17 Exemplare im «Odeon»
Wie wir mit dem «manuskript» die Zürcher Literaturszene erobern wollten, Peter Bichsel interviewten und im legendären Café «Odeon» den ersten Verkaufserfolg landeten. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft». Folge 36.
Mittlerweile existierte unser literarisches Heft «Manuskript», das ich mit meinem Schulkameraden Elias und einem weiteren Mitredaktor herausgab, schon ganze zwei Jahre. Es hatte sich in der Zürcher Literaturszene innert kurzer Zeit einen konkurrenzlosen Platz erobert, erreichte zuletzt eine Auflage von 1000 Exemplaren, enthielt auch Inserate von Buchverlagen und zählte bekannte Namen zu seinen Autoren.
Wenn ich jetzt auf die «manuskript»-Zeit zurückblicke, kommt es mir vor, als hätte ich neben der Schule in einer Paralleldimension gelebt, die mit der eng abgesteckten Welt eines Wirtschaftsgymnasiums nicht das Geringste zu tun hatte. Bezeichnenderweise trägt das Quartier, in dem sich unsere Schule befand, den Namen Enge. Und eng war mir wirklich zumute, jedesmal, wenn ich das Schulhaus betrat.
Umso mehr brauchte ich ein zweites Leben in der Literaturszene, wo Elias und ich als mündige Menschen behandelt wurden und wo wir inzwischen ganz selbstverständlich verkehrten. Ich habe bereits erzählt, wie wir uns als frischgebackene Literaturinteressierte den Zugang zu dieser Szene erschlossen. Nun blättere ich in den einzelnen Heften – und stosse schon in der ersten Ausgabe auf eine Schilderung, mit der ich von Anfang an klarstellte, dass ich Literatur nicht als l’art pour l’art zu betrachten gedachte.
Ich schrieb über Hans Böhm, einen jungen deutschen Viehhirten und Musikanten, der 1476, kurz vor der Reformation, eine Marienerscheinung hatte. Bekannt geworden als der Pfeifer von Niklashausen, verkündete er vor einer wachsenden Zuhörerschar, was ihm Maria offenbart hatte.
«Doch dann», so berichtete ich, «nannte er die Dinge beim Namen: Dass die Geistlichkeit in ihrer Habgier ein schlimmes Übel sei und der Papst ebenso wie der Kaiser an den bestehenden Missständen schuldig wären.»
Während der folgenden Monate pilgerten mehrere zehntausend Menschen nach Niklashausen, um den Ketzer zu feiern, der in «leidenschaftlicher Weise zum Pfaffenhass aufrief» und eine gerechte Gesellschaft forderte: «Papst, Kaiser, Fürsten, Ritter und Bürger müssen mit dem gemeinen Mann teilen. Auch die Herren sollen um Taglohn dienen. Jeder soll seine Nahrung mit eigenen Händen gewinnen. Alle Abgaben müssen abgeschafft werden.»
Seine ketzerischen Ideen konnte die Obrigkeit nicht tolerieren, und sie verbot seine Tätigkeit – eine Reaktion, die uns inzwischen bekannt vorkommt. Der 18-Jährige, der als «zarte Erscheinung voller Unschuld und Reinheit beschrieben wird», wurde verhaftet und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Noch im Feuer soll er Marienlieder gesungen haben.
Virtuelle Scheiterhaufen gibt es auch heute wieder, obwohl Jahrhunderte seither vergangen sind. Deshalb ist die Geschichte des jungen Hans Böhm von bedrückender Aktualität. Damals stiess ich wohl eher zufällig auf den historisch verbürgten sanften Rebellen. Doch als ich seine Botschaft entdeckte, wusste ich, dass ich über ihn schreiben musste.
Der Prophet von Niklashausen propagierte den Kommunismus. Noch nie vorher war so deutlich eine klassenlose Gesellschaft gefordert worden. Und wie allen kritischen jungen Menschen damals ging es auch mir: Der Frage musste auch ich mich stellen: Bist du für oder gegen den Kommunismus? Dieses Entweder oder, das damals wie heute die Menschheit spaltet und gegeneinander aufbringt, sollte mich fortan begleiten und für die nächsten Jahre nicht mehr in Ruhe lassen. Deshalb wählte ich schon für die erste Nummer unserer Zeitschrift eine Geschichte, die mit Literatur weniger als mit Politik zu tun hatte. Doch damit lag ich im Trend der Zeit. Literatur ist politisch, sagte die Neue Linke. Alles ist politisch.
