Die selbstgerechte Grausamkeit der Guten
7 Argumente gegen das Strafsystem (von Roland Rottenfußer)
„Wenn man die Geschichte erforscht (…), dann wird man völlig von Ekel erfüllt, nicht wegen der Taten der Verbrecher, sondern wegen der Strafen, die die Guten auferlegt haben; und eine Gemeinschaft wird unendlich mehr durch das gewohnheitsmäßige Verhängen von Strafen verroht als durch das gelegentliche Vorkommen von Verbrechen.“
(Oscar Wilde, aus dem Essay: „Der Sozialismus und die Seele des Menschen)
„Nachdem Nechljudow die Gefängnisse und Etappenstationen näher kennen gelernt hatte, sah er, dass alle die Laster, die sich unter den Häftlingen entwickeln (…), keine Zufälligkeiten oder Symptome der Entartung, des kriminellen Typs, der Degeneration waren, wie dies der Regierung zuliebe stumpfsinnige Gelehrte auslegen, sondern die unausweichliche Folge des unfassbaren Irrtums, dass Menschen andere Menschen bestrafen dürfen.“
(Lev N. Tolstoj, aus dem Roman „Auferstehung“)
Dieser Artikel ist ein erster Versuch (und „Essay“ bedeutet nichts anderes als „Versuch“), das heute mit Abstufungen überall auf der Welt gültige System des Bestrafens von Gesetzesübertretungen in Zweifel zu ziehen. Mir geht es dabei nicht so sehr darum, dass meine Anregungen sofort und vollständig umgesetzt werden (dies ist nicht denkbar und wäre sicher auch mit Risiken verbunden); vielmehr möchte ich das fast allgegenwärtige öffentliche Schweigen zu diesem Thema brechen. Der Skandal ist nicht, dass es bisher kein „perfektes System“ im Umgang mit Verbrechen und Regelübertretungen gibt (ein solches ist wohl nicht menschenmöglich), sondern die Tatsache, dass von den Verantwortlichen stur und ohne Ansätze von Einsicht an einem offensichtlich unzureichenden und schädlichen System festgehalten wird. Wenn in Politik und Medien überhaupt über Strafen geredet wird, dann nur im Sinne einer „Verschärfung“, einer Zunahme von „Härte“ und drastischen Sanktionen. Dies unterstützt den verhängnisvollen Trend, dass sich öffentliche Diskussionen heute generell nur noch um Verschlimmerungen der bisherigen Zustände (oder um die Verlangsamung dieser Verschlimmerungen durch gutwillige Kräfte) drehen. Enthüllungen über unfassbare Grausamkeiten des Gefängnissystems (z.B. über Selbstmorde und Morde unter Haftbedingungen) werden von „hart“, „scharf“ und „konsequent“ agierenden Politikern nur mit einem „Mehr desgleichen“ beantwortet – als ob eine höhere Dosis des Schädlichen die Krankheit beheben könnte.
Man muss zunächst dazu sagen, dass die Fixierung des kollektiven Geistes auf das Schema „Verbrechen – Strafe“ so allumfassend ist, dass es Erfahrungen mit einem in die praktische Justiz übernommenen System der Straffreiheit (religiös ausgedrückt: der Vergebung) nicht gibt. Man ist diesbezüglich auf Spekulationen angewiesen – ebenso wie bei der Vision eines konsequenten Pazifismus. Straffreiheit würde vermutlich zu einer Reihe von negativen Folgen führen. Dies gilt allerdings für das gegenwärtige Strafsystem auch. Will man über ein neues System nachdenken, so darf man dieses nicht an einem gedachten Idealzustand messen, sondern muss den momentanen (höchst unvollkommenen) Ist-Zustand zum Maßstab nehmen.
Ich möchte auch vorab sagen, dass der Schutz der (potenziellen, neuen) Opfer von Verbrechen auch mir wichtig ist. Meine Angehörigen und ich könnten ja ebenfalls zu Opfern werden. Allerdings muss man im Umgang mit Opfern zwischen drei Zielen unterscheiden: 1. Die Verhinderung neuer Straftaten, bei denen es Opfer geben könnte (das unterstütze ich, ich bezweifle aber, dass „harte Strafen“ der optimale Weg zum Ziel sind). 2. Die psychische Betreuung, Entschädigung und Rehabilitierung von Menschen, die bereits Opfer geworden sind (das finde ich sehr wichtig, und hier ist sicher noch nicht alles getan). 3. Die Befriedigung von Rachegefühlen der Opfer (diese sind menschlich verständlich, ich finde es jedoch bedenklich, wenn diese gleichsam zum „Staatsziel“ hochstilisiert werden). Bedenken gegenüber harten Strafen bzw. gegenüber der Ideologie des Strafens insgesamt sind also von meiner Seite nicht als „Verhöhnung der Opfer“ gedacht, sondern als Versuch, Situationen vorzubeugen, in denen Menschen zu Opfern und zu Tätern werden können. Dabei sollten außerdem keine neuen Opfer geschaffen werden. (Stichwort: Das Böse nicht bekämpfen, indem man sich ihm immer ähnlicher macht.)
