«Er ist nicht sehr militärbegeistert»

September 1973. Wie ich auf das Aufgebot für die Armee reagierte, was mir das Loch in der Brust nützte und welche Überraschung ich erlebte, als ich den Umschlag öffnete. SERIE «Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft» #66 von Nicolas Lindt.

Der erlösende Stempel im Dienstbüchlein. / © Nicolas Lindt

Eines Tages im Sommer lag ein amtlicher Brief in der Post. Der lange Arm der Schweizer Armee reichte bis auf die Waldegg. Es war der Stellungsbefehl für die militärische Aushebung im September. Ich hatte damit gerechnet, doch den Entscheid, wie ich darauf reagieren wollte, hatte ich vor mir hergeschoben. Anfänglich war für mich klar gewesen: Ich verweigere. Ich kann so eine kriegerische Institution nicht unterstützen. Die Gefängnisstrafe nehme ich erhobenen Hauptes in Kauf.

Das erste Aufgebot hatte ich deshalb zurückgeschickt – in der naiven Hoffnung, sie würden mich dann in Ruhe lassen. Nun lag das zweite Aufgebot vor mir, und ich zögerte, es wieder zu ignorieren. Mein ehemaliger Schulkollege und Irland-Reisegefährte Elias befand sich zu diesem Zeitpunkt selber im Militär, und ich schrieb ihm von meiner Entscheidung:

«Lieber Elias, ich komme doch ins Militär. Beim Verweigern erhielte ich nämlich ein ganzes Jahr, weil sie mich als Politischen abstempeln würden. Da könnte ich lange mit ethischen Gründen kommen.»

Es war nämlich immer noch so, dass Verweigerer unterschiedlich verurteilt wurden. Wer aus religiösen Motiven nicht einrücken wollte, weil er Militärdienst mit seinem Glauben nicht vereinbaren konnte, wurde nur milde bestraft. Wer den Dienst in der Armee seinem Gewissen nicht zumuten wollte, weil er als Pazifist Gewalt ablehnte, erhielt bereits mehrere Monate. Wer aber politisch argumentierte und die Armee als Herrschaftsinstrument des Staates bezeichnete, bekam die ganze Härte desselben zu spüren. Ein Jahr Gefängnis war durchaus üblich.

«Ausserdem», fuhr ich fort, «haben die Militaristen bestimmt schon gemerkt, dass ich beim «focus» mitmache. Also keine Chance für eine Strafmilderung.» Wollte ich wirklich auf Konfrontation machen und dafür ein Jahr im Gefängnis verbringen? Die Aussicht auf eine so lange Zeit hinter Gittern schreckte mich ab, auch wenn ich dies weder mir noch Elias eingestehen wollte. Jedenfalls entschied ich mich anders:

«Ich habe inzwischen gemerkt», schrieb ich Elias, «dass man IN der Armee viel besser gegen sie kämpfen kann als von aussen. Ich wusste das zwar schon früher, aber ich habe den Agitationsmöglichkeiten innerhalb der Armee – Flugblätter, Kasernenzeitungen, Streik – zu wenig Bedeutung gegeben.»

Auf einmal war ich Feuer und Flamme für den antimilitaristischen Kampf im Innern der Heiligen Kuh Armee. Und natürlich erwartete ich dasselbe Engagement auch von Elias. «Du gehörst hoffentlich auch zu den subversiven Elementen in deiner Truppe. Was versuchst du zu unternehmen? Kann man überhaupt etwas machen? Würden die Leute mitmachen? Versuche so viel wie möglich zu organisieren, rede mit den Soldaten, mache sie aufmerksam auf ihre Rechte, zeige ihnen, wieso man die Armee ablehnen muss und wie man Widerstand leisten kann.»

Es war eine sanfte Vergewaltigung. Ich erklärte Elias ganz selbstverständlich zu einem «Subversiven», obwohl er das gar nicht sein wollte. Hätte ich mir ehrlich vor Augen geführt, wie verschieden wir schon immer gewesen waren, dann hätte ich ihm meine agitatorischen Fragen schon gar nicht stellen müssen. Aber seit meiner Politisierung begann sich bei mir ein Sendungsbewusstsein zu bilden, das meine ganze Umgebung mitreissen wollte. Jeder, der politisch aktiv ist, möchte auch seine Freunde dafür begeistern. Aber in meinem Fall wurde daraus ein missionarischer Eifer, und mein ehemaliger Schulfreund war eines der ersten Opfer.

Ich verhielt mich in meinen Zeilen an ihn bereits wie ein Chefagitator, der an seine Parteisoldaten die nötigen Direktiven verteilt. Dabei hatte ich selber noch keinen Fuss in die Armee gesetzt.

