Es wird gerade Geschichte geschrieben: In einer unmissverständlichen Analyse inmitten eskalierender transatlantischer Spannungen stellt der Politikwissenschaftler John Mearsheimer das westliche Bündnis am Rande des Zusammenbruchs dar und erklärt den dringenden Nato-Gipfel in Brüssel zu einem historischen Wendepunkt.
In einem Video, das erst vor wenigen Stunden hochgeladen wurde, zeichnet Mearsheimer, der für seine Theorie des offensiven Realismus bekannt ist, ein Bild des Verrats, der Illusion und des unausweichlichen Verfalls. Er sagt im Wesentlichen Folgendes:
Mearsheimer argumentiert, dass 75 Jahre Sicherheitsgarantien unter amerikanischer Führung unter dem Gewicht struktureller Mängel und jüngster politischer Fehltritte der USA zerbröckeln.
Der Gipfel in Brüssel markiert das erste Mal seit dem Kalten Krieg, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs nicht zusammengekommen sind, um ihre Strategie mit Washington abzustimmen, sondern um Amerikas Zuverlässigkeit als Verbündeter offen in Frage zu stellen.
«Ist Amerika noch ein verlässlicher Verbündeter?» fragt Mearsheimer und fasst damit das Geflüster in den Korridoren des Gipfels zusammen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wird von Berlin bis Warschau nicht um Beruhigung gebeten, sondern es werden Notfallpläne für ein post-amerikanisches Europa entworfen.
Im Kern war die Nato nie dazu bestimmt, über die sowjetische Bedrohung hinaus zu bestehen, für sie 1949 gegründet wurde. Der Gründungsvertrag war unkompliziert: Die USA würden Europa vor existenziellen Gefahren schützen, während Europa sich den amerikanischen geopolitischen Zielen unterordnete.
Diese Abmachung hielt bis zum Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991, da der gegenseitige Nutzen die Abhängigkeit überdeckte. Aber der Sieg über die Sowjetunion führte zu Selbstzufriedenheit.
Nach dem Ende des Kalten Krieges dehnte sich die NATO nach Osten aus, wobei sie sich der «ersten Illusion» hingab, dass die Aufnahme ehemaliger sowjetischer Satelliten den Pakt stärken würde, ohne Russland zu provozieren oder neue Verwerfungslinien zu offenbaren.
Die «zweite Illusion» ging davon aus, dass die USA dem Bündnis immer treu bleiben würden, unabhängig von der Innenpolitik oder wechselnden Regierungen.
Die dritte? Dass Europa unbegrenzt von der amerikanischen Macht profitieren könnte, indem es sich vor der eigenen militärischen Aufrüstung drückt. Diese Illusionen, so Mearsheimer, implodieren nun gleichzeitig.
Er erinnert daran, dass Bündnisse – nachdem er sich ein Leben lang mit ihrer Entstehung und ihrem Vergehen beschäftigt hat – keine ewigen Bindungen sind, sondern pragmatische Instrumente, die in gemeinsamer Gefahr geschmiedet werden und ausfransen, wenn die Interessen auseinandergehen.
«Die strukturellen Kräfte, die die Nato untergraben, haben sich seit Jahrzehnten aufgebaut», sagt er. «Dieser Gipfel hat die Krise nicht verursacht. Er nimmt sie nur zur Kenntnis».
Was hat diese Krisensitzung ausgelöst? Eine Kaskade von Entscheidungen Washingtons, die Mearsheimer als «Bündnisentropie» bezeichnet – die langsame Fäulnis durch schrittweisen Verrat. In den letzten Wochen haben sich die USA mit ihren Zöllen gegen Verbündete wie Kanada, Mexiko und die EU gewandt und dabei wirtschaftliche Aggression mit dem Ruf nach militärischer Solidarität vermischt.
Rhetorische Sticheleien haben den Artikel 5 der NATO, den heiligen Schwur, dass ein Angriff auf einen ein Angriff auf alle ist, in Frage gestellt. Und in der Ukraine – wo Europa grosses politisches Kapital in die amerikanische Führung gesteckt hat – haben Signale eines schwankenden Engagements Chaos gesät.