Bei chronischen Fällen wie Vergewaltigern, bei denen große Wiederholungsgefahr besteht, werden leider weiterhin humane Formen des „Wegschließens“ – ergänzt durch Therapieversuche – notwendig sein. Wichtig ist dabei aber, dass man den Schutz der Gemeinschaft vor weiterer Schädigung durch den Straftäter entkoppelt von der bewussten Erzeugung psychischen Leids im Gefängnissystem. Praktisch könnte das bedeuten, dass bewachte Dörfer entstehen, in denen psychisch kranke Wiederholungstäter innerhalb des Geländes in weitgehender Freizügigkeit und Menschenwürde leben können. Konkrete Vorschläge, wie ein künftiges Strafsystem zu gestalten wäre, müssen ohnehin einem weiteren Artikel vorbehalten bleiben, der noch zu schreiben ist.
Ich unterscheide mit Erich Fromm zwischen der „rationalen“ und der „irrationalen Autorität“. Die Begriffe sind vielleicht nicht optimal gewählt, besagen aber ungefähr folgendes: Rationale Autorität versucht dem der Autorität Unterworfenen zu helfen, ihn zu fördern und zu belehren. Klassische Beispiele sind (gute) Ärzte und Lehrer. Als irrationale Autorität bezeichnet Fromm Formen der Machtausübung, die den Untergebenen ausbeuten, demütigen, schädigen oder Machtausübung als Selbstzweck praktizieren. In der Praxis vermischen sich beide Formen von Autorität oft, d.h. ein bestimmter Lehrer könnte seine Aufgabe teilweise verantwortungsbewusst ausführen, zugleich aber ein „autoritärer Knochen“ sein. Bei Politikern, bei der Polizei usw. finden wir wahrscheinlich häufig eine Vermischung beider Bereiche. Dies muss man im Auge behalten, anstatt naiv nur den „guten“, gemeinschaftsdienlichen Aspekt des Strafens zu betonen.
Hier also die Argumente im Einzelnen.
1. Nicht-Strafen wäre vielleicht gefährlich, Strafen ist es ohnehin.
Es ist klar, dass ein straffrei Davongekommener gefährdet ist, seine Tat zu wiederholen. Er hat ja gelernt, dass er nicht mit Folgen zu rechnen hat. Man muss aber berücksichtigen, wie viel Elend das Gefängnis über Menschen gebracht hat, wie groß die Rückfallquote hier ist. Laut „Welt online“, nicht unbedingt ein linkes oder anarchistisches Blatt, sitzt in den USA jeder hundertste Bürger hinter Gitter. Jeder zweite der ehemaligen Gefängnisinsassen wird aber innerhalb der nächsten drei Jahre wieder straffällig. Statistiken sprechen sogar von einer Rückfallquote von 90 Prozent bei Jugendlichem im geschlossenen Vollzug. Diese erbärmliche Bilanz des „Systems Gefängnisse“ steht in auffallendem Kontrast zu der zunehmenden Arroganz der „Harten Kerle“ unter den Sicherheitspolitikern in den USA und auch in Deutschland. Wie viele Menschen wurden in Gefängnissen erst zu aggressiven, traumatisierten, verzweifelten Wesen geworden sind, deren Leben erst jetzt – nach der Bestrafung seitens der „Guten“ – verpfuscht und unheilbar erkrankt ist? Strafen erschafft oft erst den „bösen“ Charakter, auf den es zu reagieren meint. Diese Schäden des herrschenden Systems muss man gegen die möglichen Schäden eines neuen abwägen.
2. Strafen verursacht Verrohung bei den ausführenden Organen.
Das Strafsystem ist der bewusste, wohlüberlegte und kalten Herzens exekutierte Versuch, für einen bestimmten Personenkreis eine künstliche Hölle zu kreieren. Die Frage beim Strafen ist immer: „Wie kann ich bewirken, dass es dem Bestraften schlecht geht, dass er leidet.“ Natürlich gibt es in „zivilisierten“ Nationen (ich kann die USA nicht mehr dazurechnen) gewisse Grenzen für das bewusste Schaffen von Leiden. Man soll sich aber nicht einbilden, dass Gefängnis keine psychische Folter wäre. Gefängnis ist als Ersatz für archaischere, gröbere Strafformen kreiert worden. Es ist die Fortsetzung der Folter auf einer verfeinerten, psychischen Ebene (mit gewissen Abstufungen im humanen Strafvollzug natürlich). Diese ganze Denkweise muss notwendig bei denjenigen, die sie beschließen und exekutieren, zu einer Verrohung des Denkens und Fühlens führen. Ich weiß nicht, ob es Untersuchungen über die psychische Belastung gibt, denen etwa Gefängniswärter oder Vollstrecker der Todesstrafe ausgesetzt sind. Das Gefängnis als Arbeitsbereich dürfte aber nicht ohne deprimierende psychische Folgen auf die Vollstrecker von Strafen bleiben. Bei Folterern und Todesexekutoren (wie in Guantanamo, Abu Ghraib, im US-Todeszellenbetrieb) ist die Erfüllung der beruflichen Pflichten nur durch eine völlige Brechung der charakterlichen Integrität, durch eine innere Aushöhlung und Entseelung denkbar. In solchen Fällen missbraucht der Staat innerlich nicht gefestigte Bürger für seine Zwecke, indem er ihnen einredet, dass sie auf Seiten des „Guten“ etwas „Anständiges“ täten. Auf einer tieferen Seelenebene dürften sie aber sehr wohl wissen, dass sie sich an einem Unternehmen von fragwürdigem moralischem Gehalt beteiligen. Zurück bleiben zerstörte oder zumindest stark abgestumpfte Menschen.
