«Diesmal war ich selbst der Betroffene»
Oktober 1973. Ich will den Boden nicht unter den Füssen verlieren und vermisse die Auffangstation. Ich zweifle am Schreiben, möchte Christine sehen – und engagiere mich gegen die Schliessung des Polyfoyers. SERIE «Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft» #68 von Nicolas Lindt.
Meine Kündigung an der Auffangstation fiel mir leicht und nicht leicht. Sie fiel mir leicht aus «politischen» Gründen, die für mich inzwischen so oberwichtig geworden waren, dass ich meine Aktivitäten mehr und mehr nur noch danach bewertete, ob sie meinem Engagement dienten. Und da ich in der Szene der Ausgeflippten kein «revolutionäres Potenazial» sah, kehrte ich von meinem Ausflug in die Sozialarbeit definitiv zurück in die vertraute Domäne des Schreibens, das immer mehr verschmolz mit meiner neugewonnenen Weltsicht.
Leicht gemacht wurde mir das Ausscheiden aus der Auffangstation auch deshalb, weil ich in ein Team eingespannt war, dem gegenüber ich Rechenschaft ablegen musste und dessen Kritik ich ausgesetzt war. Kritik und Kontrolle hatte ich zwar in der Schule permanent schlucken müssen, aber wenn ich für Zeitungen schrieb, war ich stets mein eigener Mensch und Meister gewesen. Nur selten war ein Beitrag von mir bemängelt oder zurückgeschickt worden, und wenn ein Redaktor Kürzungen vornahm, redete ich mir jedes Mal ein, er habe mich zensurieren wollen. Dass ein Satz ganz einfach misslungen war oder dass ich mich wiederholte, fiel mir nicht ein.
Im Team der Auffangstation dagegen sah ich mich plötzlich grösstenteils Erwachsenen gegenüber, die bereits über Lebenserfahrung verfügten und mich nicht schonten, sondern beruflich wie menschlich forderten. Das war der Tribut, den ich, der mit Abstand Jüngste, für ihren Vertrauensvorschuss entrichten musste. Schon bald – in der ersten Zeit, als ich noch bei den Eltern wohnte – wurde mir klar, dass die Lebensschule, in die ich hier eintrat, strenger war als die Schule, die ich hinter mir hatte. Immer wieder und vor allem seitdem ich festangestellter Praktikant war, klagte ich meinem geduldigen Tagebuch, wie hart ich mich manchmal angefasst fühlte – und wie ungerecht ich das fand.
«Ich werde nicht wie zuhause oder über mein Schreiben vorbehaltlos akzeptiert und bewundert, sondern sie üben Kritik an mir, wie es niemand sonst bisher getan hat. Von den Studenten an der Uni könnte ich nicht viel lernen. An der Auffangstation jedoch arbeiten Leute, die mir vieles voraus haben. Als Jüngster und Unerfahrenster muss ich mich ziemlich durchbeissen. An einer Gruppensitzung wurde mir vorgeworfen, ich hätte zuviel Distanz zu den Besuchern der Notschlafstelle, weil ich im Gegensatz zu den andern im Team noch nie durch den Dreck gehen musste. Das stimmt natürlich, aber kann ich etwas dafür?»
Besonders der von allen nur «Bär» genannte Leiter der Auffangstation sparte nicht mit Kritik an mir. Er meinte sie konstruktiv, aber das konnte ich noch nicht so recht unterscheiden. «Bär sagte mir nicht zum ersten Mal, dass er von meiner Arbeit manchmal enttäuscht sei, weil ich mich zu sehr intellektuell, zu wenig emotional engagiere. Ich müsse lernen, nicht nur mitzudenken, sondern mitzufühlen. Aber es sei schwierig, mit mir darüber zu sprechen. Ich ließe eigentlich niemanden an mich herankommen. Man könne mich nicht betroffen machen, da ich mich stets zurückzöge.»
Betroffen bin ich erst heute, 50 Jahre danach, wenn ich lese, wie sehr ich mich damals wehrte gegen den Spiegel, den mir Bär vorhielt. Mein Engagement in der Aussenwelt war zu einem grossen Teil davon bestimmt, dass ich mir selber ausweichen wollte. Für eine Auseinandersetzung mit meinen eigenen Schwächen und meiner Unreife war ich zu jung. Auch deshalb war es Zeit, die Auffangstation zu verlassen. Der unbequeme Leiter der Notschlafstelle machte mich unsicher. «Eigentlich spüre ich, dass er recht hat. Aber ein stärkeres emotionales Engagement möchte ich trotzdem nicht eingehen. Ich hätte Angst, dass ich den Boden unter den Füssen verliere.»
