Aufwachen hinter dem Hadrianswall – wie wir in London Autostopp machten und am nächsten Morgen in Schottland erwachten

Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #21

Die schottischen Highlands / © Nicolas Lindt

Die gute Note in der Physik blieb keine Eintagsfliege. Ich verbesserte mich in allen Fächern, ohne auf meine «heimlichen Hauptbeschäftigungen« verzichten zu müssen – und so konnten mich die Eltern nicht daran hindern, meinen Schottland-Trip mit Elias während der Sommerferien in die Tat umzusetzen.

Die erste Etappe bis London legten wir mit dem Flugzeug zurück. Dank der Anstellung meines Vaters bei der Swissair kostete mich der Flug so gut wie fast gar nichts. Freigebliebene Plätze konnten schon damals vom Personal genutzt werden, so dass arbeiten bei der Swissair als sehr attraktiv galt – denn Fliegen war damals noch ein Privileg der begüterten Schichten. Den vollen Preis für das zweite Ticket teilten sich Elias und ich.

Wir genossen den Flug und den exklusiven Service an Bord, für den die Swissair berühmt war. Wir genossen ihn deshalb, weil wir im Unterschied zu den anderen Jugendlichen an Bord ohne Eltern reisten – und weil wir die Reise per Autostopp fortsetzen wollten. Wir fühlten uns echt besonders. Die England-Ferien mit meinen Eltern im vorigen Jahr lagen weit hinter mir. Das hatte ich nicht mehr nötig.   

Die Besichtigung der englischen Hauptstadt – die ich schon kannte – sparten wir uns für den Rückweg auf. Wir brannten darauf, unterwegs zu sein, zu entdecken, und ausserdem hatte ich vor, über unser Abenteuer zu schreiben. Meine Musikkolumne war dafür nicht geeignet – und der neue Redaktor, der die Kolumne betreute, traute mir keinen Reisebericht über Schottland zu. Ich spürte, er fand mich zu jung dafür, und heute verstehe ich ihn. Gleichzeitig aber siezte er mich, als wäre ich schon ein Erwachsener. Das empfand ich als unangenehm. Erwachsen wollte ich noch nicht sein. Die Jugend war für mich noch immer ein Schutzschild.

An der Idee des Reiseberichts jedoch hielt ich fest. Ich unterbreitete sie der «Zürichsee-Zeitung», die wöchentlich eine Jugendseite enthielt. Und die Zeitung am See, an welchem ich wohnte, war interessiert.

Doch die Reise wollte zuerst mal erlebt sein. Ich stand mit Elias am Stadtrand von London und streckte den Autos den Daumen entgegen. Zu jener Zeit war es noch möglich, sich an Autobahnauffahrten hinzustellen, und das taten wir, mutig, erlebnishungrig und aufgeregt. Wir machten das erste Mal Autostopp in einem anderen Land, doch wir lernten schnell. Die Regeln waren dieselben wie überall. Wer als Letzter kam, durfte sich nicht vor die anderen stellen. Mehrere Gleichgesinnte standen schon vor uns da, und sie alle wollten wie wir Richtung Norden. Die einen streckten ein Kartonschild in die Strasse hinaus, die anderen nur den Daumen; die einen waren wie wir als trampende Hippies erkennbar – mit langen Haaren und Fransenlook –, die anderen, eher brav angezogen, wollten nur aus der City nach Hause und sich das Geld für das Bahnticket sparen. 

Hin und wieder und stets zu zweit tauchten Mädchen auf, die sich zwar korrekt hinter uns stellten, aber trotzdem nicht lange warten mussten. Ihr Risiko, männlichen Bösewichten ins Messer zu laufen, war sicher grösser. Doch damals galt noch nicht jeder Autofahrer, der Mädchen mitnahm, als möglicher Unhold. Autostoppende junge Frauen wären sonst selten gewesen. An jenem Tag am Londoner Stadtrand waren sie gar nicht selten. Ein Auto nach dem anderen kaperten sie für sich – während wir von neuem das Nachsehen hatten.

Dann, irgendwann, war auch uns das Glück hold. In meinem Reisebericht nach unserer Rückkehr erzählte ich: «Es war schon Abend und die Sonne ging unter, als wir uns ausserhalb des Städtchens Newark-on-trent am Rande der Landstrasse nach einem geeigneten Zeltplatz umsahen. Mehr zum Zeitvertreib streckte ich noch einmal den Arm hinaus. Ich tat es, obwohl wir mit unserer Tagesleistung zufrieden sein konnten: Mittags um 12 Uhr noch an Londons Ausfallstrasse in Richtung Norden, und jetzt schon 200 km von Englands Metropole entfernt. Da stoppte ein blauer VW neben uns, und der Fahrer anerbot sich, uns mitzunehmen. Als er uns sagte, wohin er fuhr, konnten wir es kaum glauben. Er war ein Englischlehrer aus Edinburgh – und Edinburgh bedeutete Schottland.»

