«Auch in Derry haben die Menschen gelernt, mit den Bomben zu leben»

Juli 1972. Wie ich einen nordirischen Taxifahrer politisch überzeugen wollte, wie uns erneut bewusst wurde, dass wir Aussenstehende waren – und wie ich 50 Jahre danach einem Leserbriefschreiber Danke sagte. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» #48 von Nicolas Lindt.

Zwei junge Burschen, die noch nicht einmal volljährig waren. / © Nicolas Lindt

«Wir fahren in Richtung Westen, nach Londonderry – oder Derry, wie uns die Katholiken belehrten –, ein prachtvoller Sonnenuntergang strahlt uns entgegen, und für Momente vergessen wir, dass wir in Nordirland sind.» So erzählte ich weiter in meinem Reisebericht für den Tages-Anzeiger. Ich brachte die friedliche Landschaft und die Erlebnisse, die wir hinter uns hatten, fast nicht zusammen. Aber ich lernte daraus, dass in der Welt vieles nebeneinander Platz hat – die Gewalt in Belfast ebenso wie die Schönheit der untergehenden Sonne unterwegs durch Ulster.

«Der Taxifahrer, der uns auf seiner Rückfahrt nach Derry kostenlos mitnimmt, fragt uns, kaum sind wir eingestiegen, was wir in Belfast erlebten – um gleich darauf zu betonen, er selber sei unpolitisch. Das können wir fast nicht glauben, wohnt der junge Mann doch in der Bogside, dem katholischen Getto von Derry.» Die folgenden Sätze wurden von der Redaktorin gestrichen: «Wie kann man dort leben, ohne politisches Engagement? Der Taxifahrer nimmt sein Leben als gegeben und unveränderlich hin. Er will bloss in Ruhe gelassen werden - wie viele seiner Landsleute.» 

Ich konnte den Nordiren nicht verstehen. Als junger Mensch erwartete ich von den Erwachsenen, dass sie das gleiche innere Feuer besassen wie ich. Vergeblich versuchte ich, dem Katholiken aus Derry klarzumachen, er habe nur eine einzige Perspektive: der IRA beizutreten und den Briten den Kampf anzusagen. Der Taxifahrer war dazu nicht bereit. Er hatte andere Pläne, berufliche Pläne: Er wollte ein Taxiunternehmen gründen. Doch als wir die Bogside erreichten, zeigte er uns den Platz, wo die Briten am «Bloody Sunday» das Feuer auf die Katholiken eröffnet hatten. Das liess sogar mich betroffen verstummen.

Die Frage nach einem Ort zum Übernachten mussten wir dem Taxifahrer nicht stellen. Er hatte bereits beschlossen, uns zu seinen Eltern zu bringen, die Elias und mich bereitwillig bei sich willkommen hiessen. «Wir betreten die kleinbürgerliche katholische Reihenhauswohnung», beschrieb ich unsere Unterkunft, «wo wir unsere Schlafsäcke im engen Wohnzimmer ausbreiten dürfen. Wie in anderen Häusern sind die Wände auch hier mit kitschigen Heiligenbildchen verziert. Darin erschöpft sich der Kunstverstand der einfachen irischen Katholiken. Doch auch hier erleben wir eine Gastfreundschaft, wie wir sie in der Schweiz niemals antreffen würden. Ohne dass die Eltern des Taxichauffeurs uns kennen, dürfen wir in deren Wohnzimmer schlafen.»

«Spätabends draussen in der warmen Sommernacht, suchen wir das «Bogside Inn» auf, eines der wenigen, wenn nicht das einzige Pub des Viertels. Es ist voll junger Leute – und kaum haben wir uns gesetzt, treffen wir auf zwei Studenten aus Schweden, die in ihrer Heimat eine sozialistische Gruppe Nordirland gegründet haben und nun zu Studienzwecken hierher gereist sind.» Die beiden Schweden waren die einzigen anderen Ausländer, die wir in Nordirland trafen. Ausser ihnen und uns kam offenbar niemand auf die verrückte Idee, ein Land zu bereisen, das sich im Krieg befand. Damals konnte man sich noch als Entdecker fühlen, der in fremdes Gebiet vordringt und Eindrücke mit nach Hause bringt, die sonst niemand erlebt hat.

