Der Zionismus – eine Gefahr auch für Israel?
Vor 120 Jahren fand in Basel der erste Zionistenkongress statt – mit dem Anliegen, einen jüdischen Staat zu gründen. Ein halbes Jahrhundert später wurde der Staat Israel ausgerufen. Doch der Zionismus lebt weiter – und bringt Israel selbst in Bedrängnis.
August 1897. Seit Monaten arbeitete der ungarische Journalist Theodor Herzl wie besessen darauf hin, dann endlich hatte er es erreicht. Über 200 Delegierte aus aller Welt versammelten sich im Stadtcasino Basel und riefen die Zionistische Weltorganisation ins Leben. Ihr Ziel: die Gründung eines «Judenstaates». Als Herzl die Bühne betrat, brach tosender Beifall aus, Damen fielen reihenweise in Ohnmacht. Später werden einige Delegierte sagen, an diesem Tag seien sie wahrlich dem Ersehnten, dem Heissgeliebten, dem Gesalbten des Herrn begegnet.
Doch Herzl hatte auch Gegner. Als die Wahl der jüdischen Heimstätte auf die osmanische Provinz Palästina fiel – es standen auch Uganda und Argentinien zur Debatte –, stellten sich die Ultraorthodoxen quer. Nur der Messias könne dereinst den Staat Israel ausrufen, alles andere sei Blasphemie, protestierten sie. Diese Überzeugung macht die strenggläubigen Charedim noch heute zu Antizionisten. Für Herzl dagegen sollte Religion keine Rolle spielen, im Gegenteil. Der künftige Staat müsse ein Ort sein, an dem sich die «neuen Juden» in Sicherheit wiegen und eine Identität ausserhalb des Glaubens leben dürfen, schrieb er in seiner 1896 erschienenen Schrift «Der Judenstaat»: «Die Judenfrage ist keine religiöse, sie ist eine nationale Frage. Wir sind ein Volk, ein Volk.»
Zwanzig Jahre später, im November 1917, sicherte der britische Aussenminister Arthur James Balfour dem jüdischen Volk zu, in Palästina eine nationale Heimstätte zu errichten. Nach weiteren drei Jahrzehnten war es vollbracht: David Ben-Gurion rief am 14. Mai 1948 den Nationalstaat Israel aus – und liess aus Dankbarkeit die Gebeine Herzls auf dem höchsten Hügel Westjerusalems beisetzen.
Hat sich der Zionismus mit der Staatsgründung Israels erfüllt, ist Herzls Projekt abgeschlossen? Manche Israelis sind überzeugt, damit sei bloss der Grundstein für die Ankunft des Messias gelegt worden. Nun gelte es, das gelobte Land erst recht auf den Messias vorzubereiten. Anders als Ultraorthodoxe wie die Charedim anerkennen sie den Staat Israel. Im Gegensatz zu säkularen Zionisten wie Herzl versuchen sie den Nationalismus religiös zu untermauern, und zwar mit dem Narrativ des «wahren Juden», dem von Gott Auserwählten. Aufschwung erhielten diese nationalreligiösen Zionisten nach dem Sechstagekrieg 1967, als Israel durch die Besetzung und die bis heute dauernde Besiedelung des Westjordanlandes immer mehr mit «Eretz Israel» identisch wurde, dem angeblich ursprünglichen, dem biblischen Israel.
Keinesfalls alle patriotischen Israelis sind nationalreligiöse Zionisten, aber das enge Band zwischen Politik und Religion ist für ganz Israel bis heute konstitutiv. Tatsächlich unterscheidet sich die «einzige Demokratie im Nahen Osten» – wie sich der Staat Israel selbst gerne nennt – von anderen offenen Gesellschaften vor allen durch ihren ethnisch-religiösen Charakter. Israel ist ein Land, das von Menschen einer ganz bestimmten Religionszugehörigkeit für andere Menschen derselben Religionszugehörigkeit geführt, verwaltet und kontrolliert wird, es ist ein jüdischer Staat – von und für Juden. Rabbiner entscheiden darüber, wer die Staatszugehörigkeit erhält, in der israelischen Armee werden vor allem Juden ausgebildet, die meisten öffentliche Ämter dürfen nur von Juden bekleidet werden und die Nationalfeiertage folgen religiösen Gesetzen. Für Nichtjuden mag es deshalb schwierig sein, sich in dieser von religiöser Ethnokratie geprägten Kultur wiederzufinden; sie werden oft ganz einfach ausgegrenzt. Im Fall der arabischen Israelis geht diese Ausgrenzung offenkundig mit einer systematischen Diskriminierung einher. Obschon sie nach dem Gesetz gleichberechtigt sind, werden sie doch immer wieder als «Bürger zweiter Klasse» behandelt. Das betrifft, wie Studien belegen, unter anderem die ungleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die fehlende politische Vertretung, die Benachteiligung beim Erwerb von Grundstücken oder Formen von Alltagsrassismus.
