Gutes Bauen wäre einfach
… aber die Rendite und das Auto machen es schwierig. – ein Gespräch mit dem Stadtplaner und Architekten Michael Habeck
Zeitpunkt: Was fehlt eigentlich den heutigen Siedlungen?
Michael Habeck: Mit Ausnahme von Licht und Luft fast alles, was es für einen guten Lebensraum braucht:
• Die Grundrisse der Wohnungen sind zwar in der Regel recht gross, aber sie können nicht flexibel genutzt werden, wenn sich die Lebensumstände ändern.
• Die Häuser sind in der Regel viel zu hoch. Ab dem 5. Stock ist der Kontakt mit dem Leben im allgemeinen Bereich abgerissen, was zu psychischen Störungen und verminderter Sozialkompetenz führt. Das ist wissenschaftlich erwiesen.
• Der öffentliche Bereich zwischen diesen Grossbauten ist tote, unbenutzbare Fläche.
• Der Übergang vom privaten zum öffentlichen Bereich ist zu direkt und es fehlen Nischen für ungezwungene Begegnungen.
• Es gibt zu wenig geschützte Aussenbereiche, wo Kinder spielen, Jugendliche rumhängen oder Erwachsene verweilen können.
• Das Auto dominiert den öffentlichen Raum. In den alten Strassen stellen sie alles voll und die neuen Quartiere werden von den Verkehrswegen zerschnitten.
• Es fehlen Räume für Beschäftigung oder Selbstversorgung, also Werkstätten und Gemüsegärten.
Das könnte man, abgesehen vom Umgang mit dem Auto, eigentlich problemlos besser machen.
Ja, aber grosse und hohe Häuser sind billiger herzustellen und die Rendite ist höher. Zudem ist die Mietskaserne ein prägendes, verfestigtes Muster. In Siedlungen mit Lebensraum-Qualität ist der Mensch unabhängiger und weniger kontrollierbar. Und das ist – trotz der Propagierung freiheitlicher Werte von den Kreisen, die die Macht ausüben – nicht erwünscht. Das hat übrigens Tradition: In den englischen Arbeitersiedlungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es sogar Beobachtungsposten und die grossen Avenues von Paris wurden auch so breit gebaut, damit notfalls die Armee zur Kontrolle der Massen aufmarschieren konnte.
Reicht das als Erklärung für die Misere? Es braucht doch auch Architekten dazu.
Der propagandistische Auftrag der Moderne war nicht, menschengerechten Lebensraum zu schaffen, sondern den Mief der alten Städte zu brechen. «Brüder zur Sonne, zur Freiheit» lautete das Motto. Und das ist in beschränktem Masse auch gelungen. Corbusier hat die kleinräumige Architektur des Mittelmeerraums studiert, aber keine Auftraggeber für seine Ideen gefunden. Die Investoren wollten Wohnmaschinen. Die waren zwar um Klassen besser als die alten Mietskasernen, hatten aber trotzdem noch viele Fehler. Wenn Architekten keine Bauherren für ihre Visionen finden, dann passen sie sich eben an. Ich kann das verstehen.
So hat man einer Utopie nachgelebt, die sich heute als brutal falsch erweist und der man nur noch mit dem Auto entfliehen kann. Mittlerweile hat sich das Auto seinerseits zu einem fast unlösbaren städtebaulichen Problem entwickelt.
In der Tat. An Verkehrswegen kann man eigentlich nicht wohnen. Abgesehen von Lärm und Gestank, die krank machen, bremsen Autos ständig den Bewegungsdrang der Menschen, insbesondere der Kinder. Man lebt sozusagen mit angezogener Handbremse. Autos binden die Aufmerksamkeit aller Verkehrsteilnehmer, weil die Menschen von Natur aus auf Bewegung reagieren. Die Autofahrer ihrerseits haben eine reduzierte Wahrnehmung der Stadt, sie sehen gewissermassen an ihr vorbei. Das Ganze führt zu einer Wahrnehmungsstörung, zu einem abgeschnittenen Kontakt mit der Umwelt. Dazu kommt der enorme Platzbedarf des fliessenden und stehenden Verkehrs. Eigentlich müsste man dem Verkehr wie in Venedig zu Leibe rücken, mit Parkhäusern am Stadtrand, attraktiven Fusswegen und einem effizienten öffentlichen Verkehr. Die Zustände in den Städten sorgen allerdings schon dafür, dass der Anteil der autofrei lebenden Menschen ständig steigt. In einigen Städten sind schon mehr als ein Drittel der Haushalte autofrei.
