Der Bundesrat hat die geltende Rechts- und Verfassungsordnung verlassen

«Die Bundesversammlung muss ihre Kompetenzen wahrnehmen und kann sich nicht einfach fluchtartig zurückziehen», sagt der Staatsrechtler Prof. Andreas Kley von der Universität Zürich in einem Gespräch mit Thomas Kaiser von «Zeitgeschehen im Fokus».

Prof. Andreas Kley an einer Tagung über direkte Demokratie an der Universität Bern 2013 (Foto: youtube)

Zeitgeschehen im Fokus: Der Bundesrat hat am 13. März, gestützt auf das «Notrecht», den Lockdown verfügt. Inwiefern war das verfassungskonform?

Professor Dr. Andreas Kley: Der Art. 7 des Epidemiengesetzes erlaubt alle epidemieverhindernden Massnahmen, die nötig sind:
«Art. 7 Ausserordentliche Lage
Wenn es eine ausserordentliche Lage erfordert, kann der Bundesrat für das ganze Land oder für einzelne Landesteile die notwendigen Massnahmen anordnen.»
Der Lockdown hat sich darauf abgestützt und war insofern gesetzes- und verfassungskonform.

Der Bundesrat hatte aber noch viele weitere Massnahmen getroffen: Worauf stützten sich diese ab?

Die zahlreichen weiteren Massnahmen wie die Abfederung der Lockdown-Massnahmen, die Verschiebung der Volksabstimmung inklusive den Fristenstillstand bei den politischen Rechten, die Regelungen der gymnasialen Prüfungen, der Fristenstillstand im Gerichtswesen etc. stützten sich auf andere Rechtsgrundlagen, weil sie keinen direkten Zusammenhang mit dem Corona-Virus haben. Es sind dies die Vollzugskompetenz des Bundesrates und die im Publikum als «Notrecht» bezeichnete Kompetenz des Art. 185 Abs. 3 Bundesverfassung.

Was verbirgt sich dahinter?

Juristisch gesehen ist es keine Notrechtskompetenz, sondern ein von der Verfassung vorgesehenes Instrument, um innerhalb von Verfassung und Gesetz bei dringenden Fällen und zum Schutz der Polizeigüter (Ruhe, Ordnung, Gesundheit usw.) gesetzliche Lücken zu stopfen. Der Bundesrat kann an Stelle der Bundesversammlung Recht setzen, um dringende Probleme zu lösen. Er darf aber nicht die Verfassung verletzen oder die Bundesgesetze abändern.

Welche Gesetzesänderungen hat der Bundesrat im «Windschatten» des «Notrechts» vorgenommen?

Der Bundesrat hat, gestützt auf Art. 185 Abs. 3 BV, die Verfassung wie auch zahlreiche Bundesgesetze abgeändert. Namentlich in den Sozialversicherungsgesetzen sind die Ansprüche massiv und gesetzwidrig ausgebaut worden. Bei den politischen Rechten wurden die von der Verfassung vorgesehenen Fristen abgeändert und so weiter und so fort. Der Bundesrat handelte mit mutmasslicher politischer Zustimmung der Bundesversammlung, und insofern sind diese Handlungen politisch gedeckt.

Welche Rolle hätte das Parlament in dieser Situation einnehmen müssen?

Das Parlament hätte seine Session nicht abbrechen dürfen bzw. nur auf einen eigenen Beschluss hin, und nicht als Entscheid des Präsidiums. Anschliessend hätte es für das weitere Vorgehen die nötigen Pflöcke einschlagen müssen. Es hätte z. B. gleich schon Kredite beschliessen können und ein dringliches Bundesgesetz erlassen können, das die Verfassung und die Gesetze abändert bzw. eine derartige Ermächtigung dem Bundesrat überträgt.
Eine andere Möglichkeit hätte darin bestanden, dass die Bundesversammlung wie der deutsche Bundestag oder das englische Unterhaus mit reduzierter Besetzung normal weiterarbeitet und den Bundesrat anleitet.

In den Medien wurde häufig die heutige Situation mit der Lage während des Zweiten Weltkriegs verglichen. Ist das zulässig unter dem Aspekt der Verfassungskonformität?

