Zusammen ohne allein ist Stillstand
Diogenes war ein freier Mann. Seine Bedürfnisse hatte der griechische Philosoph, der vor über 2300 Jahren starb, aufs Allernotwendigste reduziert. Er schlief – so die hübsche Legende – in einem Fass. Seine Schüssel und seinen Becher warf er weg, als er einen Jungen sah, der die Linsen auf sein Brot schmierte und das Wasser aus der hohlen Hand trank. Und er war ein Single. Wenn ihn sexuelle Lüste befielen, befriedigte er sich eben selbst. Und wie er lebte, starb er auch: ganz allein. Er hielt einfach die Luft an. Alleiner geht nicht.
Aber es geht auch zusammen. Zum Beispiel so: 1933 erschien in der Sowjetunion – und das ist nun keine Legende – der Roman Belomor, eine Eloge auf die gewaltige Leistung der 126’000 Arbeiter (es waren Strafgefangene), die in nur 20 Monaten einen 227 Kilometer langen Kanal zwischen dem Weissen Meer und der Ostsee bauten. Den Roman hatten 36 Schriftsteller gemeinsam geschrieben, nachdem Maxim Gorki, Präsident des sowjetischen Schriftstellerverbandes, den Individualismus für überholt erklärt hatte.
Hier das freie Individuum, dort zwei Zwangskollektive, jenes der Kanalarbeiter und jenes der Schriftsteller. So simpel gestrickt ist das wirkliche Leben zum Glück dann doch nicht. Schliesslich ist nicht jedes Individuum frei und ist nicht jedes Kollektiv eine Zwangsvereinigung. Trotzdem sind Individuum und Kollektiv, das Allein und das Zusammen, gewissermassen die Antipoden einer freien Gesellschaft, die sich allerdings nur scheinbar ausschliessen. Denn der Mensch ist ja Mensch nur durch den Menschen. Und die Gesellschaft, das grosse Kollektiv, ist andererseits mehr als die Summe der Individuen, die ihr angehören. Sie braucht zu ihrer Kohäsion Vereine, Parteien, Gemeinschaften. Wo die Kohäsionskraft fehlt, droht soziale Verwahrlosung. Das Individuum, mit all seinen Rechten der Nukleus einer freien Gesellschaft, ist dann nicht nur allein, sondern auch einsam, was im Gegensatz zum Alleinsein in der Regel ein ungewollter Zustand ist, einer, unter dem man leidet.
Nur der Mensch, der autonom und letztlich eben allein und eigenverantwortlich entscheiden kann, wo er sich – persönlich, beruflich, weltanschaulich, politisch – in der Gesellschaft verortet, wird ein freier Mensch sein. Insofern also setzt das Zusammensein, will es nicht zum Zwangskollektiv degenerieren, das Alleinsein logisch voraus. Andererseits ist der Mensch, kaum geboren, in der Regel schon in einem Kollektiv angekommen, in der Familie, in die er hineinwächst, vielleicht auch in einer Religionsgemeinschaft, wenn er getauft wird oder qua Geburt wie bei Juden und Muslimen. Es ist kein frei gewähltes Zusammensein, sondern ein fremd bestimmtes, oft mit Zwängen verbunden, von denen er sich – nur aus eigener Kraft, allein – emanzipieren kann.
Aber allein ist nicht genug. «Allein machen sie dich ein», sang eine Berliner Anarcho-Band in den 1970-er Jahren. Und der Titel eines Buchs, geschrieben im selben Jahrzehnt von einem Kinderbuchkollektiv, hiess «Fünf Finger sind eine Faust». Ein Finger allein kann gebrochen werden, aber nicht die Faust. Zusammen sind wir stark. Es ist das Hohe Lied der Solidarität. Fusst sie auf der autonomen Entscheidung freier Individuen, kann sie Berge versetzen. Wird sie von oben angeordnet und eingefordert, erweist sie sich – wie die jüngere Geschichte Osteuropas drastisch vor Augen geführt hat – schnell als brüchig.
Solidarität kann man üben, das Alleinsein auch. Es gibt inzwischen zahlreiche Ratgeber dafür. Viele machen da aus der Not der Einsamkeit die Tugend des Alleinseins. Doch umgekehrt wird ein Schuh draus: Nur wer fähig ist, allein zu sein, ist fähig, zwangsfrei zusammen zu sein. Jüngst erschien ein Buch unter dem Titel «Allein ist man weniger zusammen». Da der Autor ein Satiriker ist und Satiriker oft gute Lehrmeister sind, sollte man den tautologischen Titel nicht als Plattitüde denunzieren. Man kann den Satz auf zweierlei Weise interpretieren. Wer sich einsam fühlt, wird bedauern, dass man allein weniger zusammen ist. Wer gerne allein ist, wird froh darüber sein, dass weniger zusammen ist, wer allein ist.
Doch es ist nicht nur eine Frage der Befindlichkeiten. Das Individuum braucht die Gesellschaft, sonst verdorrt es psychisch und intellektuell. Und eine Gesellschaft braucht das Individuum, seine Ideen und seine Energie, sonst versteinert sie. Allein ohne zusammen macht einsam. Zusammen ohne allein ist Stillstand.
