«Ich kritisierte die Hand, die mich fütterte»

Juni 1973. Wie ich endlich genau das schreiben konnte, was ich wollte, und wie ich ein Konzert von Deep Purple im Hallenstadion zu einer Generalabrechnung mit dem Rockbusiness in der Schweiz benutzte. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #64

Camel-Werbung am Deep Purple-Konzert 1973 – und im «focus». Bildcollage: Nicolas Lindt

Selber aus der Kirche ausgetreten zu sein, genügte mir nicht. Was ich für mich erkannt und entschieden hatte, wollte ich wie immer in die Welt hinaustragen. Die neueste Nummer des «focus», bei dem ich nun mitmachte, enthielt ein vorgedrucktes Kirchenaustrittsformular, das nachbestellt werden konnte. Auch ich beschaffte mir eine Anzahl von Exemplaren und machte meinen Mitbewohnern in der Waldegg den Vorschlag, die Formulare in einer nächtlichen Aktion zu verteilen.

In der 68er-Zeit hatten die Kirchenaustritte stark zugenommen, und mithilfe des Formulars wollten wir weitere Menschen dazu motivieren, die Mitgliedschaft bei ihrer Kirche zu kündigen. Die Argumente standen im Brief, man musste nur unterzeichnen. An einem Sommerabend, als es schon dunkelte, fuhren wir mit dem Auto, das wir uns teilten, in die nächste Gemeinde, wo wir in einem grösseren Wohnquartier Briefkasten für Briefkasten mit dem Austrittsschreiben beglückten.

Da es schon dunkel war und das Quartier schon zu schlafen schien, blieben wir unbemerkt. Wieviel Erfolg wir mit unserer Blitzaktion hatten, konnten wir nicht ermessen. Aber darüber machten wir uns keine Gedanken. Viel wichtiger war das gute Gefühl, gemeinsam gehandelt und unsere Botschaft unter die Leute gebracht zu haben. Und am zufriedensten war ich selbst. Endlich schrieb ich nicht nur, sondern handelte. In der Auffangstation zu handeln, reichte mir nicht mehr, obwohl ich noch immer dort arbeitete. Ich wollte politisch aktiv sein. Und vor allem wollte ich keine Kompromisse mehr eingehen.

Für den «focus» zu schreiben, kam für mich einer Offenbarung gleich. Zum ersten Mal musste ich keine Rücksicht mehr nehmen. Zum ersten Mal gab es keinen Redaktor, der mir Sätze oder gar Abschnitte strich, weil sie aus Sicht der Zeitung zu tendenziös waren, zu politisch. Heute würde ich diese Abschnitte selber streichen, weil ich den Leser nicht weltanschaulich bearbeiten will, aber damals war es für mich ein Gebot der Glaubwürdigkeit, meine neuentdeckte politische Botschaft in jedem zweiten Satz unterzubringen.

Im «focus» konnte ich das. Es wurde vorausgesetzt. Der «focus» war mehr Kampfblatt als Magazin, und genau das hatte ich mir gewünscht. Nach meinem Einstand, dem Bericht über Nordirland, wandte ich mich der Domäne zu, die ich am besten kannte: der Rockmusik. Doch der Report, den ich schrieb und mit dem ich ganze elf Seiten füllte, behandelte nicht die Musik. Sondern das Business mit ihr. «Rockbusiness in der Schweiz» hiess der Titel meines Berichts. Ich eröffnete ihn mit einer Band, der ich das Erlebnis meiner ersten Autostoppreise verdankte.

