«Ernstfall für Deutschland»: eine Pflichtlektüre für die Regierung
In seinem neuen Buch holt Brigadegeneral a.D. Erich Vad das Szenario ganz nah vor Augen, das sich jetzt immer mehr aufdrängt: Die Eskalation des Ukraine-Krieges zu einem europäischen Krieg - mit Deutschland in der Mitte. Um es mit den Worten Paul Schreyers zu sagen. «Angst macht vor allem, wie diese Gefahr im Westen vollständig ignoriert oder kleingeredet wird.»* Dieses Buch macht Angst – und gleichzeitig Mut.
Vor gerade einmal dreieinhalb Monaten überlegte Peter Wahl in seiner Rezension zu Brigadegeneral a.D. Erich Vads gerade erschienenem Buch «Abschreckend oder erschreckend – Europa ohne Sicherheit» und seines «aussergewöhnlich eingeschlagenen Weges»: «Vielleicht geht Vad auf seinem Weg noch weiter.»
Heute, ein paar Monate später, wird vermutlich nicht nur er ziemlich überrascht davon sein, wie weit er weiter gegangen ist! Von der Darstellung der komplexen internationalen Lage im letzten Buch führt Vad die Leser nun im neuen Buch «Ernstfall für Deutschland – Ein Handbuch gegen den Krieg» explizit nach Deutschland. Und das hat es definitiv in sich: Es geht um den «Worst Case», die Eskalation des Ukrainekrieges zu einem Grosskrieg in Europa und Deutschland als Drehscheibe mittendrin.
Game over
«Game over» nennt Vad sein zweites Unterkapitel und dabei schildert er noch keinen Atomkrieg, auch «kein Hirngespinst und kein Horrorszenario», sondern so würde «es mit hoher Wahrscheinlichkeit aussehen, falls der Ukraine-Krieg eskalierte» (S. 24):
Realer, brutaler, blutiger, grausamer Krieg. Deutschland wird schnell handlungsunfähig werden. Chaos wird regieren. Wirtschaft und Gesundheitssystem werden zusammenbrechen. Unsere Heime werden in Trümmern liegen, wir werden hungern und frieren. Sehr viele Menschen werden sterben. Der Staat wird es nicht für uns richten können.
Sein «Handbuch gegen den Krieg» ist vornehmlich eine realistisch-dystopische Erzählung, die mit den Worten «Deutschland, August 2025» beginnt – womit sich der Leser stante pede in der Zukunft und im Krieg befindet – und darauf folgend einen Rückblick wagt, der beschreibt, wie es soweit kommen konnte. Im Anschluss zeigt Vad konkrete Schritte auf, die den Worst Case noch verhindern könnten.
Weit- und Vorsicht – die Folgen bedenken
Aus welchen Gründen beschreibt Erich Vad wohl eine derartige Szenerie? Meinem Empfinden nach: weil sich die Bellizisten anscheinend keine Gedanken über die Folgen der eskalatorischen Sprache, Forderungen und Aktivitäten machen, das Prinzip Ursache-Wirkung einfach negieren und nicht vom Ende her gedacht wird. Daher bin ich jedenfalls sehr dankbar dafür, dass einmal vor Augen geführt wird, was uns droht – es ist längst überfällig.
Wir befinden uns in einer völlig einseitigen, allein auf das Militär fokussierten Aufrüstungsspirale, die jegliche Diplomatie, Abrüstungsgespräche (und -verträge) und Friedenspolitik ausklammert – in einer hochgefährlichen Lage, die jederzeit aus dem Ruder laufen könnte, denn es existiert ja auch keinerlei doppelter Boden in Form von Verträgen mehr. Im Gegenteil: die Eskalationen weiten sich aus, die bellizistischen Forderungen werden immer abstruser und es ist beschlossene Sache, den Krieg nach Russland zu tragen, wie es Roderich Kiesewetter schon im Februar 2024 forderte:
Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und
Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage
versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien,
Kommandoposten, Gefechtsstände.