Am folgenden Tag besichtigten wir die Stadt. Es war ein Sightseeing der etwas anderen Art. «Einkaufen im halbwegs zerstörten Supermarkt im Zentrum von Derry. Am Vortag explodierten hier mehrere Bomben, und die Angestellten des Supermarkts sind gerade damit beschäftigt, aufzuräumen. Sie kehren das Glas zusammen und verkleben die geborstenen Schaufenster zur Not mit Karton. Auch in Derry haben die Menschen gelernt, zu improvisieren, mit den Bomben zu leben.»

«Unterwegs durch eine zerstörte Stadt, an Bettlern und «Trümmerfrauen» vorbei, die mit wenigen Habseligkeiten die Straßen durchstreifen. Nichtsahnend überqueren wir einen Hügel mitten in Derry, den Katholiken nicht mehr betreten, weil hier der protestantische Stadtteil liegt, von wo aus die Heckenschützen an manchen Tagen das katholische Viertel ins Visier nehmen. Unbeschadet kehren wir zurück in die stark verbarrikadierte Bogside, wo uns ein IRA-Mann fotografieren sieht. Er bittet uns, keine Personen zu fotografieren, führt uns dann aber zu geeigneten Sujets, damit wir – so sagt er – den Menschen zuhause zeigen können, wie es hier wirklich aussieht.

Wir fotografieren Mauerinschriften, kaputte Häuser und Kreuze, die am Strassenrand stehen und dem Gedenken an die Opfer des «Bloody Sunday» gewidmet sind. Eines der Kreuze, das von frischen Blumen geschmückt ist, erinnert an Colm Keenan und Eugene McGillan – zwei junge Burschen, die noch nicht einmal volljährig waren, als sie von den britischen Truppen erschossen wurden. Natürlich hatten auch sie bereits zur Provisional IRA gehört, aber welche jungen Männer aus der Bogside hatten sich der IRA damals nicht angeschlossen?

Während ich diese Zeilen schreibe, lese ich, dass zu Ehren der beiden Getöteten 50 Jahre danach eine Kundgebung in der Bogside durchgeführt wurde. Organisiert hat sie ein Bruder von Eugene McGillan – der wie viele andere Angehörige nach wie vor nicht vergessen hat, dass sein Bruder im Kampf für eine gerechte Sache getötet wurde.

Ein Mädchen, vielleicht in unserem Alter, ging vor dem Kreuz vorbei, hielt einen Augenblick inne, berührte die frischen Blumen, bekreuzigte sich und eilte dann weiter. Ich wollte sie fotografieren, liess die Kamera jedoch sinken. Wieder spürten wir, dass wir Aussenstehende waren und den Menschen in ihrer Trauer nicht beistehen konnten. «Wir haben so viel erlebt», gestand ich mir ein, «so viel mehr, als wir erwarteten. Es wird Zeit, Derry und überhaupt Nordirland zu verlassen.»

Wir verabschieden uns von den Eltern des Taxifahrers und schultern unsere Rucksäcke. «Am Ausgang von Creggan, das an die Bogside anschließt, stehen wir in der heissen Mittagssonne und hoffen auf ein Auto, das uns zur nahen Grenze mitnimmt. Plötzlich ertönen Schüsse. Keine Ahnung, wie nah sie sind und woher sie kommen. Dann ein Wagen, der an uns vorbeifahren will – der Mann am Steuer winkt nervös ab, als er uns sieht, dann aber hält er doch, um auch uns aus dem Gefahrenbereich wegzubringen. Wir rennen zum Auto und laden eilig unser Gepäck ein. Erneut fallen Schüsse, endlich fahren wir los. Eine langgezogene  Kurve – wir atmen auf.

Der gut gekleidete Herr am Steuer, ein Geschäftsmann, so scheint es, lacht erleichtert und sagt, er sei an einer Gruppe Jugendlicher vorbeigefahren, die wütend nach ihm geschossen hätten. «Wahrscheinlich fanden sie mein Auto zu neu», meint er, immer noch lachend. «Gott sei Dank waren es schlechte Schützen!» – Und dann passieren wir die Grenze nach Südirland.»

