Die Casting-Gesellschaft
Casting-Shows mit dem pöbelnden Bohlen und anderen Medien-Helden machen deutlich: Sich erniedrigen zu lassen ist die Eintrittskarte zu jeder Karriere. Indem Niveau und Kritikfähigkeit strategisch abgesenkt werden, bereitet man den Boden für weitere Verdummungskampagnen. (Roland Rottenfußer)
Amanda reisst ihre Kulleraugen weit auf und unterdrückt publikumswirksam ein Tränchen. «Es ist ein Weckruf, der grösste, den ich je erlebt habe.» Auch Piers, der sonst so coole Kunstrichter, wirkt ergriffen. «Als Sie am Anfang da standen, lachte jeder. Jetzt lacht niemand mehr.» Das Publikum im Saal bei «Britain’s got Talent» tobt. Die Frau, die diese Euphorie ausgelöst hat, steht sprachlos am Bühnenrand. Optisch ist Susan Boyle alles andere als ein Star: 47 Jahre alt, übergewichtig, unvorteilhaft gekleidet und ein wenig trampelig. Ihre liebliche Stimme aber riss Publikum und Jury vom Hocker. Das Video von Susan Boyles Auftritt wurde seit ihrem Auftritt 2009 über sieben Millionen Mal auf youtube aufgerufen. Ein Mythos war geboren.
Aber ist diese Inszenierung glaubwürdig? Will man uns weismachen, dass Jury und Regie vor der Show nicht wussten, dass Susan Boyle herausragend singen kann? Alle Casting-Teilnehmer mussten schliesslich durch eine Vorauswahl, ein «Screening». Die Jury-Mitglieder setzten skeptische Blicke und abwertende Bemerkungen über Frau Boyle anfangs bewusst ein, um den Vorher-Nachher-Effekt zu verstärken. Im Anschluss simulierten sie Überraschung und tränenselige Ergriffenheit. Eine hübsche Sängerin hätte bei gleicher Begabung nicht denselben Effekt ausgelöst. Sie hätte nicht ins Konzept gepasst, das da lautet: «Eine von uns hat es denen gezeigt.»
«Jeder kann es schaffen»
Geschichten wie die von Susan Boyle sind typische neoliberale Aufsteigermythen. Man findet sie überall in der Populärkultur, z.B. in Filmen wie «Slumdog Millionaire» und «Das Streben nach Glück». Der Mythos entwirft eine Art Heldenreise. Die Lage des Protagonisten erschien zunächst völlig aussichtslos. Jemand sagte: «Das schaffst du nie». In ihm reift jedoch die Entschlossenheit, sich vom Leben nicht unterkriegen zu lassen. Die Botschaft der Geschichte lautet: «Jeder kann es schaffen.» Indirekt aber auch: «Wer es nicht schafft, ist selbst schuld.» In einer inszenierten Wettbewerbssituation interessiert das Schicksal der Verlierer nicht. Mitgefühl gilt eher als schädlich, weil es die aktivierende Funktion menschlichen Leidens nur verwässern würde.
Die durch Aufsteigergeschichten erzeugte Rührung wirkt auf die Zuschauer somit eher vernebelnd. Sie lässt diese ihr eigenes Schicksal vergessen, ebenso wie die Tatsache, dass es in Wahrheit nur sehr wenige schaffen können. Was dem Helden nämlich gelungen ist, sagt überhaupt nichts über die tatsächlichen Aufstiegschancen im Land aus. Im Gegenteil: Wie beim Lotto ist die Niederlage der Vielen die Voraussetzung für den Triumph des Einen. Im Hintergrund neoliberaler Mythen steht die Idee der Freiheit, die einseitig im Sinne von Eigenverantwortung ausgelegt wird und die Gemeinschaft, vor allem den Staat, aus der Verantwortung entlässt.
Unterhaltung als Spiegel des Zeitgeists
«Sag mir, wovon du dich unterhalten lässt, und ich sage dir, wer du bist.» Wenn dieser Satz stimmt, ist es um Deutschland schlecht bestellt. Scheinbar harmlose Shows sind stets ein Spiegel des Zeitgeists, der von Machtgruppen absichtsvoll beeinflusst wird. Unterhaltungssendungen transportieren bestimmte Werte, die von ihren Machern gewollt sind. Der individualistische Aufsteigermythos, der anfangs skizziert wurde, ist nur Teil dieses Wertekanons.
Freilich, Unterhaltung ohne grossen Anspruch hat es schon immer gegeben. In meiner Kindheit galt «Dalli Dalli» (seit 1971) als das Non plus ultra der Familien-Show: eine Folge einfältiger Geschicklichkeitsspiele. Moderator Hans Rosenthal war jüdischer Herkunft und dem Holocaust nur knapp entronnen. Mit seinen Zuschauern, die vielfach durch traumatische Kriegserlebnisse gegangen waren, bildete er eine verschworene Verdrängungsgemeinschaft. Wirtschaftlich ging es wieder aufwärts, und man gönnte sich nach Feierabend unkomplizierte Unterhaltung. Rosenthal allerdings behandelte seine Kandidaten stets respektvoll.