Heute würde ich wissen wollen, wie dem jungen Hans Böhm die Maria erschien. Damals interessierte mich mehr, wo er politisch stand. Ich beschrieb ihn als Kommunisten, der ein paar hundert Jahre zu früh kam. Doch wohin mich mein eigener weltanschaulicher Weg hinführen würde, war mir noch nicht so klar. «Die kommunistische Idee ist undurchführbar. Sie ist zu fantastisch», beendete ich in meinem Beitrag über den Pfeifer von Niklashausen.
Damit sagte ich nicht: Kommunismus ist gut. Ich sagte nur: Er wäre gut, ist aber leider unrealistisch. So argumentierten viele meiner Generation. So denken heute noch viele. Denn die Idee einer gerechten Gesellschaft für alle hat etwas Bestechendes. Wer könnte dagegen sein? Und die bürgerliche kapitalistische Ordnung der westlichen Welt war damals, Ende der 60er-Jahre so starr, so ungerecht, so materialistisch, dass wir uns voller Sehnsucht eine Alternative, eine bessere Welt herbeiwünschten – und hofften, sie im Kommunismus zu finden.
Die sozialistische Utopie blendete uns so sehr, dass wir nicht einsehen wollten, warum der Sozialismus überall, wo er eingeführt wurde, zu diktatorischen Verhältnissen führte: Weil ein System, eine technokratisch geplante Ordnung dem Wesen des Menschen und der Unberechenbarkeit des Lebens niemals gerecht werden kann.
Doch von solchen Gedanken war auch ich weit entfernt. Auch ich wollte schwärmen, auch ich wollte glauben, und weil mir weder die Kirche noch die Marktwirtschaft diesen Wunsch erfüllen konnte, beschäftigte mich umso mehr das Schicksal des jungen Hans Böhm, der es doch nur gut gemeint hatte und dafür verbrannt worden war.
*
Ein journalistisches Highlight bereits in unserer ersten Nummer setzte Elias: Er interviewte keinen Geringeren als Peter Bichsel. Der damals 35jährige Autor aus Solothurn, der die Erwachsenenwelt gerade mit seinen «Kindergeschichten» begeisterte, kam für eine Lesung nach Zürich, die natürlich auch wir besuchten. Nach dem Anlass, der ausverkauft war, gelang es Elias tatsächlich, Bichsel für das Interview zu gewinnen. Es gelang ihm, obwohl unser Heft noch nicht einmal existierte. Doch so stiegen wir ein – unbekümmert und mit einer jugendlichen Respektlosigkeit, die uns vom ersten Moment an die Türen öffnete.
In Erinnerung geblieben ist mir die Lesung aber hauptsächlich deshalb, weil der Dichter betrunken war. Schon damals hatte der Solothurner diese näselnde Stimme, die zu ihm gehörte wie seine altertümliche Nickelbrille. Doch das Näseln war an diesem Abend so stark, dass man ihn kaum verstand, als er vorlas. Der Eindruck blieb in mir haften. Peter Bichsel war der erste bekannte Schriftsteller, den ich persönlich erlebte und vielleicht auch ein wenig bewundern wollte. Doch der Mann war unübersehbar angesäuselt und gab sich keine besondere Mühe, dies zu verbergen. Erlebnisse wie dieses förderten in mir schon in frühen Jahren die Haltung, niemanden mehr zu bewundern. Mochte er noch so erfolgreich sein.
*
Am Leseabend mit Peter Bichsel lernten wir auch den jungen Zürcher Silvio Riccardo Baviera kennen. Er war einerseits selber ein Dichter, gleichzeitig aber Verleger von Werken anderer junger Autoren. Wir baten ihn um einige unpublizierte Texte für unsere erste Nummer, denn unsere Absicht war es nicht nur, bekannte Namen für uns zu gewinnen, sondern auch Gedichte von jungen Wilden zu veröffentlichen. Baviera, ein junger Bohemien mit wallendem langen Haar, versprach uns erfreut «einen ganzen Stoss Zeug» und lud uns zu sich nach Hause mitten in Zürich ein.
