Der Tierbefreier
Christian Adam befreit Tiere aus Tierfabriken. Für die einen ist das Diebstahl, für die anderen eine Frage der Gerechtigkeit.
Die letzten Meter rollt das Auto ohne Licht. Es ist zwei Uhr nachts, irgendwo in Niedersachsen. Um anzuhalten, zieht Christian Adam die Handbremse. «So leuchten die Bremslichter nicht.» Er und sein Team wollen unerkannt bleiben – zumindest vorerst. Vor ihnen erstreckt sich die Silhouette einer riesigen Tierfabrik. Dort wollen sie sich Zugang verschaffen und die Zustände dokumentieren. Und sie wollen einige Tiere befreien. Adam nennt sich Tierbefreiungsaktivist. Er ist unterwegs mit Leuten der Organisation tierretter.de.
Sie verteilen sich um das Gebäude. Adam nähert sich geduckt dem Eingang. In der einen Hand hält er seine Kamera, in der anderen eine grosse Transporttasche für die Tiere. Über sein Walkie-Talkie bleibt er mit den anderen in Kontakt. Doch gesprochen wird kaum. Jedes Geräusch könnte die Operation gefährden. Der Landwirt wohnt keine hundert Meter vom Stall entfernt. Adam lauscht angespannt, ob ihre Anreise bemerkt wurde. Es bleibt still, knistert der Funk: «Zieht euch um und lasst uns reingehen.» Um keine Keime einzuschleusen, tragen die Aktivisten Schutzanzüge. Adam öffnet langsam die Stalltüre. Ein Gestank aus Kot und Urin dringt aus der Halle. Und 13 000 Enten schnattern aufgeregt.
Adam verliert keine Zeit. Er kniet hin und blickt konzentriert durch den Sucher der Kamera. Dreimal drückt er ab und prüft seine Aufnahmen auf dem Display. Dann nimmt er eine neue Perspektive ein. Mal die ganze Halle, mal bloss ein einziges Individuum. Während einige hundert Tiere eilig wegwatscheln, bleibt eines rücklings am Boden liegen und strampelt hilflos mit seinen Flossen in der Luft. «Das ist ein sogenannter Rückenlieger», erklärt Adam. Diese Tiere können aus eigener Kraft nicht wieder aufstehen. Ihre Körper kollabieren unter der Last des hochgezüchteten Brustmuskels. «Viele Rückenlieger verdursten oder werden von den anderen zu Tode getrampelt.» Adam gibt ihm sanft einen Stups. Die Ente kommt quakend auf die Beine, torkelt im Kreis – und fällt wieder auf den Rücken.
«Dem müssen wir helfen», sagt Adam. Rasch umgreift er den Rückenlieger mit beiden Händen, um Flügelschlagen und Verletzungen zu verhindern, und steckt ihn in die Transporttasche. «Was ich hier tue, ist schrecklich widersprüchlich», räumt Adam ein. «Ich bin gegen das Töten von Tieren, doch jetzt muss ich mich für einige Tiere entscheiden, die leben sollen.» Neben dem Rückenlieger werden sie in dieser Nacht fünf weitere Enten befreien.
Tierbefreiung und soziale Gerechtigkeit
Einer der geistigen Väter der Befreiung der Tiere ist Peter Singer. 1975 veröffentlichte der australische Philosoph das Buch Animal Liberation, das ihn bis heute zu einem der führenden Denker der Tierethik machen sollte. Singer stiftet nicht dazu an, Tiere aus Käfigen zu befreien. Vielmehr kritisiert er die Herrschaft der Menschen über die Tiere. Tiere leiden ähnlich wie wir, so Singer, also sollten wir ihr Leiden auch ähnlich berücksichtigen. Für ihn gibt es keine moralische Rechtfertigung, Tiere kurzerhand dem ökonomischen Profit zu opfern.
Singers Buchtitel ist nicht zufällig gewählt. Die Befreiung der Tiere sieht er in derselben Tradition wie andere Befreiungskämpfe, wie etwa die Bürgerrechtsbewegung oder den Feminismus. Die Diskriminierung dieser sozialen Gruppen wird stets ähnlich gerechtfertigt, meint Singer, indem man auf willkürliche biologische Merkmale zurückgreift. Analog zum Rassismus oder Sexismus würden Tiere als minderwertig betrachtet, weil sie nicht der Norm entsprechen – sei es nun der Norm des Weissen, des Männlichen oder eben des Menschlichen. Dass Tiere unterdrückt werden, weil sie keine Menschen sind, bezeichnet Singer als «Speziesismus». Demzufolge kommt die Privilegierung des Menschen einem Artenegoismus gleich. Singer geht es also nicht bloss um sentimentale Tierliebe, sondern um soziale Gerechtigkeit.