Damals war ich der 15-jährige Fan gewesen, der zum ersten Schweizer Konzert von «Deep Purple» nach Montreux gepilgert war – um danach, spät in der Nacht in einer Telefonkabine am Genfersee Schutz vor der Kälte zu suchen und den ersten Zug abzuwarten. Jetzt, drei Jahre später, war ich ein immer noch sehr junger, aber gefragter Rockjournalist, dem alle Türen weit offenstanden, weil er für den Tages-Anzeiger schrieb. Keine Frage deshalb, dass ich zu den Privilegierten gehörte, die bei der Verleihung der Goldenen Schallplatten an Deep Purple dabei sein durften. Und auch die Band selbst war nicht mehr dieselbe wie damals in Montreux, als die vordersten Zuschauer unmittelbar vor der Bühne standen. Man hätte die Stars berühren können. Doch das war vorbei. Inzwischen spielten «Deep Purple» in grösseren Hallen.

«Unbefugten ist der Zutritt verboten», begann ich meinen Bericht, «junge Securitas-Angestellte wachen streng darüber, dass nur geladene Gäste das feudale Pub am Limmatquai betreten. Das Zeremoniell soll unter Eingeweihten und Auserwählten stattfinden. Teilnehmen dürfen all jene Leute, die der Firma EMI Records Switzerland während der letzten paar Jahre treu zudienten: Schallplattenverkäufer, Presseleute, Fotografen, Businessleute und andere Insider des helvetischen Rockgeschäfts – sie alle erhielten eine persönliche Einladung.

Das Rock-Business lässt sich seinen Lakaienstab etwas kosten: Man erfreut sich kulinarisch an Champagner und Lachsbrötchen, unterhält sich angeregt und applaudiert, wenn’s gewünscht wird. Als die Rockstars den Raum betreten, blitzen Kameras, Autogramme werden gewährt und die Goldenen Scheiben werden gespielt triumphierend in die Höhe gehoben. EMI Records haben den ganzen Zauber sehr bewusst inszeniert. Nichts könnte eine grössere Werbewirkung erzielen als eben die Tatsache, dass die britische Starband in den letzten vier Jahren bei uns 150'000 Langspielplatten verkauft hatte und dafür nun eine <Prämie> in Empfang nehmen darf.»

Ich fand sehr kritische Worte für die exklusive Veranstaltung. Doch mein Urteil hatte eine kleine Schwachstelle: Auch ich war einer der Presseleute, die der Plattenfirma mit ihren Plattenbesprechungen zudienten. Und dass ich die Lachsbrötchen und den Champagner demonstrativ nicht angerührt hätte, stand nirgends in meinem Bericht. Mit anderen Worten: Ich kritisierte die Hand, die mich fütterte. Sie fütterte mich schon seit mehreren Jahren mit Konzerttickets und Langspielplatten à discretion – was mich aber nicht daran hinderte, im «focus» eine Generalabrechnung zu intonieren.

Im gleichen angriffigen Stil machte ich weiter: «Zum Reklamefeldzug der EMI Records gehört in erster Linie‚ das bisher grösste Schweizer Konzert von Deep Purple im Zürcher Hallenstadion. Rechtzeitig zum Erscheinen ihres neuen Albums trifft die Band in der Schweiz ein. Die eidgenössische Rockpresse ist auch diesmal eifrig darum bemüht, den Vorverkauf anzukurbeln und den Plattenverkauf zu fördern. Die Goldenen Schallplatten werden nach ihrer Verleihung in Zürcher Schallplattengeschäften ausgestellt, damit die Fans, die von der elitären Feier ausgesperrt blieben, wenigstens ihre Nasen an den Schaufensterscheiben plattdrücken dürfen. Der Schritt ins Ladeninnere, um das neue Deep Purple-Album zu kaufen, fällt dann noch leichter.

Das Konzert selbst – Eintrittspreis stolze 22 Franken – entspricht den Erwartungen. Nahezu zehntausend Fans strömen im Hallenstadion zusammen, das alsbald von betäubenden Rauchschwaden erfüllt ist. Deep Purple präsentieren ihren Hard-Rock routiniert, perfekt und daher recht einfallslos. In der abschliessenden kurzen Zugabe lässt sich die Massenpsychose eindrücklich beobachten: Sämtliche Zuschauer haben sich erhoben, toben, schreien, klatschen und werden endlich – die Spannung hat ihren Siedepunkt erreicht – von der zurückkehrenden Band erlöst. Ian Gillan schreit <Are you ready?> in die Menge, ein tausendfaches <Yeahhh!> antwortet ihm und bestätigt ihn, den <Highway sta> auf seinem Ego-Trip, in seiner Superstar-Rolle. Die Szene erinnert an gewisse Dokumentaraufnahmen aus dem letzten Krieg und kann heute an jedem Rock-Grossanlass beobachtet werden.

