Heilung bedeutet nicht, die Krankheit wegzumachen. Es bedeutet manchmal auch, sie ganz anzunehmen. Die Samstagskolumne.

Wer Zugang hat zu seiner Freude und zu der Dankbarkeit, am Leben zu sein, der ist vorbereitet. Foto: Cherry Laithang

Was einmal geschehen ist, kann niemals wieder ungeschehen gemacht werden. Auch wenn es nicht mehr sichtbar ist: Das Internet vergisst nichts. Das Weltgedächtnis auch nicht. Alles, was einmal war – jede Tat, jedes Wort, jeder Gedanke – existiert in energetischer Hinsicht weiter. Wir bekommen es nicht weg. Was wir auch anstellen: Wie in einer Knetkugel verschieben sich nur die Formen. Die Information bleibt. In der Natur geht nichts verloren. Nichts wird geschaffen. Alles verwandelt sich. So lautet einer der Grundsätze des französischen Chemikers Antoine de Lavoisier.

So ist auch alles, was wir einmal erlebt haben, unauslöschlich in uns eingeprägt. Und nicht nur das. Auch die Ereignisse, die unsere Vorfahren erlebt haben, leben in uns weiter. Nicht nur Kuchenrezepte werden von Generation zu Generation weitergegeben, sondern auch die Erinnerung an Unfälle, Krankheiten, Verletzungen, plötzliche Tode und alles, was nicht verarbeitet werden konnte.

Was eine Generation nicht löst, so der grosse Psychoanalytiker Carl Gustav Jung, widerfährt den folgenden Generationen als Schicksal. Auch aus der modernen Traumaforschung ist bekannt, dass Traumata von einer Generation zur nächsten reisen können. Aus langjähriger Praxis weiss der Psychotraumatologe Franz Ruppert, dass Verletzungen immer bleiben. Sie gehen nicht weg. Was wir tun können ist, unsere gesunden Anteile so weit zu stärken, dass wir gut mit der Verletzung leben können.

Ich weiss, wovon ich rede. Ich bin durch eine Krebserkrankung gegangen. Die Verletzungen, durch die sie ausgelöst wurde, sind noch da. Doch dadurch, dass sie benannt wurden, konnten sie sich verändern. Ich habe versucht, sie nicht zu ignorieren und zurückzustossen, sondern sie zu integrieren. Gewissermassen zu verdauen. Wie eine Blume, so steht es im Siddharta von Hermann Hesse, sollte die Verletzung blühen, anstatt zu welken und den Organismus in den Tod zu ziehen.

Diese Erfahrung hilft mir jetzt. Wenn ich in die Welt schaue, sehe ich viel Leid. Die Gewalt berührt mich, die Ungleichheit, das Unrecht. Die Verdrehungen und die Lügen machen mich wütend, das Wissen um die gequälten und getöteten Lebewesen unsagbar traurig und die Scheinheiligkeit so vieler Menschen ekelt mich an. Diese Gefühle bekomme ich nicht weg. Sie sind da und sie sollen auch nicht weg. Wäre ich noch Mensch, wenn mich das Leiden kalt liesse und der Schmerz mich nicht mehr berührte?

Ich will mich empören. Ich will fühlen. Doch mitleiden, das will ich nicht. Mitleid hilft niemandem und wird schnell überheblich. Es zehrt Kraft und lenkt die Energien dorthin, wo das Problem ist. Ich will mich nicht an dem orientieren, was mich nach unten zieht, sondern daran, was die Lösung bringen kann. Ich will, ermutigt durch Menschen wie Etty Hillesum, die ihr Leben in Auschwitz liess, durch die Korrespondenz einer Rosa Luxemburg aus dem Gefängnis oder durch den blinden Untergrundkämpfer Jacques Lusseyran nicht das Leid kultivieren, sondern die Freude.

Die Freude ist niemals deplatziert. Ich meine nicht die Schadenfreude, nicht den schenkelklopfenden Bierzelthumor und nicht das aufgesetzt fröhliche Lächeln von Menschen, die so tun, als stünden sie über den Dingen. Ich meine die echte Freude, die selbst dann noch da ist, wenn alles verloren scheint. Die Freude des Kindes, wenn es einen bunten Käfer sieht, die Freude des Sterbenden, der auf ein erfülltes Leben zurückblickt. Die Herzensfreude, die jeden anstecken muss, der mit ihr in Verbindung kommt.

Diese Freude zu stärken liegt in unserer Macht. Wie der Alchemist können wir das Dunkle, Bedrohliche nehmen und in unserem inneren Labor zu etwas Hellem und Schönem transmutieren lassen. Das Blei geht nicht weg. Doch wir können es in Gold verwandeln. Wir können Tonglen machen, eine Meditation des tibetischen Buddhismus, in der das Leidvolle quasi eingeatmet wird, im Herzen verwandelt und als Liebe und Mitgefühl wieder ausgesendet.

Diese Möglichkeit haben wir. Was immer jetzt noch vor uns liegt, wie schlimm es auch kommt – wer Zugang hat zu seiner Freude und zu der Dankbarkeit, am Leben zu sein und teilhaben zu dürfen an dem grossen Mysterium, der ist vorbereitet. In der dunkelsten Nacht wird er sich an das Licht erinnern und sich von ihm leiten lassen. So kann ihm die Gnade zuteilwerden, die jeder empfängt, der sich voller Vertrauen dem Leben hingibt.

Über

Kerstin Chavent

Submitted by cld on Mi, 05/17/2023 - 22:38
Kerstin Chavent

Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung,  In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.