Doch so erleichtert ich war, mich entschieden zu haben – so sehr vermisste ich die Auffangstation in der ersten Zeit. Sie hatte mir ein Zuhause geboten, das ich auch deshalb brauchte, weil ich nach wie vor keine Freundin hatte.
«Durch die vielen Abende in der Notschlafstelle habe ich die Frustration verdrängt, die jetzt kommt, da ich jeden Abend zu meiner Verfügung habe. Jetzt merke ich erst, wie allein ich gerade bin. In der Waldegg hören alle Beziehungen beim Verbalen auf. Das Emotionale wird zu wenig berücksichtigt. Wir reden stundenlang miteinander, und dann geht jeder in sein Zimmer, allein mit sich und der Musik.»
Das emotionale Engagement, das ich in der Auffangstation nicht hatte leisten wollen – in der Waldegg fehlte es mir. Aber ich konnte auch hier nicht über die Schatten meiner Hemmungen springen. «Vorher kam gerade Susanne nach Hause. Sie betrat mein Zimmer, und ein paar Sekunden davor dachte ich noch ganz spontan: Wenn sie jetzt hereinkommt, dann begrüsse ich sie nicht nur mit Worten. Dann umarme ich sie. Einfach so. Aber ich habe danach nicht einmal das gemacht! Wir haben uns begrüßt, so wie immer, mit netten Worten. Und jetzt sitze ich in meinem Zimmer im Erdgeschoss, und einen Stock höher sitzt Susanne in ihrem Zimmer, und beide sind wir allein.»
Natürlich schrieb ich weiter für Zeitungen, für den Tages-Anzeiger und den focus, aber ich spürte, wie auch das Schreiben, obwohl es doch meine Leidenschaft war, mir nicht weiterhalf. Besonders die Einträge im Tagebuch wurden seltener. Ende Oktober notierte ich:
«Ich habe in letzter Zeit mehr und mehr eingesehen, dass Schreiben auch Selbstbetrug sein kann. Wie oft habe ich mir in diesem Tagebuch etwas vorgemacht, wie oft ein Gebäude aus Worten um meine persönliche Situation herum aufgebaut. Es hat nie wirklich gehalten.»
Aber noch auf derselben Seite diente mir dasselbe Tagebuchheft zur gewohnten Aufmunterung: «Glücklicherweise bin ich nie wirklich abgelöscht. Ich finde immer ein Türchen, wenn auch oft nur ein rationales. Dann bin ich wieder mit mir zufrieden.»
***
Für die Oktobernummer des focus verfasste ich einen Beitrag über die Oberstufenlehrerin Barbara Guidon, die in Zürich eine dritte Realschulklasse übernahm, aber schon nach knapp 2 Monaten von der kantonalen Erziehungsdirektion wieder entlassen wurde, weil sie «unzulässigen Sexualunterricht» erteilt habe.
In meinem Bericht liess ich die «engagierte junge Lehrerin» gleich selber zu Wort kommen: «Ich gab keinen Sex-Unterricht, sondern antwortete nur spontan auf Fragen der Schüler – beispielsweise, wenn wir im Deutsch über die Familie redeten. Jemand fragte zum Beispiel, was es für Schäden gebe, wenn man zu spät aufgeklärt werde, und da kamen all die Ängste hervor, bis ich intervenierte und sie beruhigte. So sagte ich zum Beispiel auch, dass Selbstbefriedigung keine schädlichen Folgen habe. Das wurde mir als «Aufforderung zur Onanie» vorgehalten. Ich stellte den Schülern ausserdem das Büchlein «Sexualinformation für Jugendliche» zur Verfügung – worauf ich beschuldigt wurde, ich hätte die Schüler zum Geschlechtsverkehr im Schutzalter und damit zur Unzucht ermutigt.»
Ganz im Sinne des 68er-Zeitgeists, der auch den Schulunterricht revolutionär zu verändern versuchte, experimentierte Barbara Guidon vom ersten Tag an mit neuen Methoden. Sie richtete eine neue Sitzordnung ein, animierte die Jugendlichen zu einer Schülerzeitung, übte ein Strassentheater mit ihnen ein und wollte die Noten mit den Schülern gemeinsam besprechen.
Im Zuge der Ermittlungen gegen Barbara Guidon schreckten die Behörden nicht einmal vor einer Hausdurchsuchung zurück – unter dem Vorwand, angebliche «Sex-Poster» zu beschlagnahmen. Natürlich fanden sie nichts. Dennoch wurde die Lehrerin zwangsbeurlaubt und die Klasse erhielt per sofort eine Stellvertretung.
Zurückgekehrt in den Schulunterricht ist Barbara Guidon erst später. Daneben absolvierte sie eine Ausbildung zur Sexualpädagogin. Der Erziehungsdirektion musste sie dafür dankbar sein: Sie hat den Kündigungsgrund ihrer ersten Stelle zu ihrem Beruf gemacht.