Einmal mehr ist die Anstiftung zum Massenkonsum von Erfolg gekrönt und dies gilt nicht nur für Deep Purple, sondern auch für die Zigarettenmarke <Camel>: Weitherum sichtbar prangt ein riesiges Camel-Plakat über der Bühne und wird in regelmässigen Abständen während des ganzen Konzerts angestrahlt. Das Image von Camel als Zigarette der jungen Generation hat damit eine weitere Aufbesserung erhalten. Das Honorar an die Veranstalter dürfte sich ein weiteres Mal gelohnt haben.

Nur ein Beteiligter geht leer aus: das Publikum. Einmal mehr hat es sich für dumm verkaufen lassen, einmal mehr ist es jungen Leuten auf den Leim gekrochen, die sich zwar altersmässig und äusserlich kaum von den Rock-Konsumenten unterscheiden, jedoch rechtzeitig erkannt haben, wie man die Profitchancen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung auch im Rock-Business nützen kann. Das erst wenige Jahre alte Geschäft floriert glänzend.»

Keine Zeitung, kein Journalist würde heute die Marktmechanismen im Rockbusiness auf die gleiche Weise anprangern, wie ich es vor 50 Jahren tat. Dass die Rockmusik ein Geschäft ist, wird heute als Selbstverständlichkeit längst unwidersprochen hingenommen. Weder protestieren die Rockkonsumenten gegen die astronomischen Eintrittspreise an den Konzerten noch würden sie die Abopreise oder die Auswahlkriterien der Streamingdienste in Frage stellen. Und wenn Musiker sich gegen die schäbigen Tantiemen bei Spotify wenden, kümmert das die Spotify-Abonnenten wenig.

Aber damals war das Geschäft mit der Rockmusik erst gerade zur Blüte erwacht. Noch wenige Jahre davor hatte die neue Musik den Aufbruch der 68er-Jugend begleitet. «People try to put us down, just because we get around» hatten «The Who» in ihrem Rebellensong «My generation» gesungen. «I can’t get no satisfaction» hatten die Rolling Stones dem Establishment zugerufen und am Rockfestival in Woodstock waren Hunderttausende für den Frieden und gegen den Krieg zusammengekommen. Die Vereinnahmung der Musik fürs grosse Geschäft hatte schleichend begonnen. Doch dann ging es plötzlich nur noch ums Geld.

Um so grösser war meine Ernüchterung, als ich zu erkennen begann, wie sogar  in der Schweiz die jugendliche Begeisterung für die Rockmusik geschäftstüchtig ausgenützt wurde. Und am unangenehmsten stach mir im Hallenstadion ins Auge die über der Bühne hängende übergrosse Camelreklame. Heute wäre Werbung für Zigaretten in diesem Ausmass an einem Rockkonzert undenkbar – vor 50 Jahren fiel es praktisch niemandem auf. Den Rauchern schon gar nicht, und damals rauchten fast alle. Da ich selber ein uninteressanter Nichtraucher war – interessante Menschen rauchten –, empfand ich den allgegenwärtigen Qualm in der Luft schon damals als Ärgernis.