Die ukrainische Armee befindet sich nun seit Monaten auch auf russischem Gebiet und erst am 17.11. liessen die Vereinigten Staaten verlautbaren, dass sie weitreichende Angriffe ins russische Territorium mit ATACMS genehmigen. Selbst das konservative Handelsblatt titelte dazu: «Riskanter Kurswechsel – USA erlauben der Ukraine Angriffe auf weitreichende Ziele in Russland». Es dauerte noch nicht einmal einen Tag, da zogen auch schon «Grossbritannien und Frankreich nach.» Und als wäre das nicht schon katastrophal genug, verkündete Deutschland beinahe zeitgleich die Lieferung von 4.000 KI-gesteuerten Drohnen, den sogenannten «Mini- Taurus». Die Regierung in Kiew plane nun einen Angriff in den nächsten Tagen, so die Tagesschau. Exakt dieses Szenario, ein weitreichender Angriff mit diesen Waffen auf die Kertsch-Brücke und auf russische Ministerien, löst den von Vad beschriebenen Grosskrieg aus. Und sie werden mit dem Taurus ausgeführt (dem deutschen Pendant zu den amerikanischen ATACMS), wodurch Deutschland zwangsläufig zur Zielscheibe wird.
Erich Vads Schilderungen erscheinen gerade vor den Hintergründen der letzten Tage prophetisch. Dabei sind sie eine logische Konsequenz aus all dem, was sich seit 2,5 Jahren ankündigt. Dass sein Buch allerdings ausgerechnet an dem Tag erscheint, an welchem der Weg für die Ursache der grossen Eskalation frei gemacht wird, lässt mich erschaudern, das ist mittig Bulls Eye. Nach den neuesten Meldungen erscheint das Buch nicht als düstere Zukunftsversion, die zu vermeiden man noch etwas Zeit hätte. Nein – man fühlt sich mittendrin und es ist grotesk, zu lesen, was akut und unmittelbar geschieht. In diesem Zusammenhang denke ich auch an die jetzt wiederholt von Friedrich Merz erneuerten Taurus-Forderungen.
Herz und Verstand
Dabei beginnt das Buch mit der Beschreibung eines lauen Sommerabends, wie er eigentlich zu dieser Zeit sein sollte:
Die Sonne scheint, es ist noch heiss, obwohl sich die warme Jahreszeit bald dem Ende zuneigen wird. Eigentlich sollten sich die Menschen im Freibad oder im nahen See tummeln, sie sollten in ihren Gärten grillen […] und die lauen Abende geniessen. Sie sollten in der Nachtwärme nach Hause schlendern […], diese besondere Leichtigkeit auskosten, die sich nur bei Sonnenschein einstellt. Die Menschen sollten das Leben geniessen. Stattdessen bangen sie darum…
Es zog mich direkt in seinen Bann, so dass ich das Buch in einem Rutsch durchlas. Und trotz all des wahnsinnigen Chaos des ersten Kapitels (von drei) schöpfte ich danach Hoffnung, denn der Text ist so rund und in sich geschlossen, dass den Leser auch die bestechende Logik geradezu zur Hoffnung zwingt. Diese Rationalität vereint im Grunde genommen Clausewitz Vorrang der Politik (innerhalb der «wunderlichen Dreifaltigkeit») mit Sun Tzu`s Selbsterhaltungsmotiv und damit die Vermeidung von «heissem» Krieg oder die schnellstmögliche Beendigung von diesem – im Sinne von Clausewitz` «Die Politik hat den Krieg erzeugt; sie ist die Intelligenz, der Krieg aber bloss das Instrument, und nicht umgekehrt» und Sun Tzu`s «Selbst wenn du den Feind besiegt, aber dabei selbst so zerstört bist, dass du nicht weiterkämpfen kannst, ist das kein wahrer Sieg».
Ach, Deutschland
Im ersten Kapitel «Ach, Deutschland» wurde mir Angst und Bange. Vad schildert die Situation sehr plastisch, man kommt nicht umhin, sich selbst mitten in diesem Chaos wiederzufinden und zeitgleich zu überlegen: was würde ich tun?
Die ausgefeilte Analyse und die konkreten Schritte daraufhin folgen der angesprochenen zwangsläufigen Logik, der man sich nicht entziehen kann. Dabei geht es durchgehend parallel ins Detail und es werden die richtigen Fragen gestellt. An vielen Stellen untermauert Vad seine Überlegungen mit entsprechenden Empfehlungen zur Vertiefung (Texte, Bücher, Studien, Analysen), die am Ende des Buches in einer Liste aufgeführt sind und äusserst interessante weiterführende Informationen enthalten (eine wertvolle Sammlung!).