***

Der Tag des Aufgebots rückte näher, und ich war noch immer entschlossen, mich nicht zu drücken. Aber je mehr ich mir vorzustellen versuchte, wie ich mich als Rekrut fühlen würde, wie ich darauf reagieren würde, wenn mir ein Militärkopf etwas befehlen würde und ich ihm gehorchen müsste, selbst dann, wenn kein Sinn darin zu erkennen wäre: Je mehr ich das alles bedachte, desto drängender wurden die Zweifel, ob ich mir diese Züchtigung antun wollte. Auch die Vorstellung, eine Uniform tragen zu müssen, wie alle andern in Reih und Glied stehen zu müssen, wie alle andern klettern zu müssen, wenn Klettern befohlen wurde, kriechen zu müssen, wenn Kriechen befohlen wurde, nicht selber zu entscheiden, nicht selber mein Leben bestimmen zu dürfen – nur schon beim Gedanken daran schnürte es mir die Luft ab.

Genügend Luft zu bekommen, war für mich ohnehin nicht ganz selbstverständlich, weil ich schon seit meiner Geburt eine Fehlbildung hatte. Trichterbrust nannte sich das. Mein Oberkörper wies eine Vertiefung auf, eine Pectus excavatum, was bedeutete, dass das Volumen in meinem Brustkorb eingeengt war. Die Trichterbrust bereitete mir zwar keine Beschwerden, aber ich musste frei atmen können. Konnte ich das in der Armee?

Es würde mir nicht gelingen, das wusste ich. Mein Freiheitsdrang war seit jeher so unzähmbar, dass ich den Drill und die Schikanen der Offiziere keine Stunde ertragen würde. Also blieb mir nur eins. Der Schleichweg. Die Untauglichkeit.

Untauglich – das Wort allein wäre für andere eine Schmach gewesen, eine Minderwertigkeit, eine Niederlage. Für mich war es das nicht. Sobald ich beschlossen hatte, dass ich den Notausgang nahm, hatte ich mein Selbstvertrauen wieder im Griff. Der Gedanke, den Feind zu betrügen, ihn zu beschummeln mit einem ärztlichen Zeugnis, gefiel mir. Und einsperren konnte mich der Staat auch nicht, wenn medizinische Gründe meinen Dienst in der Armee nicht erlaubten.

***

Wegen der Trichterbrust war ich schon mehrmals beim Doktor gewesen. Er hiess Dr. Meyer, ein Orthopäde, mit Praxis an schönster Lage direkt am See, und ich habe ihn in Erinnerung als gross gewachsenen, sportlichen Offizierstypen, der nicht ganz dieselben Werte verkörperte wie sein Patient mit den langen, bis auf die Schultern fallenden blonden Locken und der rebellischen Grundhaltung. Auf die Fragen des Arztes nach meinem Befinden, was das Loch in der Brust betraf, erklärte ich ihm, dass ich mich für den Dienst in der Armee nicht unbedingt tauglich fühle.

«Ich ermüde schneller als andere und bei grossen Strapazen habe ich Atembeschwerden», erklärte ich dem Herrn Doktor. Das war nicht einmal ganz gelogen. Darauf untersuchte er mich und versprach mir ein ärztliches Zeugnis, das ich am Tag meines Aufgebots bei ihm abholen könne. Als dieser Tag endlich kam, war ich wider Erwarten ziemlich nervös. Die militärischen Autoritäten, die mich begutachten würden, flössten mir schon Respekt ein, bevor ich vor ihnen stand. Nicht weil sie Autoritäten waren, aber weil sie die Macht besassen, über mich zu entscheiden. Nur das grosse Kuvert, das mir die Arztgehilfin von Dr. Meyer mit freundlichem Gruss von ihm überreichte, gab mir die Sicherheit und das gute Gefühl, mein militärisches Schicksal in der eigenen Hand zu haben.

Ich weiss noch, wie ich zu Fuss von der Praxis am See zum Aushebungsort an der Sihl lief. Und ich weiss noch, wie ich unterwegs stehenblieb. Ich fühlte mich plötzlich gedrängt, das Kuvert zu öffnen, obwohl ich es danach nicht mehr schliessen konnte. Aber ich musste sehen, was darin stand. Ich war misstrauisch. Dieser Dr. Meyer, der bestimmt Offizier war, hatte mir das Attest ein wenig zu locker bewilligt.

Dem geöffneten Kuvert entfielen zunächst zwei Röntgenaufnahmen. Dann hielt ich den Brief in den Händen und las: «Der oben genannte Patient steht in meiner Behandlung wegen einer Pectus excavatum. Er ist jetzt stellungspflichtig und fragt mich an, ob er physisch einer Rekrutenschule gewachsen sei.»