3. Strafen bedeutet Rücksichtslosigkeit gegenüber den „Mitbestraften“.
Viele kennen von Leih-DVDs die Propaganda gegen Raubkopien. In einem Werbefilm singen Kinder vor dem Gefängnistor für den einsitzenden Vater ein Lied. Dieser hatte sich des illegalen Downlowdens von Filmen schuldig gemacht hat. Der Film zeigt es überdeutlich und auf abstoßende Weise: Kinder, Ehefrauen, Eltern usw., also Angehörige von Gefängnisinsassen werden vom Justizsystem mit größter Selbstverständlichkeit mitbestraft. Man nimmt z.B. eher in Kauf, dass ein Kind im Gefängnis (in den Umständen entsprechend gut organisierten Betreuungseinrichtungen) aufwächst, als dass um des Kindes willen die Mutter von der Strafe verschont bleibt. Ist nicht jedes Leid, das einem Unschuldigen in der Absicht des „Strafens“ zugefügt wird, in mindestens demselben Maße ein Verbrechen wie das Verbrechen selbst? Wenn es um die Behandlung von „Sekundärbestraften“ geht, gilt der pervertierte Grundsatz: „Eher strafen wir einen Unschuldigen (mit), als dass ein Schuldiger straffrei ausgeht.“
4. Strafen ist anmaßend und hat projektiven Charakter
Ich glaube, dieser Punkt leuchtet schnell ein. Wer christlich aufgewachsen ist, könnte dabei z.B. an die Aufforderung Jesu denken, zuerst den Balken im eigenen Auge zu entfernen, bevor man auf den Splitter im Auge des Anderen zeigt. Wer zu Strafen verurteilt oder an der Exekution von Strafen beteiligt ist, nimmt für sich willkürlich eine Position angemaßter „Reinheit“ in Anspruch. Seine eigenen Fehler und Sünden „tun nichts zur Sache.“ Der Richter ist, wie Konstantin Wecker formulierte „hauptberuflich im Recht“. Wäre er jemals von Selbstzweifeln angefochten, wäre er für seinen Dienst wohl nicht tauglich. Für den Richter, den Vollzugsbeamten, aber auch für die geifernde Menge, die sich (in unserer „zivilisierten“ Epoche nur im übertragenen Sinne) als Zuschauer unter dem Schafott sammelt, bedeutet das Strafen eine psychische Entlastung im Hinblick auf eigene möglicherweise unterdrückte Schuldgefühle. Der Exekutierte wird zu Zwecken einer projektiven Selbstentlastung der „Guten“ instrumentalisiert.
5. Strafen bedeutet kalkulierte Grausamkeit mit gutem Gewissen.
Friedrich Nietzsche hat diesen Punkt in „Genealogie der Moral“ sehr schlüssig dargestellt. Er nimmt eine raubtierhafte natürliche Grausamkeit als menschliche Grundkonstante an. Diese Grausamkeit ist zwar durch die Zivilisation gebändigt worden, bricht aber unter der dünnen Hülle der Kultur hervor, sobald Gründe auftauchen, die es dem Menschen erlauben, mit guten Gewissen grausam zu sein. Der häufigste dieser Vorwände ist, dass es sich bei dem Opfer um einen (tatsächlich oder vermeintlich) Schuldigen handelt, den man nun nach Belieben beschimpfen, bespucken, berauben, demütigen und einsperren darf. Da die Grausamkeit nie ganz verschwindet, vom Menschen aber als uneingestandener Schatten nicht freimütig ausgelebt werden kann, ist die Existenz von „Schuldigen“, die guten Gewissens bestraft werden dürfen, ein willkommenes Ventil. Es wird immer solche Sündenböcke geben dürfen, die der anständige Mensch „als ein Unter-sich verachten darf“ (Nietzsche). Dort wo sich Grausamkeit nicht buchstäblich Bahn bricht, will sich zumindest das menschliche Grundbedürfnis nach Verachtung an einem „Verachtenswerten“ ausagieren dürfen.
