Ein Neujahrsmärchen
Alle Jahre wieder feiern wir den Jahreswechsel und freuen uns, dass etwas zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Jedenfalls sagt es uns der gregorianische Kalender, den vor langer Zeit ein Papst eingeführt hat, der praktischerweise auch noch Gregor hiess. Am 31. Dezember ist Schluss - auch mit lustig - denn am 1. Januar geht der ganze Zirkus wieder von vorne los!
Aber nein, piepst verzweifelt unser innerer Motivationshamster auf seinem angeknacksten Laufrad: Eben nicht! Alles soll ab jetzt völlig anders werden, oder zumindest vieles, naja, wenigstens einiges. Aber wenn schon einiges, dann gefälligst radikal, grandios und selbstverständlich perfekt, mit Glitzer obendrauf!
Während man sich also zwischen den Feiertagen nachts wie ein Grillhähnchen im Bett dreht und sich fragt, was man aus dem Schnellkochtopf der Selbstoptimierung nun eigentlich rauspulen soll, tickt der Wecker unaufhörlich Richtung 31. Dezember, Mitternacht. Spätestens da, muss man die Rakete gezündet haben und sich vornehmen, als dreifach Ego geboosterte Superversion von sich selbst hervorzugehen. Gut, nicht sofort und vielleicht nicht ganz so doll - aber immerhin mit einem Plan, den man dann so stringent durchzieht, wie Sherlock Holmes seine Pfeife.
Vielleicht Joggen gehen, mehr Geld verdienen, einen Partner finden oder den alten loswerden, Abnehmen, netter sein, Tiere, Wälder oder die Menschheit retten, Kalauern zum Schulfach machen?
Sollten wir vom Wahnsinn des alten Jahres noch keinen verkleisterten Kopf haben, ertappen wir uns spätestens bei diesem To-Do-Listen Geplapper aus dem Jammertal der Sigmund-Freudlosigkeit, wie wir gedankenverloren die letzten Kekse von Weihnachten inhalieren - die wir übrigens schon im August als Billigangebot gekauft hatten, weil wir ja dachten, dass wir in diesem Jahr alles viel besser organisieren würden.
Denn hier kommt der Knackpunkt: Wir setzen uns auf einen Schemel mit zwei Beinen und hoffen, nicht umzukippen, während wir gleichzeitig glauben, dass uns der Gute-Vorsatz-Navi aus der Nebelzone unüberlegter Entscheidungen zurück zur Disziplin führen könnte. Dummerweise kann man im Aussen nichts Inneres finden - und auch keine Motivation.
Die Realität tritt dann Mitte Januar auf uns ein, wie ein Mammut vor zehntausend Jahren es mit einem seltenen Grasbüschel nicht hätte besser machen können. Die Sportschuhe bleiben im Schrank, die gesunden Rezepte weichen wieder der Pizza und - huch - wer hat da eigentlich den Marmorkuchen zurück auf die Einkaufsliste geschrieben?
Trotzdem sind da noch ein paar Funken der Hoffnung auf der Resterampe, bei denen wir glauben, endlich etwas «Neues» gefunden zu haben. Wir klopfen uns auf die Schulter, weil wir eine Woche lang das Handy weniger benutzt haben – aber seien wir ehrlich: Irgendwer muss vergessen haben, die Software in Sachen neuronaler Umgestaltung auf ON zu stellen. Ergo: Der Vorsatzzettel landet schneller im Papierkorb, als ein Silvesterknaller verpuffen kann.
Die gute Nachricht: Das neue Jahr wird trotzdem kommen - mit all seinen Herausforderungen, Keksen und der Tatsache, dass unser Leben weitergeht - auch ohne Wunschliste oder, anders gesagt, Rohkost schützt vor Meteoriten nicht.
Also tun wir doch mal das, was scheinbar genau das Gegenteil wäre: Werden wir still. Einfach mal still. Schalten wir sie ab, diese Talkshow im präfrontalen Kortex, wo alle Insassen durcheinander quasseln. Denken wir darüber nach, gar nichts zu tun und abzuwarten. Wie wäre das wohl?
Januar, Februar, März … Genau wie der Bär, der sich im Winter einen Faulpelz zusammenschläft, vor sich hin stoffwechselt und im Frühling plötzlich einen Baum ausreisst. Denken Sie etwa, der hätte im Winter irgendein Krafttraining im Abo gebucht?
Schauen wir, wie aus dem Nichts ein Manifestationsbrief angesegelt kommt - und zwar einer, der sich gewaschen hat, weil er aus dem Inneren kommt. Er ist nicht das Produkt flüchtiger Wünsche oder kurzfristiger Sehnsüchte, sondern das Echo einer tiefen Wahrheit, die in uns ruht. Er wird nicht von aussen diktiert, sondern erwächst aus der Stille, in der das Herz spricht, der Verstand schweigt und der Bauch nicht haben will. Ein Brief von und an uns selbst. Einer der Intuition.
Plötzlich wissen wir, was es zu tun und was es zu lassen gilt. Ganz leicht geht es, sogar in Gummistiefeln durch den Matsch der alten Konditionen zu stapfen ohne zu fallen. Vielleicht nicht sofort, aber langsam und sicher, wie der Fluss, der sein Ziel erreicht, ohne Eile, aber mit stetiger Bestimmung.
Wünsche Guten Futsch gehabt zu haben und ein Frohes Neues!
von:
Über
Henry Sperling
Henry Sperling ist selbstständiger Produzent für Musik, Radio und TV und Autor für verschiedene Medienformate sowie kreativen Filmemacher. Er war sieben Jahre lang mitverantwortlich für die kultige Miniserie «Neulich im Bundestag» bei Extra3 (ARD/NDR). Das TV-Talkformat «Tiefsehtauchen» trägt seine Handschrift in der Bild- und Schnittästhetik, ebenso wie die Terra-Nova-Onlinekurse.
«Wullefump- Die Reise ans Meer» ist Henrys Debut als Kinderbuch-Autor. Das Buch wurde mit dem «Buchkönig»- Buchpreis ausgezeichnet. Zuvor schrieb und produzierte er bereits Kinder-Hörspiele unter anderem um «Käpt´n Wattenschnack».
Henry ist und blieb und bleibt außerdem Drummer, Zeichner, Musik- und Buchverleger, erfolgreicher Gemüsezüchter und Sinnsucher.
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