«Besonders Männer, die suizidal sind, sind gefährdet»
Ein zwanzig Jahre altes Gespräch mit Dr. med. Ellen Naef über Suizide mit Feuerwaffen - heute wieder sehr aktuell.
Abgabe der Waffen an der Schweizer Grenze
Abgabe der Waffen an der Schweizer Grenze

Wie die Neue Zürcher Zeitung am 2. September 2025 schrieb, unterstützt der Schweizer Bundesrat die Forderung der Linken, ehemalige Soldaten sollen ihre Pis­tolen und Gewehre zurückgeben, wenn die Inhaber sie über ein Jahrzehnt lang nicht im Schiesssport verwendet haben.

Auslöser zu dieser Forderung ist eine Studie, die im Februar vom Eidgenössischen Büro für Gleichstellung von Frau und Mann veröffentlicht wurde. Sie kommt zu einem beunruhigenden Befund: Bei Tötungsdelikten im häuslichen Bereich seien die meis­ten Täter ältere Schweizer Männer, die ihre Frauen und anschliessend sich selbst erschossen hätten. Oft bleibt unklar, woher die Tatwaffe stammt. Wo die Herkunft habe identifiziert werden können, seien mehrheitlich Armeewaffen eingesetzt worden.

«Est ist nicht die Aufgabe der Armee, Schweizer Männern die Tatwaffen für häusliche Tötungsdelikte zu überlassen,» schrieb die sozialdemokratische Nationalrätin Priska Seiler-Graf in ihrem Vorstoss im Parlament (in «Ex-Soldaten sollen Waffen zurückgeben» von Selina Berner, Neue Zürcher Zeitung, 2. September 2025).

In der Schweiz wäre ein noch schärferes Waffenrecht auch am Platz als nur die For­derung, dass ehemalige Soldaten ihre Pistolen und Gewehre zurückgeben sollen, wenn die Inhaber sie über ein Jahrzehnt lang nicht im Schiesssport verwendet haben. Das zeigen nicht nur die oben erwähnten Tötungsdelikten im häuslichen Bereich.

Durch ein restriktiveres Waffenrecht könnten auch Suizide mit Schusswaffen verhindert werden, sagte mir bereits 2003 Dr. med. Ellen Naef, Ärztin und Psychotherapeutin, die in ihrem Beruf mit Suizidfällen mittels Schusswaffen konfrontiert war.

Besonders Männer, die suizidal sind, sind sehr gefährdet, wenn sie direkten Zugriff auf eine Pistole oder ein Gewehr haben. Wäre eine Pistole oder ein Gewehr nicht in Reichweite gewesen hätten sie höchstwahrscheinlich überlebt.

Am 23. November 2003 interviewte ich Dr. med. Ellen Naef.

Was meinst du zu den 1,5 Millionen Feuerwaffen, die in Schweizer Haushalten lagern und dem Waffengesetz, das ein grundsätzliches Recht auf Waffenbesitz, Waffen zu tragen und ein Recht Waffen zu erwerben, postuliert?

Dr. med. Ellen Naef: Ich finde das eine Katastrophe. Immer wieder bin ich in mei­nem Beruf mit Suiziden durch Pistolen konfrontiert worden. Diese Männer mussten die Pistole zu Hause haben und hatten so sehr schnellen Zugriff auf eine Waffe.

Wahrscheinlich wäre nichts passiert und hätten sie ihre Stimmungsschwankungen überlebt. Ein Klient, ein Offizier, hat mir erzählt, dass er Vorsichtsmassnahmen getroffen hat: Er fühlte sich gefährdet und wusste, dass er womöglich in einen Zustand kommt, wo es sich etwas antun könnte. Er hat die Pistole im Estrich in einem Schrank mit zwei verschiedenen Schlössern eingesperrt. Die Munition hat er anderswo im Haus versorgt. Einen Schlüssel hat er im Keller gehabt und den ande­ren irgendwo in der Wohnung, so dass er suchen und die Treppe erst mehrmals hinab und hinauf laufen muss. Er hat gehofft, dass, wenn er in einem Zustand kommt, das ihm das hilft, wieder zur Besinnung zu kommen. Für ihn wäre es besser gewesen, wenn er die Pistole nicht zu Hause hätte haben müssen.