Eine dieser Anmerkungen finde ich besonders bemerkenswert, da sie (leit-)medial bisher nicht vorkommt: auf Seite 61 erwähnt Vad die Rede von George Friedman aus 2015 beim Chicago Council on Foreign Affairs und zitiert seinen wohl wichtigsten Satz:
The primordial interest of the United States […] has been the relationship between Germany and Russia, because united, they are the only force that could threaten us, and to make sure that that doesn´t happen.
[«Das vorrangige Interesse der Vereinigten Staaten […] war die Beziehung zwischen Deutschland und Russland, denn vereint sind sie die einzige Kraft, die uns bedrohen könnte, und dafür zu sorgen, dass das nicht passiert.»]
Neues Selbstverständnis
An sich hat mich Einiges ziemlich überrascht: nicht nur die Erzählerperspektive oder einige sonst medial ignorierte Fakten, die endlich einmal angesprochen werden. Auch z.B. die Deutlichkeit, mit der doch sehr klar für die Eigenständigkeit Deutschlands und Europas appelliert wird, was auch konkret in Zusammenhang mit der neuen geopolitischen Konstellation erörtert wird. Es bestehen nun einmal unterschiedliche Interessen, die nicht wegrationalisiert oder -moralisiert werden können.
Zur moralisierten Aussenpolitik schreibt Vad u.a. auch, dass «von der einstigen deutschen Politik, der es gelang, die Gegensätze zwischen West und Ost auszutarieren, nichts mehr übrig ist» (S. 61).
Und weiter:
«Statt von handfesten Fakten und nationalen Interessen lässt sich die deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik ausschliesslich von Moral leiten («Wir liefern Waffen, weil die Russen Monster und die Ukrainer Helden sind») und trottet ansonsten brav den US- Amerikanern hinterher…»
Für Letztere allerdings ist Deutschland aus diversen (hier erläuterten) Gründen längst nicht mehr so wichtig wie mittlerweile die osteuropäischen Länder. In diesem Zusammenhang spricht Vad z.B. auch die Drei-Meere-Initiative an, welche medial bei uns beinahe nicht stattfindet.
Im letzten Kapitel zeigt Vad Lösungen auf, die noch möglich sind (allerdings schliesst sich das Zeitfenster jetzt in schwindelerregendem Tempo), um den «Worst Case» möglichst zu verhindern. Dabei gibt es ganz konkrete sachliche Massnahmen – u.a. auch die Nichtstationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland ohne Abrüstungsgarantien, denn diese werden «Deutschlands Sicherheit nicht erhöhen, sondern gefährden» (S. 74) – sowie diplomatische und strategische Massnahmen.
Ganz grundsätzlich braucht es für diese Vorschläge eine Reflexion und damit Neudefinition unseres Selbstverständnisses und unserer eigenen Interessenlage, «nicht nur auf dem Papier, sie muss vor allem praktiziert werden» (S. 75). Dabei mahnt Vad auch das Grundgesetz an: «Wir müssen reden, vermitteln und politische Lösungen finden – ganz im Sinne des Friedensgebotes unseres Grundgesetzes» (S. 76).
Menschlichkeit
Ein für mich sehr bewegendes Detail: Es gibt ein persönliches, ausgesprochen berührendes Vorwort über schöne Momente Vads auf seinem «aussergewöhnlich eingeschlagenen Weg» – angesichts des Kontextes, indem sich viele kritische Stimmen seit zweieinhalb Jahren mit fürchterlichen Angriffen konfrontiert sahen, so eben auch Erich Vad. Das hat alles nichts mehr mit Respekt, konstruktivem, demokratischen Diskurs, Vernunft oder Menschlichkeit zu tun und schon gleich gar nicht mit den viel gepriesenen, sogenannten westlichen Werten. Umso mehr wünsche ich ihm und den vielen Anderen reichlich weitere dieser schönen Augenblicke.
Das Vorwort schliesst mit den Worten: «Für Frieden in Deutschland und Europa.» Und während am Anfang jeden Kapitels ausgewählte, treffende Zitate zu finden sind, gibt es das erste zum Vorwort von Erich Maria Remarque:
Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg,
bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind.
Besonders die, die nicht hingehen müssen.
Mein Fazit: eine Pflichtlektüre für unsere Regierung, zuvorderst für alle Bellizisten, und ein Hoffnungsschimmer für alle friedliebenden und friedensbewegten Menschen.
Buchinfo
Erich Vad: Ernstfall für Deutschland, Westend Verlag, November 2024, 80 Seiten, kartoniert
ISBN: 9783864894923
* in seinem Beitrag Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer
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