Die Neutralität, eine heilige Kuh?
Hinter der Fassade der Neutralität entsteht ein Nato-kompatibles Sicherheits-Ökosystem, schreibt der Verein WIR. Er hält den Text der Neutralitätsinitiative für «schwamming, widersprüchlich und voller Hintertüren».
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«Wer noch an Neutralität glaubt, sollte die Rüstungsstrategie des Bundesrats studieren», schreibt Christian Oesch in einem Meinungsbeitrag auf der Website des Vereins WIR. Er kritisiert den Initiativtext scharf.

Offiziell hält die Schweiz an ihrer Neutralität fest. Strategiepapiere und Rüstungsvorhaben zeigen jedoch eine zunehmende Angleichung an westliche Sicherheitsarchitekturen, heisst es auf der Website des Vereins.

Die Neutralität ist seit Jahrhunderten ein Markenzeichen der Schweiz. Doch aktuelle Strategien des Bundesrats und internationale Partnerschaften verdeutlichten eine starke Annäherung an NATO- und EU-Strukturen, die nicht einfach rückgängig zu machen seien, meint Christian Oesch.

Besonders das Individually Tailored Partnership Programme (ITPP) mit der NATO markiere einen wichtigen Schritt: Es umfasst 29 konkrete Ziele, von NATO-konformen Kommunikationssystemen über Cyberabwehr bis hin zur Vorbereitung auf hybride Bedrohungen. Auch die Entwicklung disruptiver Technologien wie Künstliche Intelligenz, Quantencomputing oder Drohnensysteme ist Teil dieser Kooperation.

Die Rüstungspolitische Strategie 2025 ergänze diesen Kurs. Sie sieht die Sicherung nationaler Produktionskapazitäten, insbesondere bei Munition und Sprengstoffen, vor. Zudem sollen neue Technologien entwickelt, die Interoperabilität mit NATO-Systemen gewährleistet und Beschaffungsprozesse beschleunigt werden. Ziel ist auch ein Beitrag der Schweiz zur europäischen Sicherheit – ein Schritt, der über die traditionelle Auslegung von Neutralität hinausgeht.

Parallel entstünden in der Schweiz neue sicherheitsrelevante Cluster. «Wir reden nicht von Zufall, sondern von einem gezielt aufgebauten Sicherheits- und Rüstungs-Cluster: einer Industriegruppe, die wie Zahnräder ineinandergreift.»

Im Berner Oberland werden etwa das Labor Spiez modernisiert, die Explosivstoffproduktion von Rheinmetall Nitrochemie in Wimmis ausgebaut und Flugzeuge von Pilatus international eingesetzt. Offiziell dienen diese Einrichtungen der Forschung oder Prävention, stehen jedoch in engem Zusammenhang mit sicherheitspolitischen Fragestellungen.

Das Fazit von Christian Oesch: 

Zusammengenommen zeigt dieses Puzzle: Die Schweiz baut nicht zufällig hier ein Labor, dort ein Werk und da eine Flugzeugfabrik. Das ist ein abgestimmtes Sicherheits-Ökosystem, wie ein Baukasten, in dem Biologie, Chemie, Sprengstoff, Antriebstechnik und Luftplattformen nahtlos zusammenspielen. Nach aussen heisst es Sanierung, Innovation oder Gesundheitsschutz. In Wirklichkeit entsteht ein militärisch nutzbares Gesamtpaket, nur dass die Bevölkerung davon nichts erfährt, weil es hinter freundlichen Etiketten versteckt wird.

 

Wir haben Christian Oesch zu seinem Text ein paar Fragen gestellt:

 

Sie bezeichnen in Ihrem Artikel die Neutralität als «heilige Kuh». Soll sie nun geschlachtet werden? Oder andersherum gefragt: Halten Sie die Neutralitätsinitiative für sinnlos?

Christian OeschChristian Oesch: Der Ausdruck “heilige Kuh“ war bewusst gewählt. Denn Neutralität ist in der Schweiz nicht nur ein politisches Prinzip, sondern ein Mythos, ein identitätsstiftendes Narrativ, das seit Jahrzehnten gepflegt wird. Doch wie jede heilige Kuh schützt auch dieses Bild vor der nüchternen Wahrheit: Neutralität ist längst nicht mehr das, wofür sie ausgegeben wird. Der Neutralitätsbericht des Bundesrates von 1993 ist bis heute wegweisend. Dort wird Neutralität nicht als Dogma beschrieben, sondern als Instrument: „Neutralität ist kein Selbstzweck, sondern dient der Wahrung der Unabhängigkeit und der Handlungsfähigkeit der Schweiz.“ Der Schweizerische Verein WIR hält den aktuellen Initiativtext für ineffektiv. Nicht weil wir Neutralität abschaffen wollen, sondern weil wir der Realität ins Auge blicken: Neutralität funktioniert nur, wenn ein Land souverän ist und sie strikt durchsetzt.

Welche Strategie empfehlen Sie, um der Neutralitätsinitiative zum Erfolg zu verhelfen? Die Gegner sind mächtig und gut vernetzt. Die Befürworter sind vielleicht etwas romantisch und nicht zuletzt auch gespalten: Wichtige SVP-Parlamentarier wollen die Rüstungsindustrie vor den Folgen der Initiative schützen.

Mit dem aktuellen Initiativtext ist kein Erfolg möglich. Der Wortlaut ist schwammig, widersprüchlich und voller Hintertüren. Damit lassen sich weder die romantischen Befürworter einen noch die skeptischen Realpolitiker überzeugen. Wer ernsthaft eine Chance haben will, muss zuerst einen präzisen, juristisch wasserdichten und politisch realistischen Text erarbeiten. Mit dem jetzigen Entwurf bleibt die Initiative Symbolpolitik und Symbolpolitik gewinnt keine Abstimmungen in der Schweiz.

Zur Zeit sieht die Strategie der Gegner nach einer Verzögerung aus. Die Vernehmlassung, die die aussenpolitische Kommission des Nationalrats veranlasst hat, verschiebt den Abstimmungstermin um ein Jahr. Was ist Ihre Einschätzung: Wem hilft die Verzögerung?

Ein schwacher Text wird durch Abwarten nicht besser. Verzögerung ist kein Reifungsprozess, sondern ein Geschenk an die Gegner. Während die Initianten hoffen, dass ihre Leerformeln durch Zeit an Gewicht gewinnen, bauen die Gegner in Ruhe ihre Kampagne aus. Die Befürworter hingegen verlieren an Dynamik und verheddern sich weiter in internen Spaltungen. Wer glaubt, ein schwacher Initiativtext werde durch Aufschub besser, verwechselt Politik mit Kellerlagerung.


Die Website des «Schweizerischen Vereins WIR: https://www.vereinwir.ch

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