Bundesrat Schmid meinte nach dem Attentat auf das Zuger Parlament, das 14 Todesopfer forderte, das Gewehr zu Hause sei keine Gefahr für unsere Gesell­schaft, es gehöre zu der Tradition unsere Milizarmee.

Dr. med. Ellen Naef: Also ich verstehe nicht ganz, wie man eine solche Aussage machen kann. Auch wenn sehr häufig glücklicherweise nichts passiert, sind doch Waffen zu Hause eine nicht zu unterschätzende Gefahr.

Einmal habe ich einen Studenten erlebt, der eine Pistole kaufen wollte. Er hatte die Absicht, sich etwas anzutun. Er hatte schon einmal einen Versuch gemacht, aber die Bewilligung wurde ihm glücklicherweise nicht erteilt, diese Waffe anzuschaffen. Er hatte nur ein Gewehr zuhause und er schreckte davor zurück, mit dem Gewehr ein Suizidversuch zu machen. Aber mit dem Gewehr kann man sehr gut auf andere Leute schiessen.

Martin Killias ein Professor für Strafrecht der Universität Lausanne hat in Untersuchungen festgestellt, dass es unter psychisch gestörten oder zerstör­ten Menschen eindeutig sehr viele Waffenbesitzer gibt. Waffen üben auf gefähr­dete Menschen offensichtlich eine grosse Faszination aus. Was hast du in die­ser Hinsicht für Erfahrungen gemacht?

Dr. med. Ellen Naef: Ich habe das Beispiel von einem jungen Mann erlebt, der als Kind schwer misshandelt wurde. Er war schon mit sieben Jahren ein Waffennarr. Er hat geschwärmt für Waffen. Dann hat er glücklicherweise kürzlich seine Pistole sei­nem Freund zur Aufbewahrung gegeben. Er hatte dauernd Schlägereien und wurde deswegen schon verurteilt. Ich kann die Aussagen von Killias nur unterstützen. Wenn das Schwächegefühl so gross ist, ist es fantastisch sich so zu fühlen wie ein Cowboy.

Dann wärst du auch dafür, dass Armeewaffen kaserniert werden, also, dass Soldaten ihre Waffen nicht nach Hause nehmen müssten?

Dr. med. Ellen Naef: Ich wäre auf alle Fälle dafür. Viele Menschen sind heutzutage in einem schlechten seelischen Zustand. Ich habe es sehr oft mit Leuten zu tun, die ihre Arbeit verloren haben, oder sich am Arbeitsplatz ungerecht behandelt fühlen. Manche Menschen kommen dann in einen verzweifelten Zustand und es kann even­tuell ein grosses Unglück passieren.

Auf der anderen Seite hast du auch gesagt, es passiert eigentlich wenig im Verhältnis zu den 1,5 Millionen Waffen, die vorhanden sind.

Dr. med. Ellen Naef: Das stimmt, wenn ich Menschen sehe und erlebe, in welchem Zustand sie sind, denke ich, es braucht schon eine Verkettung unglückseliger Umstände und einen seelischen Zusammenbruch, dass einer wirklich etwas Schlim­mes macht. Der Mensch ist grundsätzlich unglaublich sozial. Aber die Waffen zu Hause sind eine unnötige Gefährdung.

Die Zahlen in der Schweiz sprechen dafür. In der Schweiz sind sehr viele Waf­fen frei verfügbar, mehr als in anderen Ländern, und es hat auch entsprechend viele Todesfälle mit Schusswaffen, hauptsächlich Suizide. Experten sehen da einen Zusammenhang.

