Freud und Leid
Abschied nehmen, eine Lektion des Lebens… die Samstagskolumne.
Im Januar des vergangenen Jahres verstarb mein Mann. Er war lange krank gewesen und ich hatte ihn über Monate zu Hause gepflegt. Ich war bei ihm, als er hinüberglitt, zusammen mit einer Freundin und der Katze, die ruhig auf ihm schlummerte. Kurz darauf begann das Haus, sich zu füllen. Nachbarn kamen, Freunde, Verwandte. Die Tür war offen. Jemand machte Kaffee, ein anderer zu essen, ich versuchte, einen Arzt aufzutreiben, der den Totenschein ausstellt. In Frankreich wurde gestreikt.
Einen Tag und eine Nacht will ich ihn im Haus behalten. Seine Seele soll nicht erschrecken und noch ein wenig in der gewohnten Umgebung bleiben dürfen. Im Nebenzimmer ist er aufgebahrt, sein Körper bedeckt von dem, was die, die ihn lieben, mit auf die letzte Reise geben: eine Feder, ein Olivenzweig, eine Muschel, ein Stein. Immer wieder geht jemand zu ihm. In der Dorfkirche gegenüber wird die Totenglocke geläutet. Ein Bruder bringt die Gitarre mit.
Ein Mensch ist gegangen, mit seinen hellen und seinen dunklen Seiten. Ein Mensch, wie es ihn nur ein einziges Mal gab.
Als ich aus dem Beerdigungsinstitut zurückkomme, ist das Haus voll und im Garten der Pampelmusenbaum abgeerntet. Körbe voller praller gelber Früchte. Der Versuch, etwas zu tun in einem Moment, in dem es nichts zu tun gibt. Nur Dasein. Menschen kommen und bleiben. Weinflaschen werden geöffnet, Dreikönigskuchen angeschnitten und Kronen aufgesetzt. Und es wird gelacht. So wie er es gewollt hätte.
Am nächsten Morgen wird er abgeholt. Wir haben noch einmal für ihn gesungen. Brassens, Brel, Gainsbourg. Seine geliebte Javanaise, von allen gesummt, wird ihn später ins Grab geleiten. Lieder, das Licht der Kerzen und des kalten Winterhimmels, blau gepustet vom Mistral, und viel Liebe.
Compagnons: Die, mit denen wir das Brot teilen. Mehr ist nicht zu tun, als zusammen zu sein und Verbindung zu leben. Keine Ratschläge. Kein «Als-ich-damals». Kein Zurschaustellen. Kein Drama. Kein Glorifizieren. Ein Mensch ist gegangen, mit seinen hellen und seinen dunklen Seiten. Ein Mensch, wie es ihn nur ein einziges Mal gab.
Ein Jahr später steigt derselbe Freund in den Baum und erntet die Pampelmusen. Dieselben Menschen kommen zusammen, schneiden den Dreikönigskuchen an, setzen die Krone auf und trinken den Wein. Der Verlust des Unersetzbaren ist nicht geringer geworden. Doch das Leben ist schön.
Es ist schön, wenn es geteilt wird. Ob Brot oder Kuchen, ob Freud oder Leid: Das Schlimmste wird erträglich, wenn wir uns gehalten fühlen. In der Umarmung sind die Tränen der Traurigkeit den Tränen des freudigen Berührtseins so nah! Im Gefühl der Verbundenheit erst kann sich das eine über das andere offenbaren.
Im abendlichen Himmel sitzt eine Amsel in der Linde neben der alten Kirche. Es gefällt mir zu denken, sie schaut zu mir herüber. Er glaubte nicht an Wiederkehr, nicht an Gott, nicht an die Wanderung der Seele. Doch er liebte die Vögel.
Ich bin noch da. Nichts geht verloren, nichts wird geschaffen, alles verwandelt sich: Das ist ein physikalisches Gesetz. Wir sind ein unauslöschlicher Teil des Ganzen. Was einmal ist, hat immer seinen Platz im Gefüge. Die Amsel kann ich nicht mehr sehen. Es ist zu dunkel geworden. Doch wer sagt, dass sie nicht mehr da ist?
von:
Über
Kerstin Chavent
Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung, In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.
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