Wir hatten uns nur knappe vier Tage in Nordirland aufgehalten – doch allein in diesen vier Tagen wurden in der Provinz über 20 Menschen Opfer der «Troubles», wie man die Unruhen nannte. Und nur eine Woche später liess die IRA dem Ende der Waffenruhe die befürchteten Taten folgen. Am 21. Juli 1972, als sich die beiden vorwitzigen Schweizer längst im friedlichen Süden der Insel befanden, explodierten in der Belfaster Innenstadt 20 Bomben. Sie forderten zehn Tote und 130 Verletzte. Die Provisional IRA beharrte darauf, sie hätte die Bombenanschläge rechtzeitig angekündigt. Sie warf dem britischen Militär vor, die Warnungen zu spät weitergeleitet zu haben.

Mit ihrer mörderischen Bombenserie bewies die IRA ihre unveränderte Schlagkraft, doch erzürnte sie damit auch den katholischen Bevölkerungsteil. Die «No-Go-Areas» von Belfast und die Bogside von Derry wurden noch im gleichen Monat von den Besatzungstruppen zurückerobert, und viele Provos wurden verhaftet. Trotzdem setzte die Rebellenarmee ihren Kampf gegen die Unterdrückung der katholischen Minderheit und für ein vereintes Irland viele weitere Jahre fort. Erst mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 konnte der jahrzehntelange Konflikt durch Einbezug aller beteiligten Kräfte friedlich beendet werden.

Zurück ins Jahr 1972. Mein Reisebericht über Nordirland, der im August erschien, hätte nicht aktueller sein können. Fast täglich sorgten die «Troubles» in Ulster für neue Schlagzeilen. Doch der Mainstream, den es schon damals gab – wenn auch mit anderen Vorzeichen –, übernahm in der Regel die britische und damit protestantische Sicht der Ereignisse. Die Anliegen der Katholiken und ihr Widerstand stiessen in unseren Medien auf wenig Verständnis. In ihrem Vorspann zu meiner Partei ergreifende Reportage schrieb deshalb die Redaktion des Tages-Anzeigers, der Bericht sei «sehr persönlich gefärbt».

Darauf erhielt die Zeitung einige Tage später den folgenden Leserbrief: «Ich habe den Reisebericht mit Interesse gelesen. Der redaktionelle einleitende Kommentar zur Entschärfung der Reportage war jedoch fehl am Platz. Sie täten gut daran, ihre jeweilige Berichterstattung über Nordirland zu qualifizieren, wenn die Quelle – wie fast immer – britisch ist.»

Daniel S., ein ETH-Professor hatte die Zuschrift verfasst, und ich habe sie aufbehalten, weil sie mich damals natürlich freute. Dass ich mich dafür bedankte, glaube ich nicht – deshalb habe ich 50 Jahre danach beschlossen, dies nachzuholen. Ich fand heraus, dass der ETH-Professor noch lebt und eine Telefonnummer hat. Warum ich ihm telefonierte, konnte er natürlich nicht wissen. Mit Erstaunen vernahm er von mir, er habe vor 50 Jahren einen Leserbrief für den Tagesanzeiger verfasst. Ich las ihm die Zeilen vor - und er musste lachen. Seine Frau, erklärte er mir, mit der er schon damals zusammen war, sei eine Irin. Deshalb habe er seinerzeit auch die irische Sicht der Dinge gekannt. Das habe ihn dazu bewogen, dem Tages-Anzeiger zu schreiben.

Über meinen verspäteten Dank zeigte er sich erfreut, auch wenn ich mir ein halbes Jahrhundert Zeit dafür liess. Aber ich musste ihm noch etwas sagen. Daniel S. wohnt nämlich in Eglisau, in der Altstadt am Rhein. «Vor wenigen Wochen», erzählte ich ihm, «bin ich mit einem guten Freund zum erstenmal in meinem Leben durch die Eglisauer Altstadt gewandert. Als ich nun Ihre Adresse fand, da wurde mir klar: An Ihrem Haus bin ich vorbeigekommen! Aber ich ahnte nicht, wer darin wohnt.»

Der nette ältere Herr verriet mir, dass er schon demnächst wieder, zusammen mit seiner Irin, für eine Weile nach Irland aufbrechen werde. «Dasselbe werde in meiner Chronik auch ich tun», sagte ich ihm. «Auch ich reise in meiner nächsten Folge nach Irland. Elias und ich liessen Nordirland endgültig hinter uns – wir entdeckten den Süden.»

 

Die nächste Folge erscheint am Sonntag 14. Mai    

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

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