Dr. med. Ellen Naef: Ja, bei Schusswaffen ist man oft absolut machtlos. Viele Sui­zide könnten eigentlich verhindert werden. Wenn Menschen in das psychotherapeuti­sche Gespräch kommen und man mit ihnen arbeitet, können sie sich beruhigen und Boden gewinnen. Dann passiert nichts. Aber mit einer Schusswaffe geht es einfach zu schnell, wenn ein Mensch in den Affekt kommt. Gewöhnlich flaut ein akuter Anfall nach einer Stunde schon wieder ab und er kann wieder klarer denken.

Man sollte Menschen nicht mit Waffenbesitz belasten. Ich habe auch einen Klienten gehabt, den ich mit der Zeit beruhigen konnte. Er war auch jemand der sich bei der Arbeit und auch von Versicherungen ungerecht behandelt fühlte. Er war ein sehr guter Schütze und Jäger. Ein Arztkollege hat ihn mir geschickt, damit ich ihn untersu­che. Glücklicherweise ist nichts passiert. Der hätte wirklich gut getroffen, ohne weite­res. Er hatte genügend Waffen zu Hause.

Soweit das Interview mit Dr. med. Ellen Naef vom 23. November 2003 das immer noch aktuell ist.


Massnahmen anderer Länder zur Verschär­fung des Waffenrechtes:

Australien verschärfte seine Waffengesetze nach einem Massaker an der Uni Mel­bourne im Jahr 2002. Die Zahl von Morden und Suiziden durch Schusswaffen hal­bierte sich in der Folge.

Deutschland setzte nach dem Massaker an einem Gymnasium in Erfurt, im Mai 2002, eine Meldepflicht für Schusswaffen ein. Das Register umfasst auch Softair-Guns sowie Schreckschusspistolen.

Frankreich erliess nach dem Anschlag auf das Parlament in Nanterrre (Dezember 2001) umgehend strengere Gesetze zur Kontrolle des privaten Waffenbesitzes.

Finnland: Viele Schusswaffen und auch viele Todesfälle durch Feuerwaffen

Unto Vesa, vom Tampere Peace Research Institute schrieb mir: «Wie aus Statistiken die im «Small Army Report 2001» publiziert wurden, gibt es einen deutlichen Zusam­menhang zwischen der Anzahl von Schusswaffen in einem Land und der Anzahl von Todesfällen durch Feuerwaffen.

Die hohe Zahl von frei verfügbaren Schusswaffen korreliert auch in Finnland mit aus­sergewöhnlich vielen Schusswaffentoten, verursacht hauptsächlich von betrunkenen Männern. Eine Kampagne zur Ablieferung von illegalen Schusswaffen, ohne straf­rechtliche Konsequenzen für die Besitzer, führte zu Abgabe von 40-60’000 Waffen. Extremfall USA: 21’000 Amerikaner erschiessen sich pro Jahr gegenseitig.»

Heinrich Frei

Heinrich Frei
Heinrich Frei

Ich bin in der Schweiz, in Biel im Kanton Bern aufgewachsen und habe dort eine Lehre als Hochbauzeichner absolviert. Anschliessend arbeitete ich in Grenchen bei einem Architekten als Zeichner und Bauführer. Vom Herbst 1961 an war ich in verschiedenen Architektenbüros in Zürich tätig und ab 1987 Projektleiter für Hochbauten bei den Schweizerischen Bundesbahnen. Von 1961 bis 1966 studierte ich am Abend Technikum Zürich und schloss mit dem Diplom Architekt HTL ab.

Seit 2003 bin ich pensioniert. In der Freizeit bin ich bei Friedensorganisationen engagiert und seit über 20 Jahren bei Hilfswerken, die in Somalia tätig sind. Heute bin ich im Vorstand der Organisation . Zudem verfasse ich Texte zu den verschiedensten Themen. Meine Texte erscheinen unter anderem auf dem Blog ifor-mir.ch

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