansammlung von Häusern. Das schöne Fleckchen Erde, das sich im Sommer zum Wandern und Waldbaden empfiehlt und im Winter zum Schneelanglauf verlockt, zieht nicht nur Touristen an, sondern auch Menschen, die sich für Sonnen- und Windenergie interessieren.

Dezentrale: Hinter diesem Begriff steht ein komplexes Gedankengebäude. Dass die Dezentrale hier steht, passt ins Bild. Bakunin hat zeitweise in Saint-Imier gelebt. Die «Jurakonföderation», ein Zusammenschluss antiautoritärer und anarchistischer Sektionen der Ersten Internationale, war in den 1970er-Jahren des 19. Jahrhunderts das Zentrum der internationalen anarchistischen Bewegung.  Wer mit Anarchismus «Unordnung» verbindet, hat sein Wesen nicht verstanden. Anarchisten akzeptieren durchaus Autorität. Sie glauben einfach nur daran, dass Menschen keine höhere Autorität benötigen, sondern selber und in Freiheit in der Lage sind, sich die Ordnung zu geben, die ihnen guttut. Sie fordern einen Zustand der gleichen Freiheit für jeden durch die Freiheit aller.

Chris Zumbrunn ist eine wichtige Zentrale im Netzwerk der vielen Dezentralen, in die er sich eingebunden weiss. Er ist Experte für echte, gelebte Demokratie. Eine Demokratie, in der Menschen ihre Gestaltungsmacht (Macht, wie machen) nicht delegieren, sondern selber in die Hand nehmen. Eine direkte, eine praktische und solidarische Demokratie.
Wir unterhalten uns über Alternativen zur «Nein-Ja-Demokratie» in der Schweiz und anderswo. Die Überzeugung, dass Demokratie mehr sein kann, als das Recht, ein Kreuzchen für eine Person oder eine Partei zu machen, ist in der Schweiz ein Gemeinplatz. Kein anderes Land in Europa gewährt seinen Bürgern eine so aussergewöhnlich aktive Rolle in der Gesetzgebung oder wenn es darum geht, die Dinge in der eigenen Kommune oder Region mitzugestalten.

Demokratie kann aber weit darüber hinausgehen. Sie kann das Volk ermächtigen, sein Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Das macht vor allem dann Sinn, wenn man genügend Vertrauen in Menschen hat und in ihre Fähigkeit, selbst zu wissen, was sie brauchen und was für die Gemeinschaft gut ist.
Chris Zumbrunn kennt sich gut mit dem Methodenkoffer und den Werkzeugen direkter Demokratie aus. Am meisten überzeugen ihn die Ergebnisse der «Wisdom Councils», die sich in Europa und vor allem Vorarlberg bewährt haben. Bekannt geworden sind sie als «Bürgerräte».
Nachdem er mir manches darüber erzählt hat, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Denn vielfach erprobt und damit bewiesen, ist, sagt er, dass es reicht, 12 bis 16 Menschen nach dem Zufallsprinzip auszuwählen, um eine Lösung zu finden, die jede andere Gruppe auch bevorzugen würde. Weil das Volk – wenn man es nur lässt (und gegebenenfalls dabei unterstützt) – zuverlässig die Lösungen finden kann, die dem Gemeinwohl am besten dienen.