Busen und Big Brother
Mit der Einführung des Privatfernsehens 1990 erwartete die Zuschauer ein Kulturschock: Bei «Tutti Frutti», der Entkleidungsshow mit Hugo Egon Balder, erinnerte nicht nur im Titel an Italien. Es war eine kalkulierte Absenkung des Niveaus und ein Angriff auf die bisher gültigen Schamgrenzen – garniert als Werbeumfeld für Markenfirmen. Beschimpft und gequält wurde noch niemand; die Reduktion der Mädchen auf körperliche Merkmale und die zutiefst zynische Grundhaltung des Moderators erwiesen sich aber als zukunftsweisend. Sexueller Tabubruch war jedoch nicht der Stoff, aus dem ganz große Fernseherfolge gemacht werden. Man entdeckte einen noch wirkungsvolleren Anreiz: Schadenfreude.
Sendungen, die in den Medien besonders «gepusht» werden, bereiten die Zuschauer auf Trends vor, die auch im realen Leben im Kommen sind. Bei «Big Brother» (seit 2000) sind Überwachung und Grenzüberschreitung allgegenwärtig. Das Alltagsleben wird als künstliche Konkurrenzsituation zelebriert. Die Frage «Wer wird als nächstes raus gewählt?» vergiftet gleichsam alle Interaktionen zwischen den Akteuren. Die leben ihr Leben ständig im Hinblick auf mögliche Unbeliebtheit bei der breiten Masse. Die Vermeidung von Regelverstössen wird zur obersten Leitlinie für das eigene Handeln. Der Container-Bewohner ist somit der ideale Staatsbürger. Liess «Big Brother» den Überwachungsstaat «cool» aussehen, so leisteten Casting-Shows wie «Deutschland sucht den Superstar» dasselbe für andere «Werte»: z.B. Geschmacksgleichschaltung und Autoritätshörigkeit.
Juroren: Pöbelnde «Halbgötter»
Zum Thema «Autorität» hier noch eine Casting-Geschichte. Als Lena Meyer-Landruth das Vorcasting zum Grand Prix d’Eurovision gewann, war eine ihrer Mitbewerberinnen Daliah Sharaf. Die hatte eine schöne Soulstimme, sang eigentlich nicht schlechter als Lena. Juror Marius Müller-Westernhagen kanzelte sie mit einem recht dümmlichen Satz ab: «Für mich klang’s so, als ob ’ne Weisse versucht, wie ’ne Schwarze zu klingen.» Die Äusserung erinnerte an dunkle Zeiten, als man Felix Mendelssohn-Bartholdy vorwarf, als Jude fehle ihm einfach das Gefühl für deutsche Musik. Nun geschah jedoch etwas Aussergewöhnliches. Gesangstalent Daliah rebellierte gegen Westernhagen: «Man kann auch Soul in der Stimme haben ohne die entsprechende Hautfarbe.» Um die Kühnheit dieses Vorgangs ermessen zu können, muss man wissen, dass sich Casting-Kandidaten niemals wehren. Selbst die Beleidigungen eines Dieter Bohlen («Wir sind Talentsucher und keine Müllsortierer») bleiben unwidersprochen. Daliah aber wehrte sich. Der genervte Westernhagen beschied, sie solle lernen, Kritik anzunehmen.
Casting-Shows haben stets auch volkserzieherische Funktion. Vor allem jüngere Zuschauer. lernen so, dass sich Aufbegehren nicht lohnt. Die Inhaber von Machtpositionen schützen sich vor berechtigter Kritik mit einem Regenmantel aus Unangreifbarkeit. Demütigungs-Toleranz wird als soziale Grundfertigkeit vorgeführt, die man als junger Berufseinstiger erlernen muss, will man die geringste Chance haben, «aufzusteigen.» Dabei ist die fachliche Qualifiktion vieler dieser «Kunstrichter» sehr fraglich. Man kann einer Sarah Connor zwar zubilligen, dass sie singen kann. Wie steht es aber mit Produzenten-Tochter Nina Eichinger? (DSDS) Aber es geht hier eben nicht um natürliche, sondern um formale Autorität, und der haben sich die Probanden fraglos zu unterwerfen.