So standen wir dann das erstemal, nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht, in der mit Büchern, Papieren und Aschenbechern überquellenden Wohnung eines richtigen Dichters. Die Loge lag an der Dienerstrasse im Arbeiterviertel Kreis 4, wo Elias und ich, am Zürichsee aufgewachsen, noch nie einen Fuss hineingesetzt hatten. Hier war auch der Sitz von Bavieras «Verlag um die ecke», von dem heute noch antiquarisch einzelne Büchlein und Schriften im Umlauf sind. Mit dem versprochenen Stoss von modernen Gedichten, die sich selbstverständlich alle nicht reimen durften, kehrten wir nach Hause zurück – um gleich in der ersten Nummer eines vom Dichter selbst abzudrucken:
Wenn geschossen wird
Wenn geschossen wird
in der Ecke einer Zeitung
berührt das kaum
Wenn geschossen wird
an der Ecke
berührt das
Weil ich an der Ecke
manchmal lese
wie in der Ecke einer Zeitung
geschossen wird.
*
Und dann, im Dezember 1969 standen Elias und ich das erstemal mit klammen Fingern vor unserer eigenen Schule und priesen unseren Altersgenossen die Nummer 1 mit dem Bichsel-Interview an. Doch nur allzu schnell mussten wir mit einer gewissen Ernüchterung feststellen, dass Wirtschaftsgymnasiasten kein ausgeprägtes kulturelles Interesse besassen und den Namen Peter Bichsel noch nie gehört hatten. Manche blieben bloss deshalb stehen und kauften uns das Heft ab, weil es nur 50 Rappen kostete, weil es ausnahmsweise kein Flugblatt war und weil sie – vor allem, was unsere Klassenkameraden betraf - etwas gönnerhaft nett sein wollten.
Bald wurde uns klar, dass Gymnasiasten – von Ausnahmen abgesehen – nicht unser Zielpublikum waren. Hätten auch Mädchen unsere Schule besucht, dann wäre uns mehr Erfolg beschieden gewesen, denn Mädchen lesen gern und sie mögen Jungen, die ebenfalls gerne lesen. Aber nachdem auch ein zweites Gymnasium nicht den erhofften Grosserfolg brachte, beschlossen wir eine Strategieänderung - und betraten, unseren ganzen Mut zusammennehmend, das «Odeon».
Zu jener Zeit galt das legendäre Kaffeehaus an der Ecke des Bellevueplatzes noch immer als Treffpunkt der Zürcher Kulturszene. Gekrönte Häupter hatten das Café berühmt gemacht: Stefan Zweig, Frank Wedekind, Kurt Tucholsky, Karl Kraus, James Joyce, aber auch umstrittene Grössen wie ein gewisser Wladimir Iljitsch Lenin, sie alle hatten im selben Raum, an den denselben Tischen gesessen wie in späteren Jahren Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und unzählige andere Sterne am Literaturhimmel.
Und jetzt also standen wir in dieser erlauchten und voll besetzten, von Rauch und Stimmengewirr durchtränkten Halle, zwei vollkommene Greenhorns, die niemand beachtete. Doch wir gaben uns einen Ruck, steuerten den nächstbesten Tisch an, unterbrachen keck das grosse Palaver und hielten den verwunderten Gästen unser Blättchen unter die Nase.
Innert zehn Minuten hatten wir 17 Exemplare verkauft – so notierte ich später im Tagebuch –, wurden mit Interesse gemustert und ausgefragt, bevor uns ein Gast aus Deutschland, unser jugendliches Engagement lobend, sogar noch zu einem «Drink» einlud. Ich wüsste zu gern, was ich mit meinen immer noch 15 Jahren bestellte. Einen Ausweis, ob man schon alt genug für Alkohol war, wollte damals noch niemand sehen.
Als wir schon draussen waren, liefen uns zwei weitere Gäste nach, um ein Exemplar zu erhalten. Wir triumphierten. Unser Gang in die Höhle des Löwen erwies sich als Offenbarung. «Ich glaube», schrieb ich danach, wieder ganz abgeklärt, in mein Tagebuch, «wir verkauften die Zeitung deshalb so gut, weil sie so wenig kostet und vor allem, weil sie für einmal kein Agitationsblatt ist. Denn davon haben die Leute nämlich genug.»
Folge 37 folgt am Sonntag 27.11.22
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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