6. Ein Strafsystem ist schon dann ungerecht, wenn ihm kein adäquates Belohnungssystem gegenüber steht.
Es ist im Grunde ein sehr einfaches Argument, dennoch fehlt es in allen mir bekannten Diskussionen über das Strafsystem leider völlig: Ein Staat, der nicht fähig ist, zu würdigen und zu belohnen, hat sein Recht verspielt, zu strafen. Überall gibt es diese Bipolarität von Belohnen und Bestrafen: etwa in der Kindererziehung und im Wirtschaftsleben (Untersuchungen zeigen, dass ein Chef gut daran tut, sogar ein bisschen häufiger zu loben als zu kritisieren). Sogar in der gestrengen hinduistischen Karmalehre gibt es auch etwas wie gutes Karma. Und die als besonders hartherzig geltenden Banken- und Finanzwelt kennt Schulden und Guthaben. Nur in der Strafjustiz haben wie diese „unipolare“ Lösung. Die Haltung der Justiz gegenüber dem Bürger ist: Ignorieren oder Bestrafen. Wenn jemand sein Leben lang anständig lebt, geschieht gar nicht. Nur in besonders dramatischen Fällen von Wohlverhalten gibt es Anerkennung: meist in Form eines Ordens oder einer Plakette. Um eine Geldbelohnung (analog zur Geldstrafe) zu bekommen, muss man schon Nobelpreisträger sein. Ein solches Justizsystem folgt dem Prinzip der Schwarzen Pädagogik: D.h. Makelloses Wohlverhalten wird als selbstverständlich betrachtet, jeder Verstoß dagegen bewirkt sofort „Straffälligkeit“. Übertragen auf andere Verhältnisse (etwa Kindererziehung und Beruf) hätten wir bei einer solchen Vorgehensweise als Folge seelisch verkrüppelte Kinder und unmotivierte, niedergedrückte Mitarbeiter.
Man kann das besonders deutlich an dem uns allen vertrauten Phänomen der Ahndung von Verkehrssünden beobachten. Ich kann mich nicht erinnern, jemals für eine besonders umsichtige Fahrweise, für Rücksicht gegenüber Verkehrsteilnehmern, für Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen über Wochen, Monate oder gar Jahre, belohnt worden zu sein. Kein Polizist winkte mich an den Straßenrand, um mich für mein gutes Fahrverhalten zu belobigen und drückte mir zur Anerkennung 50 Euro in die Hand. Aber wehe, man macht den geringsten Fehler …! Hätte ich die Leben von 10 Menschen gerettet und am selben Tag doch die vorgeschriebene Geschwindigkeit an einer ungefährlichen Stelle um 20 km/h überschritten wäre das Ergebnis – eine saftige Strafe. Manchmal fahre ich auf der Strecke nach München (ca. 1 Std. Fahrzeit) und bin angenehm berührt von der Tatsache, dass jeder, aber auch jeder der vielen Hundert Verkehrsteilnehmer, die mir begegnen, mich auf äußerst rücksichtsvolle Weise behandelt, immer bemüht, mir keinen Schaden zuzufügen, sorgfältig jedem möglichen Zusammenstoß schon im Vorfeld auszuweichen. Von Würdigung durch die Staatsmacht keine Spur.
Auf die Etablierung eines „Belohnungssystems“ mit „Belohnungsprozessen“ und „Belohnungsheimen“ (also genussorientierten Erholungsheimen für gute Menschen, analog zu den Bestrafungsheimen, den Gefängnissen) warte ich bis heute vergebens. Solche Ideen erscheinen skurril und abwegig. So sehr haben wir gelernt, uns unter der Knute jener anmaßenden schwarzen Justizpädagogik zu ducken, dass wir ein Belohnungssystem nicht einmal zu denken wagen. „Es ist schon in Ordnung, wenn jemand regiert“, sang Konstantin Wecker ironisch. „Es ist schon in Ordnung, wenn jemand bestraft“ blöken die meisten Bürger dazu im Chor. Es hat schon eine masochistische Komponente, wenn Menschen sich Strafen ohne Murren beugen, während sie praktisch nie ihre Stimme erheben, um ein gerechtes Belohnungssystem zu fordern.
7. Strafen hat gesellschaftlich repressive Funktion.
Es stabilisiert den Status der Mächtigen und hält Ohnmächtige gefügig. Dieser Punkt gilt sicher nicht für alle Delikte. Man muss aber untersuchen, ob in einigen Fällen schikanöser Verbote nicht das Verbot selbst das größte Verbrechen ist. Man denke dabei einerseits an typische „politische Delikte“: Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, gegen Demonstrationsauflagen, „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ und dergleichen. Man denke zum anderen an Drogendelikte (in den USA der häufigste Grund für Gefängnisaufenthalte). Im Gulagsystem der USA ist bereits jeder Hundertste Bürger ein Strafgefangener, in Deutschland kaum jeder Tausendste. Drogendelikte sind ein Protest gegen die Anmaßung des Staates, darüber zu bestimmen, in welchen Bewusstseinszustand sich ein Mensch versetzen und auf welche Weise er sich selbst schädigen will (Komasaufen auf dem Oktoberfest: gut, Joint bei Kulturfestivals: böse). Natürlich darf man dem Heroinhandel nicht einfach freien Lauf lassen, man darf aber niemals Suchtkranke bestrafen. Der dritte Bereich, der hier zu erwähnen ist, sind Eigentumsdelikte. Der Schutz des Privateigentums geht von der Voraussetzung aus, dass das Eigentum in einem Land derzeit gerecht verteilt ist, was natürlich Unfug ist. Ich denke, die Zahl der Eigentumsdelikte ist angesichts des tatsächlichen und gefühlten sozialen Unrechts in Deutschland noch erfreulich gering. Dennoch muss jemand, der Privateigentum verletzt, manchmal härtere Strafen fürchten als jemand, der Menschen verletzt. Es immer so gewesen, dass Reiche Sicherheitskräfte dafür bezahlt haben, dass diese ihre „Beute“ gegen den Mob verteidigen.
