Fiktion von Demokratie, Freiheit und Wohlstand

20 Jahre nach dem Beginn der Eroberung des Reichs des Bösen gibt es Action, Emotion und Werbung mit dem zweiteiligen sat1-Spielfilm „Wir sind das Volk – Liebe kennt keine Grenzen“ über das Ende der DDR - demnächst in Ihrem Sofakino.

Unheimlich dramatisch beginnt die Filmgeschichte mit Leitern und dann Schüssen an der Mauer 1983. Mathis fällt im Kugelhagel auf die Ostseite zurück, Andreas schwer verletzt ins ersehnte Paradies – und weiss noch nicht, dass seine Freundin Katja schwanger ist. Er wird Fernsehredakteur in Westberlin, seine in der DDR zurückgebliebenen Freunde filmen trotz Stasibelästigung heimlich Demonstrationen für Andreas und das  Westfernsehen, er liefert ihnen das nötige Material und Präservative.

Propagandastimme
Wie viele andere der DDR Überdrüssige wollen Katja und Sohn Sven im Sommer 1989 über Ungarn heimlich ausreisen. Sie wird erwischt und der Stasi ausgeliefert, der Junge findet seinen Weg zum Vater ins Konsumparadies. Um die Mauer zum Fall zu bringen und seine Frau rauszuhauen, macht sich der Journalist mit seinem Medium zu einer kräftigen Stimme der Westpropaganda.

Schmuddel und Design
Die Rollen sind verteilt: Da die Barbarei des Sozialismus mit gestiefelten, prügelnden Volkspolizisten, flächendeckender Bespitzelung und respektloser Belästigung durch kalte Beamte - dort persönliche Freiheit, Wohlstand und private Idylle. Da kleine, schmuddlige Wohnungen mit altmodischem Inventar, ständig in ein gelbbraunes Licht getaucht, das an ranziges Öl erinnert - dort wie in den US-Serien grosszügige, Licht durchflutete Räume, modern designte Einrichtungen, bequeme Ledersofas, geräumige Dachterrassen. Da ein durch und durch korruptes System - dort allenfalls individuelle Fehlentscheidungen von einzelnen Verantwortlichen.

Konsum und Karriere
Der Film hat gute Serienqualität und viele Widersprüche. Er suggeriert stundenlang, es gehe um Persönlichkeitsrechte und Reisefreiheit, nicht um naive Sehnsüchte nach Konsum und Karriere für alle. Erst ganz gegen Schluss des zweiten Teils fallen am Rand ein paar klare Worte: Es gehe um Bananen, Videorekorder und Floridareisen. Und an der Erstaufführung letztes Jahr auf sat1 waren viele lange Werbeblöcke dazwischen geschnitten, in denen die Zuschauer unermüdlich mit Limousinen, Waschmitteln, Eigenheimen, Anti-Ageing-Crèmes und viel mehr in allen Farben- und Gestaltungskombinationen beworfen wurden.

Der Klassenstandpunkt
Errungenschaften der DDR wie Kinderbetreuungsstrukturen oder soziale Sicherheit flackern jeweils nur kurz auf, werden als Alibiübungen hingestellt und zerfallen angesichts der Übermacht an Warenfetischismus und bürgerlicher Ideologie. Der Westen wird als beglückendes Reich von Friede und Freiheit nicht ausgemalt, aber angedeutet. Ein Aktivist erzählt seiner Freundin in einer stillen Stunde einmal, er habe in einem Schulaufsatz eine schlechte Note bekommen, weil er ohne präzisen Klassenstandpunkt geschrieben habe. Antikommunistischer Spott schwingt hier mit, der sozialistische Begriff wird als absurde und hohle Rhetorik hingestellt.

Reduktion und Aburteilung
Den Zeitzeugen und nachfolgenden Generationen will man mit dem Zweiteiler ein einseitiges Bild einbrennen, ein paar Mal kommen Faschismus-Vergleiche. Auch der TV-Spielfilm „Das Leben der anderen“ von 2006 reduziert die Deutsche Demokratische Republik auf die Überwachung von Oppositionellen und die beschränkte Reisefreiheit und urteilt sie damit ab. Das war nicht die vollständige Lebenswelt der DDR-Bürger, das sind Aspekte der damaligen Realität, aufgeblasen zu Klischees und Propaganda. Lenken auch prächtig ab von kapitalistischen Schandtaten in aller Welt.

Taumel der Westeuphorie
Spannende Verfolgungsjagden durch Hinterhöfe und Treppenhäuser, Spitzel-Verdächtigungen, fiese Verhöre, Liebesszenen - an den zwei Fernsehabenden wachsen die Hauptfiguren dem Durchschnitts-Zuschauer ans Herz, man fiebert mit: „Wir sind das Volk!“. Und als dann am 9. November 1989 die Schlagbäume aufgehen, gehen auch die Herzen auf. Alle lieben sich und teilen den Taumel der Westeuphorie. Die früher unerbittlichen Grenzer strahlen, werden umarmt, BRD-Fahnen tauchen auf, die bösen Sozialisten haben ausgespielt.

Wie im US-Actionfilm ist der Feind kaltgestellt, die Welt befreit und öffentliche wie private Probleme sind gelöst. Jeder kann jetzt reich und ein Star werden. Höhepunkt der Rührung bildet die Familienzusammenführung ganz am Schluss. Spätestens jetzt muss zu den Papiertaschentüchern gegriffen werden, für die bei der Erstaufführung selbstverständlich auch ein Werbespot an geeigneter Stelle eingeschoben worden ist.

Nicht ohne Feindbild
P.S.: Ohne Feindbild ging’s in der politischen Realität dann auch wieder nicht. Asiatische Länder taugten wenig für diese Rolle, die Moslems, die alten Konkurrenten, liessen sich leichter einspannen.

db.

Das Thema im Konzentrat: 1 und 2
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01. Februar 2009
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