Wie alle heimatverwöhnten Jugendlichen zog es mich in die Welt hinaus. Ich suchte das Abenteuer nicht in der Schweiz, sondern in einem Land, das wie Schottland war. In der Schweiz gab es keine verwunschenen Burgen und Schlösser, keine vom Nebel verhüllten Moore und keine stürmische See. Die Schweiz bedeutete Eltern, Schule, Hausaufgaben und eine Kindheit, die hinter mir lag.

Um so überraschter war ich, als uns der sehr gesprächige Schotte verriet, er habe uns mitgenommen, weil er das Schweizerkreuz am Rucksack von Elias gesehen habe. Der Lehrer aus Edinburgh sollte nicht der einzige bleiben. Noch viele Male auf unserer Reise verhalf uns das Schweizerfähnchen zu einer Mitfahrgelegenheit. Oft nahmen uns Leute nur deshalb mit, um von unserem «lovely country» zu schwärmen, das sie selber schon als Touristen bereist hatten.

Als uns klar wurde, welche Vorteile uns die Schweizerflagge bescherte, stellten wir den Rucksack jedes Mal demonstrativ so hin, dass das Rot und Weiss schon von weitem zu sehen war. Ohne uns dessen bewusst zu sein, taten wir es auch deshalb, weil wir im Grunde gern als Schweizer erkannt werden wollten. Die Reaktionen der Engländer zeigten uns, dass unsere Heimat ein Land war, auf das man stolz sein konnte. Die Strahlungskraft der Schweizer Flagge im Ausland, wie ich sie in England zum ersten Mal spürte, sollte mir später noch oft begegnen. Und bei aller Kritik an der Schweiz empfand ich jedes Mal wieder dasselbe: diesen schlichten, unbeirrbaren Stolz auf das rotweisse Kreuz. 

Doch weiter in meinem Reisebericht: «Um vier Uhr morgens erreichten wir Newcastle an der Grenze zu Schottland. Während der ganzen Fahrt durch Mittel- und Nordengland hatte der Englischlehrer alles über unser Schulsystem wissen wollen und überhaupt nicht auf den Verkehr geachtet. Er brauchte immer beide Spuren der Strasse, und wir konnten von Glück reden, dass uns so spät in der Nacht niemand entgegenkam. Jetzt war er endlich müde. Wir hielten ausserhalb des ersten schottischen Dorfes an, und während es sich unser Fahrer in seinem VW bequem machte, schlugen wir unser Zelt auf und schliefen in der Morgendämmerung ein.»

«Mein erster Eindruck von Schottland, als ich einige Stunden später erwachte,  war vielleicht mein schönster: Wir befanden uns in einer hügeligen, herben Landschaft; eine imposante Wolkenszenerie liess nur manchmal einzelne Sonnenstrahlen hindurch. Überall waren die taufeuchten Wiesen von blökenden Schafen beweidet. Hecken und dicht belaubte Bäume kennzeichneten den Verlauf eines Baches und begrenzten die Wiesen; in der Ferne vereinzelte Bauerngehöfte. Ein leiser Regen setzte ein, während wir unser Zelt zusammenpackten, aber schon wenige Minuten später schien die Sonne wieder. Ein frischer Wind wehte. Wir fuhren durch das weite schottische Land; irgendwo zwischen diesen kahlen Hügeln musste der beinahe zweitausend Jahre alte Hadrianswall verlaufen, der heute noch die ungefähre Grenze Schottlands zu England bildet. Zur Zeit des Römischen Reiches besagte er soviel wie: Hier hört die Zivilisation auf.»

Mein Erwachen in Schottland an jenem Morgen war ein Aufgehen der Augen im doppelten Sinn. Wie nie zuvor in meinem jungen Leben sah ich die Landschaft. Ich schaute sie an und nahm ihre Einzelheiten so klar in mich auf, dass sie sich Wochen danach, beim Verfassen meines Berichts, sogleich wieder vor mir auftat. Es war meine erste Landschaftsbeschreibung.

In Edinburgh angekommen, lud uns der Englischlehrer bei sich zu Hause zum Essen ein. Er wohnte mit seiner Familie in einem gehobenen Aussenquartier, das aus Häuschen bestand, die sich kaum voneinander unterschieden: «Die gleichen Farben, die gleichen Fenster, die gleichen gepflegten Gärtchen, die gleichen Garagen und die gleichen Briefkästen vor den Eingängen», schilderte ich das biedere Bild. Es war die englische Reihenhausidylle in Reinkultur. Ich konnte absolut nicht verstehen, wie ein akademisch gebildeter Englischprofessor einen so «bürgerlich-braven» Lebensstil haben konnte.

Was ich aber am unbegreiflichsten fand, war das Kaminfeuer, wie ich es in England schon etliche Male gesehen hatte. Obwohl wir uns mitten im Sommer befanden, flackerte ein Feuerchen im Kamin und konnte mit Flackern nicht aufhören. Es war eine Holzattrappe aus Plastik, deren «Feuer» mit dazugehöriger «Rauchentwicklung» von einer roten Glühbirne stammte. Beides, das spiessige Reihenhaus ebenso wie das kitschige Feuer, ärgerten mich. Das war nicht das Bild, das ich von Schottland bekommen wollte.

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Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

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