Der eingebildetste Schüler der ganzen Schule

Wie ich auf meinem Feldzug für eine schülerfreundliche Schule den Englischunterricht als «Kindergarten» bezeichnete. Was nicht ohne Folgen blieb. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #29

Im Bild: Vor dieser Treppe zur Kantonsschule Zürich-Enge stand der Autor Morgen für Morgen. Viereinhalb Jahre lang. Und wäre am liebsten jedesmal umgekehrt. (Bild: www.ken.ch)

Mit meinem Brief an unseren Geografieprofessor startete ich – als definitiv Direktbetroffener – eine Art Feldzug für eine schülerfreundliche Schule. Vorerst blieb ich chancenlos. Doch dann gelang es mir, unseren Klassenlehrer zu überzeugen, eine geplante Arbeitswoche dafür zu nutzen, eine umfassende Schulreform zu entwerfen. Der Lehrer liess die Klasse darüber abstimmen, und meine Idee stiess auf erfreuliche Zustimmung.

Wir zogen uns in ein Tessiner Kloster zurück, wo wir in wenigen Tagen das ultimative Gymnasium der Zukunft errichteten. An den Abenden interessierte uns das hochrelevante Thema aus naheliegenden Gründen weniger. Dafür sprachen wir umso mehr dem Alkohol zu, eine Erfahrung, die ich später auch in einem meiner Bücher verarbeitete. Sie war erhellend – und am anderen Morgen im wörtlichen Sinn ernüchternd.

Zurück aus dem schönen Tessin holte uns wieder die Schule der Gegenwart ein, und ich erlebte die meisten Unterrichtsstunden als Wechselbad zwischen Sekundenschlaf und Verzweiflung. Besonders die Englischstunden machten mir schwer zu schaffen. Mister Blackwell, unser Englischlehrer, ein waschechter Brite, wie der Name verrät, war ein netter, sensibler Mensch – vielleicht zu sensibel für seinen Job, wie sich noch zeigen wird –, und er meinte es gut. Doch sein Unterricht war für mich kaum erträglich.

Durch meine Tätigkeit als Musikkolumnist war mir Englisch inzwischen mehr als geläufig. Ich hörte Songs mit englischen Texten, las den «Melody Maker», ein englisches Musikmagazin, hatte schon mehrere Interviews mit britischen Musikern hinter mir und durfte mich seit Neuestem glücklich schätzen, eine Londoner Freundin zu haben, mit der ich weiterhin romantische Briefe tauschte. Um so mehr ärgerten und frustrierten mich die Unterrichtsmethoden von Mister Backwell.

Eines Tages im Frühsommer 1971 wandte ich mich mit einem Brief an die Schulleitung: «Mündlich gibt uns Mister Blackwell beinahe nie die Gelegenheit, uns über eine Lektüre auszusprechen. Und im Schriftlichen sind fast alle unsere Prüfungen nach dem gleichen Prinzip aufgebaut: Vorgegebene Sätze, die wir abändern müssen, Wörtchen einsetzen, Phonetikschreibung. Der Schüler kann seine Englischkenntnisse also nie in Aufsätzen üben oder seine Meinung über eine Lektüre schriftlich ausdrücken. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es uns dadurch möglich sein soll, frei sprechen und schreiben zu lernen.

I’m not in the Kindergarten anymore.

Vor etwa einem halben Jahr machte ich Mister Blackwell schriftlich den Vorschlag, uns mehr in dieser Richtung arbeiten zu lassen. Er erklärte der ganzen Klasse darauf, wir seien noch nicht so weit fortgeschritten. Seither ging es im gleichen Stil weiter, obwohl uns nur noch ein knappes Jahr Englischunterricht bleibt. Ist es da nicht verständlich, dass wir die englische Sprache noch kaum beherrschen?»

In einer weiteren Prüfung nach demselben Schema über die Erzählung «The pearl» von John Steinbeck schrieb ich deshalb in meiner Entrüstung auf das verteilte Blatt: I don’t do that. I’m not in the Kindergarten anymore.

Nachdem Mister Blackwell meine Bemerkung gesehen hatte, zerriss er vor der ganzen Klasse mein Prüfungsblatt, nannte mich den eingebildetsten Schüler der ganzen Schule, gab mir eine 1 für den Test und auferlegte mir zwei Strafstunden.

Noch am gleichen Tag legte die Schulleitung meine Kritik Mister Blackwell vor, der am Abend meinen Eltern telefonierte und sich mit bitteren Worten über meine Unverschämtheit beklagte. Dass ich an den Rektor gelangt war, hatte ihn tief verletzt, und meine Eltern machten mir darauf schwere Vorwürfe. Die Argumente in meinem Brief wurden gar nicht beachtet. Um weiteres Unheil abzuwenden, entschloss ich mich zu einem Entschuldigungsbrief an den Englischlehrer.

«Sehr geehrter Herr Blackwell

Ich möchte mich hiermit in aller Form bei Ihnen entschuldigen. Ich sehe ein, dass ich zu brüsk gehandelt habe, als ich anstelle einer fundierten Kritik einfach jene Bemerkung aufs Blatt schrieb. Ich bin mir bewusst, dass ich damit überhaupt nichts erreichen konnte, sondern durch meine Affekthandlung nur böses Blut schuf.

Ich möchte jedoch das Missverständnis aus dem Weg räumen, mein Brief an die Schulleitung sei eine Anklage gegen Ihre Person gewesen. Es ging mir lediglich darum, innerhalb Ihres Unterrichts einige Änderungen anzuregen. Abgesehen davon finde ich es verfehlt, meine Mitschüler gegen mich aufzuhetzen, indem Sie uns mit Lehrerwechsel drohen. Wir wollen das gar nicht.

Ich glaube aber, dass es das Recht jeden Schülers ist, bei einer Auseinandersetzung mit einem Lehrer an dessen höhere Instanz zu gelangen. Da ich Sie als Englischlehrer sehr schätze – zumal Sie Engländer sind – möchte ich Ihren Unterricht auch in Zukunft geniessen. Von mir aus steht der Beendigung dieser Auseinandersetzung deshalb nichts mehr im Wege.»

Mister Blackwell, der sich inzwischen wieder beruhigt und vom Rektor vermutlich Rückendeckung erhalten hatte, akzeptierte meine Entschuldigung. Und ich gewann danach tatsächlich den Eindruck, dass er im verbleibenden letzten Jahr bis zur Matura meiner Kritik unbemerkt Rechnung trug. Ich aber machte keine Vorschläge mehr, weder bei ihm noch in anderen Fächern. Ab sofort wollte ich nur noch eins: Die Durststrecke bis zur höheren Reife möglichst reibungslos hinter mich bringen.

Vor der Tür standen die Sommerferien. Höchste Zeit, der Schweiz für ein paar Wochen den Rücken zu kehren. Diesmal war mein Reisekamerad nicht Elias. Thomas, ein anderer Schulkollege reiste mit mir. Unser Ziel: Finnland.

Fortsetzung nächsten Sonntag

 

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Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

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