***
Für mich ungewohnt, überliess ich in meinem Bericht vor allem Barbara Guidon das Wort. Fast der ganze Text bestand aus ihren eigenen Ausführungen. Soviel Zurückhaltung passte nicht zu mir – aber das Thema war nicht mein Thema. Was interessierte mich Schulreform, wenn ich die Schule doch endlich hinter mir hatte? Und was kümmerten mich die sexuellen Nöte von Jugendlichen, wo ich mir selber so sehr eine Freundin wünschte?
Ich verkehrte öfters im Polyfoyer zu jener Zeit, einer Disco nahe der ETH, die von Studenten betrieben wurde. Auch Christine tauchte dort manchmal auf, ein Hippiemädchen mit schwarzen Locken und kajalumrandeten, schönen Augen, in die ich nicht lange hineinblicken konnte, ohne verwirrt zur Seite zu schauen. An der «Riviera», dem Treffpunkt der Szene am Limmatquai, unmittelbar neben der Quaibrücke, hatte ich sie zum ersten Mal angetroffen.
Ein oder zwei Mal hatte ich mich getraut, ein paar scheue Worte an sie zu richten, sonst aber schwärmte ich nur von weitem für sie, mehr wagte ich nicht. Auch im Polyfoyer wanderten meine Blicke unentwegt durch die tanzenden jungen Leute hindurch zu Christine hinüber. Aber der mutige Schritt auf sie zu wollte mir nicht gelingen. Von meiner ganzen Selbstsicherheit als jungem Autor, der für die grösste Tageszeitung von Zürich schrieb und in Nordirland zwischen den Fronten gestanden hatte, blieb in diesen Momenten bloss noch ein heftig pochendes junges Herz, das die Brust sprengen wollte.
Und dann, Anfang Oktober, wurde das Polyfoyer überraschend geschlossen. Denn das kleine Lokal, das nur aus zwei Räumen bestand, war von der «Szene» entdeckt und allmählich erobert worden. Die Studenten wurden verdrängt, und die Hippies von der Riviera tanzten und kifften im Polyfoyer, als gehöre es ihnen. Um einer endgültigen Schliessung durch die Verwaltung vorzubeugen, beschloss der ETH-Studentenverein, den Foyerschlüssel vorübergehend zu ziehen und ein neues Konzept zu entwickeln.
Das war hart. Hart auch für mich. Wie wollte ich Christine noch sehen können? Es wurde Herbst, und in der kalten Jahreszeit blieb die Riviera leer. Da wurde mein schwärmerisch klopfendes Herz wieder selbstbewusst, und ich tat, wozu ich keinen Mut brauchte. Ich setzte mich in der Waldegg an die Schreibmaschine.
«Das Polyfoyer soll wieder geöffnet werden», überschrieb ich meinen Bericht für den Tages-Anzeiger, und ich fuhr fort: «In Zürich wird es jungen Leuten nicht leichtgemacht, ihre Freizeit zu verbringen. Wer kein Geld für teure Dancings und Diskotheken ausgeben will, wer das Alter überschritten hat, wo man sich lokalen Jugendgruppen anschliesst – für den bleiben nur wenige Lokale: Eins davon war das Polyfoyer, wo man Musik konsumieren und dazu tanzen konnte, ohne viel zu bezahlen.»
Mit diesen Zeilen hatte ich niemanden sonst als mich selbst beschrieben. Ich begehrte die Wiedereröffnung des beliebten Lokals nicht für die «Jugend» und nicht für die «Szene», sondern für mich. Zeitungsartikel über die Auffangstation hatte ich in der Absicht geschrieben, ihren Bewohnern zu helfen. Den Bericht über die Drogenszene von Zürich hatte ich mit der Hoffnung verbunden, das Elend der Fixer zu lindern. Meine Reportagen aus Nordirland waren der Not der Katholiken gewidmet gewesen. Doch mein Bericht über die Schliessung des Polyfoyers war mir selber gewidmet. Diesmal schrieb ich nicht über Betroffene. Diesmal war ich selbst der Betroffene. Und wenn ich schrieb, dass die «Schliessung ziemlich ernüchternd wirkte», meinte ich meine Ernüchterung. Meinen Frust.
Nach dem Artikel im Tages-Anzeiger doppelte ich mit einem zweiten Bericht in der sozialdemokratischen Presse nach. Ich kämpfte geradezu für die Wiedereröffnung. Doch das Engagement für mein eigenes Glück sollte eine Ausnahme bleiben. Ich befand mich noch lange nicht auf dem Weg zu mir selbst. Ich war auf dem Weg zur Revolution. Und abends spät dachte ich an Christine. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
2023 erschien: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex Libris, Orell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch
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