Warum gibt es denn nicht mehr autofreie Siedlungen?
Das Auto ist nach wie vor das utopische Ideal der Industriegesellschaft für die Befreiung des Menschen. Mobil sein, beweglich sein – nicht im Geiste, aber mit dem Arsch. Autofreie Siedlungen werden – wenn schon – nur für Eigentümer und nicht als Mietwohnungen realisiert, und die Besitzenden wollen (noch) nicht auf ihr Auto verzichten. Die baurechtlichen Bestimmungen gehen zudem davon aus, dass jeder mit dem Auto bis vor sein Haus fahren will. So sind die Quartiere auch geplant. Als einzelner Bauherr, der nicht gleich eine ganze Siedlung errichtet, kann man das nicht ändern.
Ein vollkommen vernachlässigter Aspekt des Bauens ist die Krisenfestigkeit unserer Siedlungen. Die Vorstädte von Paris zeigen mit aller Deutlichkeit, dass sie mit einer hohen Arbeitslosigkeit nicht umgehen können. Die Menschen halten es in diesen Stukturen einfach nicht aus, wenn sie nicht zur Arbeit gehen können und kein Geld für regelmässige Fluchten zur Erholung haben.
Krisenfestigkeit bedeutet: Energiesicherheit, langlebige, rezyklierbare Materialien (Beton nur, wo wirklich nötig), flexible Nutzungsmöglichkeiten, Möglichkeit zur Selbstversorgung, Werkstätten und Orte für Begegnung und sinnvollen Zeitvertreib.
Ich finde es bedrückend, dass die Pensionskassen als wichtigster Bauträger in der Schweiz keine ernsthaften Versuche unternehmen, menschengerechter zu bauen.
Solange eine bestimmte Investitionsform Rendite abwirft, wird sie praktiziert. Niemand geht ein Wagnis ein, wenn das Alte funktioniert. Zudem könnte das Neue das Alte, das ja immer noch rentieren muss, entwerten. Trotzdem sollten die Bauträger wie die Industrie auch Neues entwickeln und im Detail erforschen, was funktioniert. Ein kleiner Investor kann sich das nicht leisten, auch ein Architekt nicht. Und: Bauen braucht Zeit. Man muss mit dem Neuen anfangen, so lange das Alte noch einigermassen funktioniert.
Wer sich mit Utopien befasst, stellt sofort fest: Es gibt eine Fülle von Ideen und phantastischen Konzepten, von denen nur ganz wenige realisiert wurden. Obwohl die Chancen auf Verwirklichung sehr klein sind, lassen sich die Menschen immer wieder von ihnen motivieren.
Es gibt viele utopische Phantasien und Perspektiven für die menschliche Entwicklung. Alle befassen sich auch mit sozialen Themen und fast alle entwerfen architektonische Ideen, wie das Zusammenleben der Menschen besser gestaltet werden könnte. Die Kenntnis all der Utopien gehört aber nicht zur Allgemeinbildung. Die meisten kennen nur das, was der Zeitgeist im kollektiven Denken verankert. Das sind einerseits der Glaube an den technischen Fortschritt und andererseits die religiösen Phantasien, dass auf der Erden das Übel ist und «im Himmel» das Paradies.