(Oscar Wilde, aus dem Essay: „Der Sozialismus und die Seele des Menschen)
„Nachdem Nechljudow die Gefängnisse und Etappenstationen näher kennen gelernt hatte, sah er, dass alle die Laster, die sich unter den Häftlingen entwickeln (…), keine Zufälligkeiten oder Symptome der Entartung, des kriminellen Typs, der Degeneration waren, wie dies der Regierung zuliebe stumpfsinnige Gelehrte auslegen, sondern die unausweichliche Folge des unfassbaren Irrtums, dass Menschen andere Menschen bestrafen dürfen.“
(Lev N. Tolstoj, aus dem Roman „Auferstehung“)
Dieser Artikel ist ein erster Versuch (und „Essay“ bedeutet nichts anderes als „Versuch“), das heute mit Abstufungen überall auf der Welt gültige System des Bestrafens von Gesetzesübertretungen in Zweifel zu ziehen. Mir geht es dabei nicht so sehr darum, dass meine Anregungen sofort und vollständig umgesetzt werden (dies ist nicht denkbar und wäre sicher auch mit Risiken verbunden); vielmehr möchte ich das fast allgegenwärtige öffentliche Schweigen zu diesem Thema brechen. Der Skandal ist nicht, dass es bisher kein „perfektes System“ im Umgang mit Verbrechen und Regelübertretungen gibt (ein solches ist wohl nicht menschenmöglich), sondern die Tatsache, dass von den Verantwortlichen stur und ohne Ansätze von Einsicht an einem offensichtlich unzureichenden und schädlichen System festgehalten wird. Wenn in Politik und Medien überhaupt über Strafen geredet wird, dann nur im Sinne einer „Verschärfung“, einer Zunahme von „Härte“ und drastischen Sanktionen. Dies unterstützt den verhängnisvollen Trend, dass sich öffentliche Diskussionen heute generell nur noch um Verschlimmerungen der bisherigen Zustände (oder um die Verlangsamung dieser Verschlimmerungen durch gutwillige Kräfte) drehen. Enthüllungen über unfassbare Grausamkeiten des Gefängnissystems (z.B. über Selbstmorde und Morde unter Haftbedingungen) werden von „hart“, „scharf“ und „konsequent“ agierenden Politikern nur mit einem „Mehr desgleichen“ beantwortet – als ob eine höhere Dosis des Schädlichen die Krankheit beheben könnte.
Man muss zunächst dazu sagen, dass die Fixierung des kollektiven Geistes auf das Schema „Verbrechen – Strafe“ so allumfassend ist, dass es Erfahrungen mit einem in die praktische Justiz übernommenen System der Straffreiheit (religiös ausgedrückt: der Vergebung) nicht gibt. Man ist diesbezüglich auf Spekulationen angewiesen – ebenso wie bei der Vision eines konsequenten Pazifismus. Straffreiheit würde vermutlich zu einer Reihe von negativen Folgen führen. Dies gilt allerdings für das gegenwärtige Strafsystem auch. Will man über ein neues System nachdenken, so darf man dieses nicht an einem gedachten Idealzustand messen, sondern muss den momentanen (höchst unvollkommenen) Ist-Zustand zum Maßstab nehmen.
Ich möchte auch vorab sagen, dass der Schutz der (potenziellen, neuen) Opfer von Verbrechen auch mir wichtig ist. Meine Angehörigen und ich könnten ja ebenfalls zu Opfern werden. Allerdings muss man im Umgang mit Opfern zwischen drei Zielen unterscheiden: 1. Die Verhinderung neuer Straftaten, bei denen es Opfer geben könnte (das unterstütze ich, ich bezweifle aber, dass „harte Strafen“ der optimale Weg zum Ziel sind). 2. Die psychische Betreuung, Entschädigung und Rehabilitierung von Menschen, die bereits Opfer geworden sind (das finde ich sehr wichtig, und hier ist sicher noch nicht alles getan). 3. Die Befriedigung von Rachegefühlen der Opfer (diese sind menschlich verständlich, ich finde es jedoch bedenklich, wenn diese gleichsam zum „Staatsziel“ hochstilisiert werden). Bedenken gegenüber harten Strafen bzw. gegenüber der Ideologie des Strafens insgesamt sind also von meiner Seite nicht als „Verhöhnung der Opfer“ gedacht, sondern als Versuch, Situationen vorzubeugen, in denen Menschen zu Opfern und zu Tätern werden können. Dabei sollten außerdem keine neuen Opfer geschaffen werden. (Stichwort: Das Böse nicht bekämpfen, indem man sich ihm immer ähnlicher macht.)