Das kann doch nicht sein! Ich frage hartnäckig nach, denn ich kann es erst einmal nicht glauben. Allmählich verstehe ich, was die Erklärung dieses Phänomens sein könnte. Das Wisdom Council ist eine Methode, die ausschliesslich auf konstruktive Kommunikation setzt. Die zufällige Zusammensetzung der Gruppe sorgt dafür, dass eine ausreichend grosse Vielfalt an Sichtweisen, Herkünften und Interessenlagen vertreten sind. Die Gruppe sammelt reihum – wieder und wieder – alle Probleme und Lösungen, Bedenken und Fakten, ohne zu diskutieren. Alle Teilnehmer werden so Teil eines Stunde um Stunde wachsenden, gemeinsamen Bildes von der Welt. Sie streiten nicht. Sie Consensualisieren. Das Trennende tritt in den Hintergrund. Das Gemeinsame wächst und überwiegt. Nicht das Ego dominiert, sondern die geteilten Wünsche und Bedürfnisse, und der Wille und die Fähigkeit zu kooperieren. Keine intellektuellen Showkämpfe, kein Gesichtsverlust, keine Verlierer, nur Gewinner. Jetzt verstehe ich es: Ja, das funktioniert. Das habe ich selber auch schon erlebt.

Aber wenn das tatsächlich so ist, warum wird diese Methode nicht viel öfter und überall eingesetzt? Chris Zumbrunn hat dafür eine einfache Erklärung: Diejenigen, die jetzt an den Problemen verdienen und von ihnen profitieren, haben kein Interesse daran.
Aber ist das wirklich überall so? Der Vorarlberg, sagt Chris Zumbrunn, ist bei der Anwendung dieser Bürgerbeteiligungsmethode vornean. Dort wurde bereits mehrfach das Instrument der Bürgerräte eingesetzt, und es hat sich bewährt. Das passt, denke ich. Denn nirgendwo gibt es mehr widerständige und eigensinnige Menschen auf einem Fleck.

Die ehemalige freie Bauern- und Handwerkerrepublik hat sich ihren Willen zur Freiheit bis heute nicht abkaufen lassen. Das hat diese schweizerischste aller österreichischen Provinzen sogar reich gemacht, in vielerlei Hinsicht. Aber das ist ein anderes, ein eigenes und sehr schönes Kapitel.

Für den Dezentralitäts-Denker Zumbrunn hört die Demokratie aber damit nicht auf. Besser noch als «Mitsprache» sind Selbstorganisation und Selbstbestimmung. Er und das grosse europäische Netzwerk, in dem die Dezentrale ein wichtiger Knotenpunkt ist, arbeiten an einem basisdemokratischen Transformationskonzept. Echte Demokratie braucht auch Wirtschaftsdemokratie. Braucht die Zurückeroberung des Eigentums an Produktionsmitteln und ein Geld, das dem Gemeinwohl dient. Neue Technologien, wie das Internet, und eine eigene Kryptowährung können hilfreich sein: FairCoin statt BitCoin. Wenn die Zahl der Teilnehmenden Unternehmen gross genug ist, kann der Teil der Wertschöpfung, der solidarisch und fair und selbstorganisiert ist, sich langsam abkoppeln. Das Neue wächst im Alten, sagt Chris Zumbrunn. «Weiter so» geht nicht. Revolution kann vieles zerstören und sich gegen das Gute wenden. Wir können die Ressourcen, die da sind, nutzen, um das Neue aufzubauen.
Und die Schweiz, frage ich zum Schluss noch mal. Dieses Vorzeigeland der Demokratie? Geht da noch was? Chris Zumbrunn antwortet sehr bedächtig. Man muss schauen, sagt er, dass man nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet. Es ist wichtig, wertzuschätzen und zu erhalten, was gut ist und funktioniert. Er wünscht sich für die Schweiz eine Dezentralisierung der direkten Demokratie. Die Mitgestaltung durch die Bürger sollte stärker für die kommunale Ebene genutzt werden. Denn dort ist die Gestaltungsmacht gross und direkt spürbar. Dort kann man Alternativen direkt leben.     

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Hier gibt es weiterführende Informationen:
www.decentrale.ch
www.buerger-gesellschaft.de
www.planungszelle.de
Auf der Website der Landesregierung Vorarlberg sind Informationen über die Arbeit der Bürgerräte zu finden, und ein schönes Video, das das Prinzip Bürgerrat erklärt:  
www.youtube.com/watch?v=_03gXU4aZ9I

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