«Es handelt sich um einen grossgewachsenen Patienten mit guter Beweglichkeit in allen Segmenten und einer stark ausgeprägten Trichterbrust. Die Beinlängen sind ausgeglichen, die Hüft-, Knie- und Fußbeweglichkeit frei. Röntgenologisch finden wir nur diskrete Anomalien der Brustwirbelsäule bei sonst unauffälligen Verhältnissen. Inwieweit ihm die Trichterbrust Beschwerden macht, habe ich nicht ganz eruieren können. Ich persönlich erachte den Patienten als diensttauglich, doch sollte er in eine Truppengattung eingesetzt werden, in der nicht die größten körperlichen Anstrengungen verlangt werden. Der Patient ist sicher nicht sehr militärdienstbegeistert.»

Mein Misstrauen hatte mich nicht getäuscht. Ich hatte die Ärzte austricksen wollen – nun hatte ihr werter Berufskollege mich ausgetrickst. Sein Attest half nicht mir, es half der Armee. Ich versenkte den Briefumschlag mit den Röntgenbildern in den nächsten Papierkorb. Nur das Blatt mit dem Zeugnis behielt ich, gut versteckt in der Jackentasche. Ich habe es aufbewahrt als Erinnerung – und vielleicht, um 50 Jahre danach daraus zitieren zu können.

***

Nun konnte mir nur noch eines helfen: Mein Talent, unwahre Dinge so selbstbewusst darzustellen, dass alle glaubten, sie seien wahr. Ich zeigte den Ärzten die Trichterbrust, ich jammerte ihnen vor, die Enge im Brustkorb drücke mir auf die Lunge, ich drehte, wie von ihnen gewünscht, auf der Aschenbahn eine Runde, aber ich drehte sie betont langsam und blieb zwischendurch sogar stehen, als ob ich um Atem ränge. 

Der Arzt, der mich begutachtete, liess nicht erkennen, ob er mir meine Beschwerden glaubte oder ob er in mir, aufgrund seiner reichen Erfahrung, den klassischen Simulanten erkannte. Ich wusste auch nicht, ob schon bis zu ihnen gedrungen war, dass mein Name im Impressum des «focus» stand. Andere politische Aktivitäten konnte ich noch nicht bieten. Höchstens, dass ich einer Kommune wohnte, die vorher eine Politkommune gewesen war. Der «Suvbersivenjäger» Ernst Cincera, ein bürgerlicher Politiker, der mithilfe von Spitzeln und Denunzianten eine Kartei aller Oppositionellen in der Schweiz aufgebaut hatte, führte die Kommune Waldegg bestimmt in seiner Kartei, und möglicherweise hatte er auch bereits nachgeführt, wie die neuen Bewohner der Waldegg hiessen. Dann hätte auch ich schon die Ehre genossen, im Subversiven-Verzeichnis erwähnt zu sein.

Doch der Major, der mir den Stempel ins Dienstbüchlein drückte, verriet mir mit keiner Miene, ob sie mich nicht sowieso lieber loswerden wollten. «Hilfsdiensttauglich» stand da in Stempelschrift. Hilfsdienst war eine Art Zivilschutz, ein Relikt aus der Kriegszeit. Er wurde später dann sogar abgeschafft. Hilfsdienst bedeutete irgendwann einmal ein paar Wochen Einsatz. Das war zu verkraften. Die militärische Ausbildung musste ich nicht absolvieren. Keine Rekrutenschule und keine WKs. Ich war der Armee entkommen.

Nächste Folge am 11. Februar

 

Mehr Texte aus dieser Serie:
«Ein Mindestmass an kritischer Distanz»
«Ich kritisierte die Hand, die mich fütterte»

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

Weitere Bücher von Nicolas Lindt

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Kommentare

Sanitär oder Sanität?

von juerg.wyss
Ich möchte keinen Kommentar abgeben, nur zu dem Bild. Die Schweizer Armee ist geistig beschränkt, und Ihr glaubt alle, die haben recht.  Auch ich bin jahrzehnte darauf reingefallen. Sanitärische Hauptuntersuchung, was hat ein Klempner damit zu tun, die Gesundheit eines Wehrdienstpflichtigen zu beurteilen. Der ist fur die sanitäre Installation zuständig. Für die Gesundheit ist die Sanität zuständig, das heisst es müsste eine sanitätische Hauptuntersuchung stattfinden, nicht eine sanitarische. Aber solche Unterschiede fallen nur mir auf, weil ich Rechtschreibefehler als Rechtschreibefehler registriere, und nicht mein Denken an Rechtschreibefehler anpasse. Ich passe Rechtschreibefehler an mein Denken an!

Militärdienstverweigerung

von Ramdas
Danke für diese Geschichte, die mich an meine eigene erinnert! Ich wollte damals als Pazifist einen Kompromiss eingehen und habe ein Gesuch um waffenlosen Dienst eingereicht. Das wurde abgelehnt, worauf sich ein jahrelanger Weg bis ins Gefängnis entwickelt hat. Habe das aufgeschrieben und sende den Text auf Anfrage gerne zu. Das waren noch Zeiten ohne Zivildienst-Alternative...