Bei chronischen Fällen wie Vergewaltigern, bei denen große Wiederholungsgefahr besteht, werden leider weiterhin humane Formen des „Wegschließens“ – ergänzt durch Therapieversuche – notwendig sein. Wichtig ist dabei aber, dass man den Schutz der Gemeinschaft vor weiterer Schädigung durch den Straftäter entkoppelt von der bewussten Erzeugung psychischen Leids im Gefängnissystem. Praktisch könnte das bedeuten, dass bewachte Dörfer entstehen, in denen psychisch kranke Wiederholungstäter innerhalb des Geländes in weitgehender Freizügigkeit und Menschenwürde leben können. Konkrete Vorschläge, wie ein künftiges Strafsystem zu gestalten wäre, müssen ohnehin einem weiteren Artikel vorbehalten bleiben, der noch zu schreiben ist.
Ich unterscheide mit Erich Fromm zwischen der „rationalen“ und der „irrationalen Autorität“. Die Begriffe sind vielleicht nicht optimal gewählt, besagen aber ungefähr folgendes: Rationale Autorität versucht dem der Autorität Unterworfenen zu helfen, ihn zu fördern und zu belehren. Klassische Beispiele sind (gute) Ärzte und Lehrer. Als irrationale Autorität bezeichnet Fromm Formen der Machtausübung, die den Untergebenen ausbeuten, demütigen, schädigen oder Machtausübung als Selbstzweck praktizieren. In der Praxis vermischen sich beide Formen von Autorität oft, d.h. ein bestimmter Lehrer könnte seine Aufgabe teilweise verantwortungsbewusst ausführen, zugleich aber ein „autoritärer Knochen“ sein. Bei Politikern, bei der Polizei usw. finden wir wahrscheinlich häufig eine Vermischung beider Bereiche. Dies muss man im Auge behalten, anstatt naiv nur den „guten“, gemeinschaftsdienlichen Aspekt des Strafens zu betonen.
Hier also die Argumente im Einzelnen.
1. Nicht-Strafen wäre vielleicht gefährlich, Strafen ist es ohnehin.
Es ist klar, dass ein straffrei Davongekommener gefährdet ist, seine Tat zu wiederholen. Er hat ja gelernt, dass er nicht mit Folgen zu rechnen hat. Man muss aber berücksichtigen, wie viel Elend das Gefängnis über Menschen gebracht hat, wie groß die Rückfallquote hier ist. Laut „Welt online“, nicht unbedingt ein linkes oder anarchistisches Blatt, sitzt in den USA jeder hundertste Bürger hinter Gitter. Jeder zweite der ehemaligen Gefängnisinsassen wird aber innerhalb der nächsten drei Jahre wieder straffällig. Statistiken sprechen sogar von einer Rückfallquote von 90 Prozent bei Jugendlichem im geschlossenen Vollzug. Diese erbärmliche Bilanz des „Systems Gefängnisse“ steht in auffallendem Kontrast zu der zunehmenden Arroganz der „Harten Kerle“ unter den Sicherheitspolitikern in den USA und auch in Deutschland. Wie viele Menschen wurden in Gefängnissen erst zu aggressiven, traumatisierten, verzweifelten Wesen geworden sind, deren Leben erst jetzt – nach der Bestrafung seitens der „Guten“ – verpfuscht und unheilbar erkrankt ist? Strafen erschafft oft erst den „bösen“ Charakter, auf den es zu reagieren meint. Diese Schäden des herrschenden Systems muss man gegen die möglichen Schäden eines neuen abwägen.
2. Strafen verursacht Verrohung bei den ausführenden Organen.
Das Strafsystem ist der bewusste, wohlüberlegte und kalten Herzens exekutierte Versuch, für einen bestimmten Personenkreis eine künstliche Hölle zu kreieren. Die Frage beim Strafen ist immer: „Wie kann ich bewirken, dass es dem Bestraften schlecht geht, dass er leidet.“ Natürlich gibt es in „zivilisierten“ Nationen (ich kann die USA nicht mehr dazurechnen) gewisse Grenzen für das bewusste Schaffen von Leiden. Man soll sich aber nicht einbilden, dass Gefängnis keine psychische Folter wäre. Gefängnis ist als Ersatz für archaischere, gröbere Strafformen kreiert worden. Es ist die Fortsetzung der Folter auf einer verfeinerten, psychischen Ebene (mit gewissen Abstufungen im humanen Strafvollzug natürlich). Diese ganze Denkweise muss notwendig bei denjenigen, die sie beschließen und exekutieren, zu einer Verrohung des Denkens und Fühlens führen. Ich weiß nicht, ob es Untersuchungen über die psychische Belastung gibt, denen etwa Gefängniswärter oder Vollstrecker der Todesstrafe ausgesetzt sind. Das Gefängnis als Arbeitsbereich dürfte aber nicht ohne deprimierende psychische Folgen auf die Vollstrecker von Strafen bleiben. Bei Folterern und Todesexekutoren (wie in Guantanamo, Abu Ghraib, im US-Todeszellenbetrieb) ist die Erfüllung der beruflichen Pflichten nur durch eine völlige Brechung der charakterlichen Integrität, durch eine innere Aushöhlung und Entseelung denkbar. In solchen Fällen missbraucht der Staat innerlich nicht gefestigte Bürger für seine Zwecke, indem er ihnen einredet, dass sie auf Seiten des „Guten“ etwas „Anständiges“ täten. Auf einer tieferen Seelenebene dürften sie aber sehr wohl wissen, dass sie sich an einem Unternehmen von fragwürdigem moralischem Gehalt beteiligen. Zurück bleiben zerstörte oder zumindest stark abgestumpfte Menschen.