Thomas Schmid (*1950), gebürtiger Schweizer, Soziologe und Journalist mit vielen Stationen in aller Welt, u.a. als leitender Redaktor der taz und der Berliner Zeitung. Jetzt freischaffender Autor und hie und da an seinem Wohnort Berlin anzutreffen. www.thomasschmid.com
Aber es geht auch zusammen. Zum Beispiel so: 1933 erschien in der Sowjetunion – und das ist nun keine Legende – der Roman Belomor, eine Eloge auf die gewaltige Leistung der 126’000 Arbeiter (es waren Strafgefangene), die in nur 20 Monaten einen 227 Kilometer langen Kanal zwischen dem Weissen Meer und der Ostsee bauten. Den Roman hatten 36 Schriftsteller gemeinsam geschrieben, nachdem Maxim Gorki, Präsident des sowjetischen Schriftstellerverbandes, den Individualismus für überholt erklärt hatte.
Hier das freie Individuum, dort zwei Zwangskollektive, jenes der Kanalarbeiter und jenes der Schriftsteller. So simpel gestrickt ist das wirkliche Leben zum Glück dann doch nicht. Schliesslich ist nicht jedes Individuum frei und ist nicht jedes Kollektiv eine Zwangsvereinigung. Trotzdem sind Individuum und Kollektiv, das Allein und das Zusammen, gewissermassen die Antipoden einer freien Gesellschaft, die sich allerdings nur scheinbar ausschliessen. Denn der Mensch ist ja Mensch nur durch den Menschen. Und die Gesellschaft, das grosse Kollektiv, ist andererseits mehr als die Summe der Individuen, die ihr angehören. Sie braucht zu ihrer Kohäsion Vereine, Parteien, Gemeinschaften. Wo die Kohäsionskraft fehlt, droht soziale Verwahrlosung. Das Individuum, mit all seinen Rechten der Nukleus einer freien Gesellschaft, ist dann nicht nur allein, sondern auch einsam, was im Gegensatz zum Alleinsein in der Regel ein ungewollter Zustand ist, einer, unter dem man leidet.
Nur der Mensch, der autonom und letztlich eben allein und eigenverantwortlich entscheiden kann, wo er sich – persönlich, beruflich, weltanschaulich, politisch – in der Gesellschaft verortet, wird ein freier Mensch sein. Insofern also setzt das Zusammensein, will es nicht zum Zwangskollektiv degenerieren, das Alleinsein logisch voraus. Andererseits ist der Mensch, kaum geboren, in der Regel schon in einem Kollektiv angekommen, in der Familie, in die er hineinwächst, vielleicht auch in einer Religionsgemeinschaft, wenn er getauft wird oder qua Geburt wie bei Juden und Muslimen. Es ist kein frei gewähltes Zusammensein, sondern ein fremd bestimmtes, oft mit Zwängen verbunden, von denen er sich – nur aus eigener Kraft, allein – emanzipieren kann.
Aber allein ist nicht genug. «Allein machen sie dich ein», sang eine Berliner Anarcho-Band in den 1970-er Jahren. Und der Titel eines Buchs, geschrieben im selben Jahrzehnt von einem Kinderbuchkollektiv, hiess «Fünf Finger sind eine Faust». Ein Finger allein kann gebrochen werden, aber nicht die Faust. Zusammen sind wir stark. Es ist das Hohe Lied der Solidarität. Fusst sie auf der autonomen Entscheidung freier Individuen, kann sie Berge versetzen. Wird sie von oben angeordnet und eingefordert, erweist sie sich – wie die jüngere Geschichte Osteuropas drastisch vor Augen geführt hat – schnell als brüchig.
Solidarität kann man üben, das Alleinsein auch. Es gibt inzwischen zahlreiche Ratgeber dafür. Viele machen da aus der Not der Einsamkeit die Tugend des Alleinseins. Doch umgekehrt wird ein Schuh draus: Nur wer fähig ist, allein zu sein, ist fähig, zwangsfrei zusammen zu sein. Jüngst erschien ein Buch unter dem Titel «Allein ist man weniger zusammen». Da der Autor ein Satiriker ist und Satiriker oft gute Lehrmeister sind, sollte man den tautologischen Titel nicht als Plattitüde denunzieren. Man kann den Satz auf zweierlei Weise interpretieren. Wer sich einsam fühlt, wird bedauern, dass man allein weniger zusammen ist. Wer gerne allein ist, wird froh darüber sein, dass weniger zusammen ist, wer allein ist.
Doch es ist nicht nur eine Frage der Befindlichkeiten. Das Individuum braucht die Gesellschaft, sonst verdorrt es psychisch und intellektuell. Und eine Gesellschaft braucht das Individuum, seine Ideen und seine Energie, sonst versteinert sie. Allein ohne zusammen macht einsam. Zusammen ohne allein ist Stillstand.
Thomas Schmid (*1950), gebürtiger Schweizer, Soziologe und Journalist mit vielen Stationen in aller Welt, u.a. als leitender Redaktor der taz und der Berliner Zeitung. Jetzt freischaffender Autor und hie und da an seinem Wohnort Berlin anzutreffen. www.thomasschmid.com
12. August 2016
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