Doch dürfen Tiere im Namen der Gerechtigkeit befreit werden? Ja, meint Martin Balluch, Obmann vom Verein gegen Tierfabriken in Österreich und Autor des Buches Widerstand in der Demokratie. Für Balluch sind grundsätzlich alle Methoden demokratie-politisch legitim, sofern sie die öffentliche Diskussion anregen. Das gelte auch für Tierbefreiungen, bei denen die Aktivisten ihr Gesicht zeigen und so ein mögliches Gerichtsverfahren gegen sich provozieren. «Das fördert die öffentliche Diskussion, macht gesellschaftliche Konfliktlinien publik und fordert das System heraus, öffentlich Stellung zu beziehen.» Der Schaden für die betroffene Firma sei symbolischer Natur, meint Balluch.
Das sieht auch Christian Adam so. «Die Befreiung eines Tieres als Diebstahl zu bezeichnen, ist lächerlich.» Die Enten, deren neues Leben bald beginnt, würden die Mäster keine zwei Euro kosten. «Oft merken die gar nicht, dass wir da waren.» Dennoch sei er auch schon wegen Diebstahl angezeigt worden. Doch davon lässt sich Adam nicht abschrecken. «Ungerecht ist nicht die Befreiung der Tiere, sondern dass sie überhaupt zur Nahrungsmittelproduktion gemästet und getötet werden.»
Wo Tiere frei leben können
Befreite Tiere werden oft auf Lebenshöfen (auch: Gnadenhöfe) untergebracht. Dort leben sie unter semi-natürlichen Verhältnissen fernab von menschlichen Nutzungsansprüchen. Anders als in der Industrie müssen Tiere auf Lebenshöfen nicht nützen. Auch der Hof Narr im Zürcher Oberland schenkt befreiten Tieren eine zweite Chance. Für Mitbegründerin Sarah Heiligtag geht es um mehr als nur ein Dach über dem Kopf. «Ich bin überzeugt, dass Lebenshöfe auf dem Weg zur Befreiung der Tiere eine zentrale Rolle spielen.» Was die Theorie nicht schafft, könne ein Tier mit seiner schieren Existenz erreichen. «Ich kann den Leuten lange erzählen, wieso Tiere Rechte haben», so die Bäuerin und studierte Philosophin, «aber am besten kommen sie einfach auf eine Hofführung und lernen die vielen Tiere persönlich kennen.» Jede Woche würden durchschnittlich über hundert Leute den Hof besuchen, darunter Schulklassen, Firmen sowie Paten und Patinnen.
Was ihre Befreiung für die Individuen bedeutet, erlebt Heiligtag jeden Tag. Als etwa Aretsina, früher eine Legehenne, auf den Hof Narr kam, war sie ganz nackt und eingeschüchtert. Zuerst verbrachte sie die meiste Zeit in der Wohnung. Dort lebten auch die Hunde, von denen Aretsina so manches lernte. Gemeinsam schlagen sie Alarm, wenn es an der Türe klingelt. Manchmal spielt Aretsina auch mit den Hunden, erzählt Heiligtag, oder weist sie in die Schranken. «Aus dem verschreckten Huhn ist eine selbstbewusste, kecke Dame geworden.»
Das erste Bad
Im Morgengrauen ist Christian Adam endlich wieder zuhause. Nach der langen Fahrt bringt er die Enten ins Badezimmer. Dort gibt ihnen Adam frisches Wasser und etwas Kraftfutter, das er aus der Mastanlage entwendete. «Man darf ihre Ernährung nicht von heute auf morgen umstellen.» Langsam, um die Enten nicht zu erschrecken, lässt er Wasser in die Badewanne. «Obwohl Enten Wasservögel sind, gibt es in den Anlagen kein Wasser zum Baden.» Deshalb muss jetzt Adams Wanne für ihr erstes Bad hinhalten. Sanft platziert er sie ins warme Nass. Zuerst scheinen die Enten gar nicht zu wissen, wie ihnen geschieht. Doch dann plantschen sie freudig, so dass das Wasser bis hoch an die Wände spritzt. «Solche Erlebnisse prägen mich», sagt Adam. Ihr Glück treibe ihn an, weiterhin als Tierbefreier unterwegs zu sein. Nach ein paar Stunden Schlaf wird Adam die Tiere bei Privaten unterbringen.
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