Auf Zeit nach Europa kommen

Zirkuläre Migration für junge Menschen aus dem Maghreb könnte das Kernstück einer neuen Migrationspolitik zum Nutzen dortiger Gesellschaften werden, findet Beat Stauffer.

«Je dois partir», sagt der 26-jährige Mohamed aus der südtunesischen Stadt Sfax. «Ich muss verreisen. Weg von hier. Nach Europa.» Sein Gesicht wird ernst, seine Züge verhärten sich. Mohamed ist überzeugt davon, dass er in Tunesien keine Chancen für ein besseres Leben hat. Seit er das Gymnasium kurz vor der Matur aufgrund familiärer Probleme verlassen hat, arbeitet er als Kellner. Mit den umgerechnet rund 250 Franken Monatslohn lassen sich keine grossen Sprünge machen. Wenn er den Geldbetrag zur Unterstützung seiner alleinstehenden Mutter, das Busabonnement sowie alle andern täglichen Ausgaben addiere, sagt Mohamed, dann bleibe am Ende des Monats praktisch nichts mehr übrig. Dazu kommt, dass unter solchen Umständen an eine Heirat kaum zu denken ist.


Sein Kollege Sofiane hat bereits zweimal versucht, als klandestiner Flüchtling nach Europa zu gelangen. Ein Aufstand in einem überfüllten Flüchtlingszentrum in Lampedusa, an dem sich Sofiane selber gar nicht beteiligte, hatte seine Rückschaffung zur Folge. Sofiane gab nicht auf, legte wieder Geld zur Seite, um einen Schlepper zu bezahlen, brach ein Jahr später erneut auf. Dieses Mal wurde das Boot kurz vor der Küste von Lampedusa von der italienischen Küstenwache aufgegriffen. Doch ein paar Stunden später standen plötzlich tunesische Polizisten an Bord, und alle Emigranten wurden zurückgeführt.


Mohamed und Sofiane: Zwei junge Männer, die zwar bei der Vertreibung des ehemaligen Autokraten auf die Barrikaden gegangen sind, die aber heute nicht mehr an die Revolution glauben. Ihr Leben ist seither deutlich schwieriger geworden, und die politischen Errungenschaften der vergangenen Jahre lassen sie kalt. Beide schlagen sich mit schlecht bezahlten Jobs und mit kleinen Mischlereien durchs Leben.


Flächendeckende Malaise im ganzen Maghreb
Mohamed und Sofiane sind keine Einzelfälle; unzählige junge Männer im ganzen Maghreb träumen davon, nach Europa zu emigrieren. In Tunesien sind nach offiziellen Angaben rund 800'000 Menschen arbeitslos. Über hunderttausend von ihnen verfügen über einen Universitätsabschluss oder ein Diplom einer höheren Fachschule. Deutlich mehr als eine Million junger Tunesier haben zwar Jobs, doch diese sind schlecht bezahlt oder nicht ganzjährig. All diese Menschen erleben ihre Lebensverhältnisse als prekär und hoffnungslos. Ihre Frustration ist mit Händen zu greifen.


In den anderen Maghrebstaaten ist die Lage nur unwesentlich besser. Zwar verfügte Algerien, zumindest bis vor kurzem, noch über riesige Einnahmen aus dem Erdölexport und konnte seine unzufriedene Jugend mit Geldgeschenken ruhigstellen. Dennoch erleben viele junge Algerier ihre Situation als blockiert und ohne Perspektiven, weil ihnen das Regime keine echten Chancen einer politischen Beteiligung gibt. Eine Änderung der Verhältnisse ist zudem nicht in Sicht.


Auch in Marokko ist die Lage für junge Menschen schwierig. Die Stimmung im Land ist zwar etwas besser als in Algerien. Doch auch hier gelangen Jahr für Jahr mehrere hunderttausend junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Die dafür nötigen Stellen fehlen allerdings, und so landen auch gut ausgebildete Menschen in der Erwerbslosigkeit.


All diesen Millionen junger Menschen am Südufer des Mittelmeers fehlt zudem die Reisefreiheit. Aufgrund der geltenden Visabestimmungen ist es ihnen kaum möglich, den Maghreb zu verlassen. Reguläre Arbeitsbewilligungen für Europa gibt es nicht, Visa für Studienzwecke nur für Hochbegabte sowie für Jugendliche aus der Oberschicht, die sich etwa eine Tourismus- oder eine Managementschule in der Schweiz leisten können. Wer nicht über eine doppelte Staatsbürgerschaft verfügt oder via Heirat mit einer Europäerin in den Westen emigrieren kann, hat deshalb praktisch keine Chancen, je seinen Fuss auf europäischen Boden zu setzen. Eine gewisse Chance haben nur diejenigen, welche den Weg der klandestinen Emigration wählen, in Europa irgendwo untertauchen oder sich als Bürger eines Landes ausgeben, das keine Rückschaffungen zulässt. In den meisten Fällen endet diese «Reise» für die Betroffenen aber auf der Gasse oder gar in der Kriminalität.


Die sehr hohe Erwerbslosigkeit, der Mangel an Perspektiven sowie eine tief sitzende Frustration unter Millionen junger Menschen im Maghreb stellt eine Zeitbombe für diese Länder dar. Doch auch Europa ist dadurch mittelfristig gefährdet, denn der Migrationsdruck ist schon jetzt sehr hoch. Zwar sind die Maghrebstaaten für diese Zustände - etwa den Niedergang des öffentlichen Bildungswesens – weitgehend selber verantwortlich. Doch Europa sollte schon im eigenen Interesse mithelfen, Lösungen zu finden, um die Situation zu entschärfen. Dabei könnten Projekte im Bildungswesen und vor allem im Bereich der Berufsbildung sehr viel bewirken. Im Falle Tunesiens ist die Schweiz in diesem Bereich auch bereits aktiv.