Die Camel-Reklame an einem Konzert, wo sich im Publikum auch Jugendliche befanden, fand ich so symptomatisch für den Kommerz, der sich da bedenkenlos feiern liess, dass ich Alexander, den Grafiker in der Waldegg, darum bat, für meinen Focus-Report eine Karikatur zu zeichnen. Das kreative Ergebnis war eine Camel-Packung mit der Aufschrift «Cancer» statt Camel, dem Logo <It’s great fun!> und einem Geschwür, das aus der Packung herauswächst. Möglicherweise war diese Karikatur die allererste Warnung vor Lungenkrebs, wie sie heute auf allen Camel-Packungen steht. Im Tages-Anzeiger wäre weder meine Anklageschrift gegen das helvetische Rockbusiness noch eine solche Zeichnung möglich gewesen. Für die ungefilterte Wahrheit brauchte es damals schon alternative Medien.

In meiner Enttäuschung über die Degeneration der einstigen Message liess ich niemanden ungeschoren. Ich nannte die Player beim Namen und denunzierte sie alle: die Musiker, die dem Profit ihr Talent verkauften, die Gefälligkeitsschreiber, die Konzertveranstalter und vor allem die Schweizer Bosse der Schallplattenfirmen. Ich beschrieb ihre Methoden, ihre Connections, ihre  gemeinsame Marktstrategie, sodass sich das Ganze aus heutiger Sicht wie eine Verschwörungstheorie liest.

«Auf einen Nenner gebracht», beendete ich meinen Rundumschlag, «das Diktat des Rockbusiness verhindert jede unabhängige, alternative Entwicklung in der Rockmusikszene. Schallplattenkonzerne, Massenmedien und Veranstalter bilden gemeinsam einen unüberwindbaren Block.»

Doch mit diesem frustrierenden Bild durfte meine Attacke nicht enden. Ich wollte nicht als Verlierer vom Platz gehen. Der junge Revolutionär in mir regte sich: «Würden die Rock-Konsumenten auch in unserem Land ihre wachsende Beeinflussung und Abhängigkeit endlich erkennen, würde sich das Publikum endlich zusammentun – dann könnte sich etwas ändern. Machen wir heute den ersten Schritt!»

Unter dem agitatorischen Titel «Subversion im Rockbusiness» zählte ich ein paar Vorschläge auf: «Platten gemeinsam kaufen. Listen aufhängen in Jugendzentren und Schulen: Wer besitzt welche Platten? Wer leiht welche Tonbänder aus? Einen Laden eröffnen, der Platten verleiht. Läden mit Secondhandplatten eröffnen. Platten direkt importieren. Plattenläden zum Plattenhören benutzen. In ganzen Gruppen erscheinen, ohne die Platten zu kaufen. Konsum-Rockkonzerte boykottieren oder sie umfunktionieren. Eigene  Konzerte organisieren. Gute, weniger bekannte Künstler und Bands engagieren.»

Einige meiner Vorschläge wurden realisiert – nicht wegen mir, sondern weil die Idee in der Luft lag. Es gab Direktimportläden und Secondhandmusikläden. Es gab auch alternative Konzerte, und viel in Bewegung gesetzt hat sieben Jahre danach die «Bewegung» in Zürich. Die Konzertlokale vermehrten sich plötzlich. Neue junge Veranstalter machten sich einen Namen. Die Schweizer Musikszene, an die niemand geglaubt hatte, erwachte zum Leben. Eine alternative Kultur eroberte sich ihren Platz – und behauptet ihn heute noch.

Hatte ich recht mit meinem Report? Natürlich hatte ich recht. Das Rockbusiness ist keine Verschwörung. Es ist die Wirklichkeit. Aber ich hatte auch nicht recht. Denn so profitorientiert das Business auch sein mochte – die Musik, um die es ging, konsumierte auch ich. Ich konsumierte sie weiterhin, und ich liebe sie heute noch. Wenn ich Deep Purple höre, die alten Scherben, dann denke ich nicht an das Business, das ich damals aufs Korn nahm. Dann denke ich nur: Was für eine wunderbare Musik.

Nächste Folge nach unserer Weihnachtspause am 14. Januar 2024.

 

Mehr Texte aus dieser Serie:

«Die Kommune, in der ich jetzt wohne»
Auf der «Insel der weissen Kuh»

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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