Dieser Vergleich stimmt nicht: Heute hat der Bundesrat, gestützt auf ein nicht bestehendes angebliches «Notrecht» des Art. 185 BV, verfassungs- und gesetzwidrige Massnahmen getroffen. Es wird also sozusagen mit «fiktivem» Notrecht operiert. In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck, es sei alles rechtens, was hier abläuft. Denn es werden ja Verfassungs- und Gesetzesartikel angeführt, und den Nichtjuristen erklären sich diese Normen nicht einfach von selbst. Alles erscheint rechtlich «abgestützt».

Kann man also sagen, dass hier Dinge ohne rechtliche Grundlage entschieden wurden?

Ein Teil der getroffenen Massnahmen kann sich in unserer Rechtsordnung auf keine Grundlage abstützen. Sie erfolgten rechtswidrig.

Ja, für diese Handlungen gibt es im geltenden Recht keine Grundlage. Das Parlament hat nichts unternommen und politisch dem Bundesrat zu verstehen gegeben, dass er handeln solle. Rechtlich besteht dafür aber keine Grundlage, die Bundesversammlung muss ihre Kompetenzen wahrnehmen und kann sich nicht einfach fluchtartig zurückziehen. Ein Teil der getroffenen Massnahmen kann sich in unserer Rechtsordnung auf keine Grundlage abstützen. Sie erfolgten rechtswidrig, wobei eben das Parlament das politisch veranlasst hat und damit auch einverstanden war, wie der Applaus im Ständerat am 5. Mai 2020 gezeigt hat. Das «Notrecht» bildet deshalb keine Grundlage, weil es nicht existiert und in der Bundesverfassung nicht vorgesehen ist.

Wie kann man erklären, dass der «Verfassungsbruch» so schlank über die Bühne ging?

Wie bereits erwähnt: Er ist politisch voll gedeckt, weil die Bundesversammlung überstürzt aus dem Parlamentsgebäude und aus ihrer Verantwortung geflohen ist. Dem Bundesrat hatte sie die Verantwortung gewollt zugewiesen, und er hat die politische (nicht die rechtliche) Verantwortung übernommen und Massnahmen getroffen. Das Parlament hat also sozusagen auf die Ausübung der ihm zustehenden Kompetenz freiwillig, aber bloss informell verzichtet.

Was versteht man in diesem Zusammenhang unter «informell»?

Es ist nicht aufgrund eines Gesetzes geschehen, sondern die beiden Kammern haben dem Bundesrat politisch signalisiert, dass er jetzt entscheiden muss, dass man ihm das Feld überlässt.

Inwiefern hat sich der Bundesrat mit dem Verfassungsbruch strafbar gemacht?

Die Regierung verliess mit politischer Billigung des Parlaments die geltende Rechts- und Verfassungsordnung. Der Bundesrat wird dafür nicht rechtlich belangt werden, weil er von Gesetzes wegen Immunität geniesst. Die zuständigen Parlamentskommissionen werden diese auf keinen Fall aufheben, die politische wird dadurch zur rechtlichen Deckung erweitert.

Was würde es bedeuten, wenn der Bundesrat dieses selbstbestimmte Notrecht, wie er es vorhat, in ein dringliches Bundesgesetz überführt?

Es würde bedeuten, dass die Verfassungs- und Gesetzesverletzung nachträglich geheilt werden. Rechtlich ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Verfassung gebrochen wurde und viele Gesetze verletzt worden sind. Politisch gesehen wäre so ein Bundesgesetz das Eingeständnis, dass tatsächlich rechtlich falsch gehandelt wurde, und gleichzeitig wird die Situation ab dann rechtlich «geflickt» und ist wieder in Ordnung. Für die Zukunft stellt sich die Frage: Wie werden Bundesversammlung und Bundesrat handeln, wenn die nächste grössere Krise kommt?

Herr Professor Kley, vielen Dank für das Interview.

Prof. Dr. rer. publ. Dr. iur. h. c. Andreas Kley hat den Lehrstuhl für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich inne.

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