Die klammheimliche Sehnsucht nach dem Verbot
Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Vor einer Woche habe ich darzustellen versucht, wie unverfroren inzwischen der Staat auch in unserem Land macht, was er will. Was dazu führt, dass die Demokratie zur Fassade wird. Kaum war die Tinte meiner Zeilen getrocknet, sehe ich unsere demokratische Tradition auf andere Weise bedroht. Es war ein einziger Satz, den ich las. Doch der Satz enthält Sprengkraft:
«Die Schweiz hat keinen Platz für die SVP. Die SVP muss weg.» Das ist die Schlussfolgerung eines «Positionspapiers» der JUSO Schweiz, das am Parteitag der Jungsozialisten vor einer Woche in Uster verabschiedet wurde. Die viele Seiten umfassende Kampfschrift, in einem hochgerüsteten ideologischen Vokabular verfasst, beschreibt die SVP als eine tendenziell faschistische Partei, die längerfristig – wie die Geschichte immer wieder bewiesen habe – nicht davor zurückschrecken werde, unser Land in eine rechtsextreme Diktatur zu verwandeln.
Man kann von der SVP halten, was immer man will – aber ein faschistischer Wolf im Schafspelz ist sie vermutlich nicht. Es wurden auch nie Geheimpapiere entdeckt, die darauf hindeuten würden, dass die Partei hinter dem Rücken der Demokratie eine Machtübernahme plant. Trotzdem wird die Schweizerische Volkspartei in der Kampfschrift der Juso als so «gefährlich» bezeichnet, dass ihre Existenz eine Bedrohung für die Demokratie sei. Sie müsse deshalb «weg».
In Deutschland ist es kein Tabu mehr, eine Partei verbieten zu wollen. In der Schweiz wäre das undenkbar. Die Jungsozialisten getrauen sich deshalb noch nicht auszusprechen, was sie eigentlich wollen. Aber sie wollen es. Sie wollen verbieten. Denn die SVP ist nur «weg», wenn es sie offiziell nicht mehr geben darf.
Was aber würde das heissen, wenn die grösste Partei der Schweiz für verboten erklärt wird? Es würde bedeuten, dass die Opposition im Land fehlt. Denn die SVP ist die Opposition. Sie ist auch Regierungspartei, und viele ihrer Vertreter im Staat sind alles andere als Regimekritiker. Trotzdem ist es doch meistens so, dass die SVP Nein sagt, während alle anderen politischen Kräfte Ja sagen. Würde man die Partei verbieten, gäbe es im politischen Spektrum keine Nein-Sager mehr. Doch eine Demokratie ohne Opposition ist keine Demokratie.
Die Jungsozialisten würden natürlich bestreiten, dass das ihr Ziel ist. Sie behaupten, dass sie für die Demokratie sind. Aber in einer Zeit, in der sich Linksextreme als «Demokraten» bezeichnen und Demokraten als «Rechtsextreme» verteufelt werden, verlieren die Begriffe ihre Bedeutung. Wenn die Ideologen der Juso die SVP im Grunde verbieten wollen, dann verraten sie damit, was sie wirklich wollen: ein Ein-Parteien-System.
Das muss nicht bedeuten, dass es nur noch EINE Partei gibt. Viele sozialistische Staaten haben das Mehrparteien-System durchaus beibehalten. Doch die Parteien sagten alle das Gleiche. Sonst wurden auch sie verboten. Nein-Sager durfte es keine mehr geben.
Mit anderen Worten: Was die Juso eigentlich will, ist eine Autokratie – ganz nach dem historischen Vorbild der «Diktaturen des Proletariats», die wir aus der Geschichte kennen. Und schon damals, in den sozialistischen Staaten, war es nicht das Proletariat, das regierte. Das Kommando hatten stets die Parteifunktionäre. Dasselbe würde geschehen, wenn sich die Träume der Jungsozialisten erfüllen würden: Linke und grüne Technokraten würden die Schweiz regieren. Und die Opposition müsste in den Untergrund gehen.