3. Strafen bedeutet Rücksichtslosigkeit gegenüber den „Mitbestraften“.
Viele kennen von Leih-DVDs die Propaganda gegen Raubkopien. In einem Werbefilm singen Kinder vor dem Gefängnistor für den einsitzenden Vater ein Lied. Dieser hatte sich des illegalen Downlowdens von Filmen schuldig gemacht hat. Der Film zeigt es überdeutlich und auf abstoßende Weise: Kinder, Ehefrauen, Eltern usw., also Angehörige von Gefängnisinsassen werden vom Justizsystem mit größter Selbstverständlichkeit mitbestraft. Man nimmt z.B. eher in Kauf, dass ein Kind im Gefängnis (in den Umständen entsprechend gut organisierten Betreuungseinrichtungen) aufwächst, als dass um des Kindes willen die Mutter von der Strafe verschont bleibt. Ist nicht jedes Leid, das einem Unschuldigen in der Absicht des „Strafens“ zugefügt wird, in mindestens demselben Maße ein Verbrechen wie das Verbrechen selbst? Wenn es um die Behandlung von „Sekundärbestraften“ geht, gilt der pervertierte Grundsatz: „Eher strafen wir einen Unschuldigen (mit), als dass ein Schuldiger straffrei ausgeht.“
4. Strafen ist anmaßend und hat projektiven Charakter
Ich glaube, dieser Punkt leuchtet schnell ein. Wer christlich aufgewachsen ist, könnte dabei z.B. an die Aufforderung Jesu denken, zuerst den Balken im eigenen Auge zu entfernen, bevor man auf den Splitter im Auge des Anderen zeigt. Wer zu Strafen verurteilt oder an der Exekution von Strafen beteiligt ist, nimmt für sich willkürlich eine Position angemaßter „Reinheit“ in Anspruch. Seine eigenen Fehler und Sünden „tun nichts zur Sache.“ Der Richter ist, wie Konstantin Wecker formulierte „hauptberuflich im Recht“. Wäre er jemals von Selbstzweifeln angefochten, wäre er für seinen Dienst wohl nicht tauglich. Für den Richter, den Vollzugsbeamten, aber auch für die geifernde Menge, die sich (in unserer „zivilisierten“ Epoche nur im übertragenen Sinne) als Zuschauer unter dem Schafott sammelt, bedeutet das Strafen eine psychische Entlastung im Hinblick auf eigene möglicherweise unterdrückte Schuldgefühle. Der Exekutierte wird zu Zwecken einer projektiven Selbstentlastung der „Guten“ instrumentalisiert.
5. Strafen bedeutet kalkulierte Grausamkeit mit gutem Gewissen.
Friedrich Nietzsche hat diesen Punkt in „Genealogie der Moral“ sehr schlüssig dargestellt. Er nimmt eine raubtierhafte natürliche Grausamkeit als menschliche Grundkonstante an. Diese Grausamkeit ist zwar durch die Zivilisation gebändigt worden, bricht aber unter der dünnen Hülle der Kultur hervor, sobald Gründe auftauchen, die es dem Menschen erlauben, mit guten Gewissen grausam zu sein. Der häufigste dieser Vorwände ist, dass es sich bei dem Opfer um einen (tatsächlich oder vermeintlich) Schuldigen handelt, den man nun nach Belieben beschimpfen, bespucken, berauben, demütigen und einsperren darf. Da die Grausamkeit nie ganz verschwindet, vom Menschen aber als uneingestandener Schatten nicht freimütig ausgelebt werden kann, ist die Existenz von „Schuldigen“, die guten Gewissens bestraft werden dürfen, ein willkommenes Ventil. Es wird immer solche Sündenböcke geben dürfen, die der anständige Mensch „als ein Unter-sich verachten darf“ (Nietzsche). Dort wo sich Grausamkeit nicht buchstäblich Bahn bricht, will sich zumindest das menschliche Grundbedürfnis nach Verachtung an einem „Verachtenswerten“ ausagieren dürfen.