Studium mit Rückkehrer
Wichtig wäre aber auch, dass junge Menschen aus dem Maghreb, aber auch aus Sahelstaaten und dem Nahen Osten, eine reelle Chance hätten, in einem europäischen Land zu studieren, ein Stage oder eine Weiterbildung zu absolvieren. Aufgrund der hohen Zahl potenzieller Kandidaten kommen in diesem Zusammenhang eigentlich nur Modelle in Frage, bei denen die Betreffenden nach dem Studium und einer gewissen Zeitspanne wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren müssen. Denn nur so ist gewährleistet, dass ihr Studien- oder Praktikumsplatz dann wieder frei wird, damit ein anderer junger Mensch davon profitieren kann. Gleichzeitig wäre auf solche Weise garantiert, dass das in Europa erworbene Wissen den betroffenen Ländern wirklich zugute kommt. Solche Ausbildungsprogramme sollten auf der Ebene von Universitäten und Fachhochschulen und auch in der Berufsbildung möglich sein. Gerade hier hätte die Schweiz sehr viel Fachwissen anzubieten.


Denkbar, aber politisch weitaus heikler, ist auch die Gewährung einer gewissen Quote von Arbeitsbewilligungen für junge Menschen aus diesen Ländern. Da der Wunsch, für eine gewisse Zeit in Europa arbeiten zu können, enorm hoch ist, müsste dabei wohl eine Auswahl nach dem Zufallsprinzip – eine Art Lotterie – durchgeführt werden.


Dieses Konzept wird im Fachjargon als «zirkuläre» Migration bezeichnet. Es will der Erfahrung Rechnung tragen, dass seit den 1960er Jahren allein aus dem Maghreb mehrere hunderttausend junge Menschen für ein Studium nach Europa gereist, nach Abschluss ihres Studiums aber nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind. Auf solche Weise ist ein grosses Potenzial für diese Länder verloren gegangen.


Soll diese «zirkuläre» Migration wirklich funktionieren, so müsste der Kandidat oder die Kandidatin einen Vertrag mit dem Aufnahmeland unterschreiben, und die Behörden seines Herkunftslandes müssten Sanktionen in Aussicht stellen, wenn die betreffende Person nach Ablauf der vereinbarten Frist nicht zurückreisen würde. Im Gegenzug erhielten diese besonderen Migranten eine Ausbildung finanziert und anschliessend die Möglichkeit, eine gewisse Zeit lang in Europa Geld verdienen zu können. Auf solche Weise, so die Idee, könnten tausende junger Menschen aus diesen Staaten in der Schweiz eine Ausbildung absolvieren und Erfahrungen sammeln. Das würde zwar einiges kosten, wäre aber im Gegensatz zu langwierigen Asylverfahren gut angelegtes Geld.  


Zweifel an freiwilliger Rückreise
Funktioniert dieses Modell zirkulärer Migration aber in der Praxis? Werden die Betreffenden nach Ablauf der Frist freiwillig zurückkehren? Oder werden sie vielmehr untertauchen und versuchen, via Heirat einen dauerhaften Aufenthalt in der Schweiz beziehungsweise in Europa zu erlangen? Manche Kenner der Verhältnisse im Maghreb befürchten dies. Zu stark, so meinen sie, seien viele junge Menschen von der Idee besessen, dass es für sie nur in Europa eine Zukunft gibt.

Auch die offizielle Schweiz begegnet dem Modell der zirkulären Migration bis anhin mit viel Skepsis. Der Bundesrat beantragte im Februar 2014 die Ablehnung eines parlamentarischen Vorstosses (Motion) von Nationalrat Geri Müller, der anregte, in einem Pilotprojekt ein Arbeitsvisum für zirkuläre Migration zu testen. Die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (DEZA) lässt auf Nachfrage wissen, dass seitens der DEZA keine offizielle Position zum Konzept der zirkulären Migration bestehe. Der DEZA-Sprecher weist auch darauf hin, dass in der Fachwelt offenbar auch keine fixe und verbindliche Definition dieses Konzepts existiere.


Der aus Marokko stammende Jurist und Mediator Kader Tizeroual kann der Idee der zirkulären Migration einiges abgewinnen. Er weist aber darauf hin, dass sie längerfristig nur funktionieren kann, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Herkunftsländern verbessern. Denn wenn diese jungen Menschen nach ihrer Rückkehr keine passende und korrekt bezahlte Arbeit finden, so Tizeroual, würden sie alles daran setzen, in Europa zu bleiben.


Wahrscheinlich kann erst ein grösserer Versuch darüber Klarheit verschaffen, ob zirkuläre Migration wirklich funktioniert. Denn so wichtig es ist, vor allem Projekte vor Ort zu unterstützen, so dringlich ist es auch, zumindest kleine «Fenster» in Richtung Europa zu öffnen. Abschottung allein kann keine zukunftsträchtige Strategie sein.


Denn die Maghrebstaaten sind unsere nächsten Nachbarn im Süden, und aufgrund der Kolonialgeschichte haben sie seit mehr als hundert Jahren Kontakt mit Europa. Viele Maghrebiner schauen auch immer noch mit einer gewissen Bewunderung in Richtung Norden, auch wenn das Image in den letzten Jahren deutlich gelitten hat. Und nicht zuletzt kann Europa den Zustrom von Migranten aus afrikanischen Ländern nur mithilfe der Maghrebstaaten einigermassen kontrollieren. Gründe genug, um mit diesen Ländern eine faire und partnerschaftliche Migrationspolitik zu entwickeln.


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Beat Stauffer ist Journalist und Maghreb- Korespondent
für verschiedene Medien.


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26. November 2015
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