Diese Gedankenspielerei, die keine Spielerei sein will, ist nichts Neues für mich. Ich war selber einmal ein Linksradikaler, linker noch als die Jungsozialisten. In den späten 70er Jahren gehörte ich einer kommunistischen Organisation an, die nichts weniger als die Revolution in der Schweiz zu ihrem strategischen Ziel erklärt hatte. Und im Unterschied zu den halben Portionen der Jungsozialisten von heute versteckten wir uns nicht hinter pseudo-demokratischen Phrasen. In unserer Parteizeitung konnte jedermann schwarz auf weiss lesen, dass wir die bürgerliche Demokratie abschaffen und mit dem Fernziel des Kommunismus eine sozialistische Schweiz verwirklichen wollten.
Wäre das Bundeshaus einmal erobert gewesen, hätte unsere kommunistische Kampffront jede Opposition auf der Stelle verboten. Kritik, so argumentierten wir, ist dem Aufbau der neuen Gesellschaft nur hinderlich. Die bürgerlichen Politiker, die Kapitalisten und überhaupt alle Gegner der Revolution wären von uns verhaftet oder in die Fabrik geschickt worden. Offenbar mussten Regimekritiker in der Sowjetunion in stinkenden Fischmehlfabriken schuften. Daraus wurde ein geflügelter Spruch, auch bei uns. Jeder, der uns Kommunisten politisch nicht passte, kam auf die Liste für die Fischmehlfabrik. Wir fühlten uns schon halb an der Macht.
Doch in der Schweiz liefen die Uhren anders als in der Sowjetunion. Politisch hatte unsere kommunistische Partei keine Chance. Dem Schweizer Proletariat ging es zu gut. Nach weniger als fünf Jahren brach das Kartenhaus unserer hochfliegenden Strategien zusammen, und wir lösten uns auf, so wie es zehn Jahre später mit dem ganzen Ostblock geschah. Auf die Dauer haben Ideologien keinen Bestand vor der Wirklichkeit.
Aber das «Gespenst des Kommunismus» – ein Zitat aus dem Kommunistischen Manifest – geht immer noch um. Auch in der Schweiz. Als «kommunistisch» würde die Juso sich nicht bezeichnen. Das Wort ist historisch belastet und für ein politisches Marketing nicht geeignet. Doch das Ziel ist noch immer dasselbe. Und auch die Jungsozialisten, vermute ich, haben bereits eine Liste für die Fischmehlfabrik.
Wer könnte auf dieser Liste stehen? Zunächst einmal garantiert sämtliche Führungspersonen der SVP – aber vielleicht auch weitere Namen. Namen von Gruppen und Einzelpersonen. Namen aus der Freiheitsbewegung. Jede Opposition gegen den herrschenden Zeitgeist ist den Juso ein Dorn im Auge. Am liebsten würden sie alle verbieten. Mit ihrem Parteitagsbeschluss haben sie eine erste kleine Bombe gezündet. Sie haben die Wünschbarkeit eines Verbots der Opposition zum ersten Mal indirekt ausgesprochen. Sie haben es sozusagen zur Diskussion gestellt.
Und das Erschreckende ist: Niemand hat protestiert. Keine einzige Partei hat das Spiel mit dem Feuer der Intoleranz verurteilt. Niemand hat von der SP gefordert, ihre Jungpartei in den Senkel zu stellen. Die Sozialdemokraten selbst haben sich mit keinem Wort distanziert. Und auch die Medien haben feige geschwiegen. Oder sind sie vielleicht gar nicht feige?
Offenbar gibt es in weiten Teilen des politischen Mainstreams eine klammheimliche Sehnsucht. Die Sehnsucht nach dem Verbot. Offenbar träumen auch im gemässigten Schweizerland viele vermeintlich seriöse politische Kräfte davon, die ungeliebte Opposition am besten gleich auszuschalten. In der Corona-Zeit erlebte das Volk eine erste Kostprobe, wie es sich anfühlt, wenn eine andere Meinung nicht mehr geduldet wird.
Der Opposition, auch in unserem Land, schlägt ein rauer Wind ins Gesicht. Heimliche Sehnsüchte haben die Neigung, sich zu verselbständigen. Verbote sind attraktiv. Aber das Leben kann auf die Dauer niemand verbieten.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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