Alles ist vergleichbar
Ein anderer «Wert», den Casting-Shows vermitteln, ist Konkurrenz. Eine Wettbewerbssituation, bei der nur einer gewinnen kann, verkennt, dass verschiedene Künstler jeweils in ihrer eigenen Nische reüssieren könnten. Die wichtigsten echten Stars unserer Zeit sind nie gegeneinander angetreten. Auch der Milchbruder der Castingshow, die Rankingshow, setzt auf unbegrenzte Vergleichbarkeit. Wer ist der größte Bayer der Weltgeschichte? Ergebnis: Strauß vor Beckenbauer und Dürer. Die Wettbewerbsorientierung im Deutschen Fernsehen geht so weit, dass aus einer Kochshow schon mal eine «Küchenschlacht» wird. Bedenklich wird es dann, wenn auch unsere Kinder einem gnadenlosen Ranking unterzogen werden. Die müssen sich z.B. im «Pisa»-Test mit südkoreanischen Turbo-Kindern messen, die einer menschenrechtswidrigen Gehirnwäsche unterzogen wurden.
Schließlich dient die Casting-Kultur noch der Gleichschaltung des Musikgeschmacks. Wer ein «Star» werden will, muss die Lieder von Mainstream-Künstlern nachsingen, die ohnehin schon auf allen Sendern laufen. Ein Lied von Bohlen zu intonieren, gilt als Ritterschlag auf dem Weg zum nationalen Kulturheroen. Letztlich sind Casting-Shows somit auch Parodien auf die moderne «gelenke Demokratie». Die Darbietungen werden so vorselektiert, dass nur ein sehr enges Spektrum überhaupt zur Wahl steht. Gipfelpunkt der Scheindemokratie war die Vorauslese zum diesjährigen Grand Prix d’Eurovision. Die Zuschauer durften zwischen 12 Liedern von Lena wählen. In der Politik sieht es ja nicht wesentlich anders aus, da dominieren vier neoliberale Kriegsbefürworter.
Ohne Sadismus geht nichts mehr
Wie sehr das, was wir auf dem Bildschirm zu sehen bekommen, gelenkt wird, zeigte am 17. Februar eine Diskussionsrunde bei Maybritt Illner. Ute Biernat vom Casting-Büro Grundy Light Entertainment gab in der Sendung zu, dass sie für fast alle relevanten Shows («X-Faktor», «Super-Talent», «DSDS») Kandidaten castete, und zwar unabhängig von Sender und Sparte. Der Verdacht liegt nahe, dass damit flächendeckend ein erwünschtes Menschenbild propagiert werden soll. Während im «Grossen Preis» noch Experten ihres Fachs zu Wort kamen, werden in Casting-Shows künstlerisches Unvermögen und Skurrilität dem Spott Fernsehdeutschlands Preis gegeben. Wirkliche Könner haben dort Seltenheitswert. Sie bieten den Juroren und dem feixenden Publikum zu wenig Erniedrigungsanreize.
In der Illner-Show sagte der Schauspieler und Dschungelcamper Mathieu Carrière: «Bei den meisten erfolgreichen Shows gibt es Sadismus, Schadenfreude und Empathie.» Thomas Gottschalk, so Carrière, sei ein «sauberer Clown» und insofern nicht mehr zeitgemäss. Gottschalk steckte an jenem Abend noch der Unfall von Samuel Koch in der Wetten dass-Sendung vom 4. Dezember 2010 in den Knochen. Kandidat Koch, erinnert sich Gottschalk, habe seinen Auftritt, den gefährlichen Salto über Autos, als Sprungbrett für eine Showkarriere gesehen. Dies sei Teil einer «Casting-Kultur». Thomas Gottschalk interpretierte den Begriff so: «Wenn du nur einmal im richtigen Moment das Richtige tust, bist du für den Rest deines Lebens ein Star.» Früher bewährten sich Stars ja auf der Ochsentour über die Kleinbühnen. Die Kultur der «einen Chance» begünstigt dagegen Blender und künstlerische Kurzatmigkeit.
Die Repression folg der Verdummung
Klamauk-Unterhaltung mit sadistischen Untertönen ist nicht wirklich lustig. Wohin die Kombination aus Verdummungskultur und autoritärer Politik führen kann, zeigt das Beispiel Italien. In der Lebensbeschreibung des italienischen Liedermachers Pippo Pollina fällt dessen Biograf ein vernichtendes Urteil über Berlusconi-Land: «Im Grunde war Italien zu dem geworden, was er [Pippo] am meisten gefürchtet hatte. In nur zwei Jahrzehnten hatte die Macht das intellektuelle Niveau der Bevölkerung in strategischer Manier gesenkt. Damit war das Land manipulierbarer geworden. Der Protest wurde lahm gelegt, Falschinformationen verbreitet und das Hirn der Italiener mit Blödsinn gefüllt, damit sie leichter zu beeinflussen waren.»
Wüsste man nicht, dass sich das Zitat auf Italien bezieht, könnte man auch an Deutschland denken. Casting ist jedoch mehr als ein Teil der berlusconiesken Verdummungskultur. Von der Ausschreibung über das Assessment-Center bis zum Pisa-Test zeigen sich Casting und Ranking als Grundstrukturen einer Berufswelt, in der Menschen in Rivalität gezwungen und unerbittlichen Jurys unterworfen werden. Ein mächtiges Instrument der sozialen Selektion und Verhaltenssteuerung.
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