Wenn entscheidende US-Massnahmen für die europäische Sicherheit durch Medienlecks und Posts in den sozialen Medien unter Umgehung der diplomatischen Kanäle durchsickern, wenn Amerika seine engsten Verbündeten über Twitter und nicht über Botschafter über wichtige Entscheidungen informiert, so Mearsheimer, sendet es ein unmissverständliches Signal: Ihr seid keine Partner bei der Entscheidungsfindung.
Die Europäer gehen gemeinsam eigene Wege:
- Deutschlands Friedrich Merz kämpft mit steigenden Verteidigungsausgaben inmitten von Energieproblemen in Verbindung mit Russland.
- Frankreichs Emmanuel Macron drängt auf seine lang gehegte Vision der «strategischen Autonomie».
Polens Donald Tusk, einst Washingtons stärkstes Bollwerk gegen den Osten, geht jetzt auf Nummer sicher. - Und das baltische Trio – Estland, Lettland, Litauen – klammert sich an Artikel 5, nicht als Doktrin, sondern als Rettungsanker gegen Moskau.
Für Europa ist die Rechnung gemäss Mearsheimer gnadenlos: Ohne US-Schutz gibt es entweder eine Entspannung mit Russland nach russischen Vorgaben oder ein wirtschaftlich nicht vertretbares Wettrüsten.
Für Amerika verschiebt sich das Kalkül dahin, ob die Subventionierung der europäischen Verteidigung immer noch die Interessen der USA fördert – oder lediglich die Ressourcen der Nationen verschlingt, die es sich in ihrer Abhängigkeit zu bequem gemacht haben.
Mearsheimer analysiert die Lage als ein Quartett von Fehlern:
- Säen von «strategischer Unsicherheit» durch öffentliches Grübeln über die Lasten der NATO, was die Abschreckung untergräbt;
- einseitige Erlasse, die Europa als Juniorpartner behandeln;
- Wirtschaftliche Granaten, die diejenigen entfremden, von denen man erwartet, dass sie im Gleichschritt marschieren;
- und verworrene Botschaften in Bezug auf die Ukraine, wo der US-Rückzug die Verbündeten nach ihren hohen Investitionen ungeschützt zurücklässt.
Russland – stets Opportunist – erntet den Gewinn. Mearsheimer stellt sich vor, dass Wladimir Putin sich in «strategischer Geduld» übt, indem er die Risse vergrössert, ohne einen Schuss abzufeuern, und so die NATO politisch zahnlos macht, bevor sie jemals ihre militärische Schlagkraft unter Beweis stellen kann: Frankreichs unabhängige Verteidigung wird verstärkt, Deutschlands Autonomiedebatten gewinnen an Fahrt, Polens Absicherung entwickelt sich zur Diversifizierung.
«Der Notstandsgipfel bedeutet, dass Europa einer Realität ins Auge sieht, der es drei Jahrzehnte lang ausgewichen ist», sagt Mearsheimer. «Dies könnte das Ende der von den USA inszenierten Ordnung einläuten, die den Westen seit 1945 bestimmt hat und die nicht durch äussere Feinde, sondern durch innere Widersprüche zu Fall gebracht wurde.
Bündnisse, so schliesst Mearsheimer mit einer gewissen Endgültigkeit, gedeihen auf Gegenseitigkeit, nicht auf einseitigen Garantien. In einer Ära des multipolaren Wandels bietet Mearsheimers realistische Sichtweise keinen Trost, sondern nur einen klaren Aufruf, sich der Entropie zu stellen, bevor sie das Bündnis vollständig auffrisst. Historiker, so prophezeit er, werden das Auseinanderbrechen des Bündnisses zu diesem Brüsseler Treffen zurückverfolgen: dem Tag, an dem Europa es wagte, an seinem Beschützer zu zweifeln.
If in 10 years, all American troops stationed in Europe for national defense purposes have not been returned to the United States, then this whole project [Nato] will have failed.
Dwight Eisenhower, 1951