6. Ein Strafsystem ist schon dann ungerecht, wenn ihm kein adäquates Belohnungssystem gegenüber steht.
Es ist im Grunde ein sehr einfaches Argument, dennoch fehlt es in allen mir bekannten Diskussionen über das Strafsystem leider völlig: Ein Staat, der nicht fähig ist, zu würdigen und zu belohnen, hat sein Recht verspielt, zu strafen. Überall gibt es diese Bipolarität von Belohnen und Bestrafen: etwa in der Kindererziehung und im Wirtschaftsleben (Untersuchungen zeigen, dass ein Chef gut daran tut, sogar ein bisschen häufiger zu loben als zu kritisieren). Sogar in der gestrengen hinduistischen Karmalehre gibt es auch etwas wie gutes Karma. Und die als besonders hartherzig geltenden Banken- und Finanzwelt kennt Schulden und Guthaben. Nur in der Strafjustiz haben wie diese „unipolare“ Lösung. Die Haltung der Justiz gegenüber dem Bürger ist: Ignorieren oder Bestrafen. Wenn jemand sein Leben lang anständig lebt, geschieht gar nicht. Nur in besonders dramatischen Fällen von Wohlverhalten gibt es Anerkennung: meist in Form eines Ordens oder einer Plakette. Um eine Geldbelohnung (analog zur Geldstrafe) zu bekommen, muss man schon Nobelpreisträger sein. Ein solches Justizsystem folgt dem Prinzip der Schwarzen Pädagogik: D.h. Makelloses Wohlverhalten wird als selbstverständlich betrachtet, jeder Verstoß dagegen bewirkt sofort „Straffälligkeit“. Übertragen auf andere Verhältnisse (etwa Kindererziehung und Beruf) hätten wir bei einer solchen Vorgehensweise als Folge seelisch verkrüppelte Kinder und unmotivierte, niedergedrückte Mitarbeiter.
Man kann das besonders deutlich an dem uns allen vertrauten Phänomen der Ahndung von Verkehrssünden beobachten. Ich kann mich nicht erinnern, jemals für eine besonders umsichtige Fahrweise, für Rücksicht gegenüber Verkehrsteilnehmern, für Einhaltung der Geschwindigkeitsbegrenzungen über Wochen, Monate oder gar Jahre, belohnt worden zu sein. Kein Polizist winkte mich an den Straßenrand, um mich für mein gutes Fahrverhalten zu belobigen und drückte mir zur Anerkennung 50 Euro in die Hand. Aber wehe, man macht den geringsten Fehler …! Hätte ich die Leben von 10 Menschen gerettet und am selben Tag doch die vorgeschriebene Geschwindigkeit an einer ungefährlichen Stelle um 20 km/h überschritten wäre das Ergebnis – eine saftige Strafe. Manchmal fahre ich auf der Strecke nach München (ca. 1 Std. Fahrzeit) und bin angenehm berührt von der Tatsache, dass jeder, aber auch jeder der vielen Hundert Verkehrsteilnehmer, die mir begegnen, mich auf äußerst rücksichtsvolle Weise behandelt, immer bemüht, mir keinen Schaden zuzufügen, sorgfältig jedem möglichen Zusammenstoß schon im Vorfeld auszuweichen. Von Würdigung durch die Staatsmacht keine Spur.
Auf die Etablierung eines „Belohnungssystems“ mit „Belohnungsprozessen“ und „Belohnungsheimen“ (also genussorientierten Erholungsheimen für gute Menschen, analog zu den Bestrafungsheimen, den Gefängnissen) warte ich bis heute vergebens. Solche Ideen erscheinen skurril und abwegig. So sehr haben wir gelernt, uns unter der Knute jener anmaßenden schwarzen Justizpädagogik zu ducken, dass wir ein Belohnungssystem nicht einmal zu denken wagen. „Es ist schon in Ordnung, wenn jemand regiert“, sang Konstantin Wecker ironisch. „Es ist schon in Ordnung, wenn jemand bestraft“ blöken die meisten Bürger dazu im Chor. Es hat schon eine masochistische Komponente, wenn Menschen sich Strafen ohne Murren beugen, während sie praktisch nie ihre Stimme erheben, um ein gerechtes Belohnungssystem zu fordern.
7. Strafen hat gesellschaftlich repressive Funktion.
Es stabilisiert den Status der Mächtigen und hält Ohnmächtige gefügig. Dieser Punkt gilt sicher nicht für alle Delikte. Man muss aber untersuchen, ob in einigen Fällen schikanöser Verbote nicht das Verbot selbst das größte Verbrechen ist. Man denke dabei einerseits an typische „politische Delikte“: Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, gegen Demonstrationsauflagen, „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ und dergleichen. Man denke zum anderen an Drogendelikte (in den USA der häufigste Grund für Gefängnisaufenthalte). Im Gulagsystem der USA ist bereits jeder Hundertste Bürger ein Strafgefangener, in Deutschland kaum jeder Tausendste. Drogendelikte sind ein Protest gegen die Anmaßung des Staates, darüber zu bestimmen, in welchen Bewusstseinszustand sich ein Mensch versetzen und auf welche Weise er sich selbst schädigen will (Komasaufen auf dem Oktoberfest: gut, Joint bei Kulturfestivals: böse). Natürlich darf man dem Heroinhandel nicht einfach freien Lauf lassen, man darf aber niemals Suchtkranke bestrafen. Der dritte Bereich, der hier zu erwähnen ist, sind Eigentumsdelikte. Der Schutz des Privateigentums geht von der Voraussetzung aus, dass das Eigentum in einem Land derzeit gerecht verteilt ist, was natürlich Unfug ist. Ich denke, die Zahl der Eigentumsdelikte ist angesichts des tatsächlichen und gefühlten sozialen Unrechts in Deutschland noch erfreulich gering. Dennoch muss jemand, der Privateigentum verletzt, manchmal härtere Strafen fürchten als jemand, der Menschen verletzt. Es immer so gewesen, dass Reiche Sicherheitskräfte dafür bezahlt haben, dass diese ihre „Beute“ gegen den Mob verteidigen.
09. April 2009
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