Israel ist ein jüdischer Staat von und für Juden. Nichtjuden haben es schwer in diesem Land.
Eva Illouz, Soziologin an der Hebräischen Universität in Jerusalem und selbst Jüdin, sieht darin ein tieferes Problem. Demokratien, sagt Illouz, müssen zwingend liberal sein. Dabei zeige sich der Liberalismus vor allem darin, ob eine Minderheit die Gesellschaft, in der sie lebt, insgesamt repräsentieren kann. Illouz’ Gedanke dahinter: Demokratien oder liberale Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass Mehrheit und Minderheit dieselben Rechte besitzen. Ein Gradmesser dafür ist, ob die Minderheit die kollektiven Interessen der gesamten Gesellschaft vertreten kann. Für israelische Araber – sie machen immerhin einen Fünftel der Gesamtbevölkerung Israels aus – dürfte es hingegen unmöglich sein, sich mit einer Kultur zu identifizieren und an ihr teilzuhaben, deren Identität einzig vom Judentum bestimmt ist. Sollte Illouz mit ihrer Analyse recht haben, stünde damit das Selbstverständnis Israels als Demokratie infrage.
Aber nicht nur religiöser, sondern auch militärisch-politischer Nationalismus prägt die Identität Israels. Wenige Tage nach der Staatsbildung 1948 gegründet, gehören die Israel Defense Forces (IDF) heute zu den stärksten Armeen im Nahen Osten – ja sogar weltweit. Auch dieser Nationalismus ist im Zionismus verwurzelt, ging es Herzls Bewegung doch von Beginn an stets ebenso um die Sicherheit der Juden vor Verfolgung und Vernichtung. Seit der Staatsgründung und bis auf den heutigen Tag grassiert jedoch ein Antisemitismus, der die Legitimität Israels immer wieder anzweifelt oder Israel sogar ausradieren will. Solange diese Bedrohung besteht, so das Argument vieler Israelis, brauche es die zionistische Bewegung, um die Sicherheit des jüdischen Staates zu gewährleisten.
Genau das sei Aufgabe der IDF. Dabei ist sie in der israelischen Gesellschaft allgegenwärtig, die meisten jüdischen Männer (und zunehmend auch Frauen) haben jahrelang bei den Sicherheitskräften gedient. Sie sind von der Idee getragen, dass Israel im Grunde nur Frieden will und die Sicherheit des Staates das höchste Gut sei, welches allein die «Armee des Volkes» zu verteidigen vermag. Entsprechend wenig Kritik wird geduldet, wenn es um die Frage geht, inwieweit der Ruf nach einer militärisch garantierten Sicherheit des jüdischen Staates als Rechtfertigung für Massnahmen dient, die ohne Frage eine Verletzung von Menschenrecht und Völkerrecht darstellen. Dazu gehört die nunmehr fast hundertjährige Entrechtung der Palästinenser oder die seit 1967 kontinuierliche und von der IDF tatkräftig unterstützte Besiedelung und Fragmentierung des Westjordanlandes. Dazu gehört aber auch die Repression gegen Menschen und Organisationen im eigenen Land, die diese Politik der unbedingten Sicherheit kritisieren und damit bereits im Verdacht stehen, antijüdisch zu agieren.
Tatsächlich ist das Credo von der Sicherheit des jüdischen Staates längst zum Ersatz für eine menschliche Politik geworden – eine Politik, die im Grunde nur das einlösen möchte, was auch die jüdischen Israelis für sich fordern: ein Leben in Selbstbestimmung, Sicherheit und Würde. Diesen Anspruch zu bestreiten oder nur zu hinterfragen, wäre moralisch verwerflich. Mit einer Kritik am heutigen Zionismus hat das aber nichts zu tun. Denn es muss möglich sein, Israel im selben Atemzug für eine Politik zu kritisieren, die unbeirrt Grundrechte verletzt und internationale Abkommen ignoriert. Und die letztlich dazu führt, dass sich dieses Land in einen undemokratischen, ethnokratischen Militärstaat verwandelt.
Die Frage, 120 Jahre nach dem Basler Kongress, ist also weniger, was von Herzls Zionismus übrigblieb oder ob sein ursprüngliches Anliegen noch legitim ist. Vielmehr muss sie lauten: Kann Israel seine jüdische Identität bewahren auch ohne übersteigertes Sicherheitsbedürfnis und diesen unbändigen religiösen Eifer, das gelobte Land einzig für sich allein zu beanspruchen?
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