Wenn aber jemand mit einer gewissen Autorität eine Utopie formuliert, ist das für die Menschen eine grosse «Erleichterung», die Stabilität und Sicherheit verspricht. In der daraus entstehenden Euphorie und Hoffnung ertragen sie die Tagesprobleme und verdrängen die Ahnungen eines aufziehenden Unheils. Die Utopie aber auch zu realisieren, ist fast unmöglich. Und das wissen fortschrittsgläubige Menschen nicht, weil sie nie gelernt haben, ihre eigene Situation genau anzuschauen und sie dann selber aktiv zu verändern.
Marx und Engels haben die gesellschaftliche Krise sehr genau analysiert, aber ihre Idee, dass die Menschen in der Krise diese auch erkennen, war genauso utopisch wie die Meinung von Owen, dass sich die Reichen an seinen Reformideen beteiligen würden.
Soll man deswegen gar keine Utopien mehr haben?
Wenn man sich mit Utopien beschäftigt, und das mache ich nun schon seit über dreissig Jahren, dann sieht man, dass die besten Entwürfe die Krisen der Gesellschaft sehr gut fokussieren und Ideen entwerfen, die davon wegführen sollen. Neben den wegführenden und euphorisierenden Tendenzen fordern sie auch auf, sich genauer mit der Wirklichkeit zu beschäftigen. Und diese Beschäftigung mit der Wirklichkeit, beobachten, lesen und mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen usw. das ist sehr wichtig.
Utopien helfen doch auch, trotz widriger Umstände die Hoffnung lebendig zu erhalten.
Es kann aber auch eine hoffnungsvolle Erstarrung daraus werden. Der Neurophysiologe Gerald Hüther beschreibt in seinem letzten Buch, wie Gesellschaften, die über längere Zeit keine neuen realistischen Ideen entwickeln – um die jeweils gegenwärtige Stabilität nicht zu gefährden – die Leitbilder der früheren Generationen immer stärker idealisieren und in ihrer Entwicklung still stehen. Wenn dann aber andere Leitbilder erforderlich wären, weil zum Beispiel die Ressourcen knapp werden, scheitern diese Gesellschaften mit ihren alten Werten. Und mit der zunehmenden Angst greifen sie auf ältere, primitivere Handlungsmuster zurück, um Überleben zu sichern: Krieg, Diktatur oder Auflösung der Gemeinschaft durch individuelle Selbstbehauptung.
Also ein Zustand, den wir heute haben.
Richtig. Die technischen Phantasien und Utopien bleiben im Fluidum «Das werden wir schon irgendwie hinkriegen!» Aber eigentlich sind sie so weit abgehoben, dass alles wie bisher weiter geht … bis es schliesslich nicht mehr weiter geht. Die technokratischen und religiösen Utopien helfen uns, die realen Probleme zu verdrängen und uns innerlich zu spalten.
Utopien helfen uns also nicht, die Realität zu verändern, sondern zu vergessen. Aber eigentlich müssten wir einfach in kleineren Schritten vorankommen.
Was die sozialistischen Utopisten gesehen haben, war sehr realistisch. Aber es wurde nicht ernst genommen. Der Engländer Owen zum Beispiel, der selber der oberen Mittelschicht angehörte, hat die Zustände sehr genau beschrieben, aber er wurde lächerlich gemacht. Marx und Engels akzeptierten seine präzisen sozialen Analysen, aber nicht seinen Glauben an die «Hilfe der Reichen». Das Problem dieser Utopien liegt nicht an der falschen Beurteilung der Missstände und auch nicht an der Idee, dass diese verändert werden müssten. Das Problem ist «nur» die Idee, mit welchen Methoden diese verändert werden könnten, was aber auch niemand von uns genau weiss. Hinter vielen phantastischen Utopien steht ein sorgfältig erforschter Missstand als Ausgangspunkt, gefolgt von einer Idee, wie der schlechtere Zustand in einen besseren überführt werden könnte. Dieses perspektivische Denken könnte dazu anregen, sich eine ganz persönliche Meinung zur Realität zu bilden. Das hat etwas mit Bildung zu tun. Und in diesem Kontext sind alle Utopien lehrreich und könnten dazu beitragen, etwas in Bewegung zu bringen.
Doch die Realität gerät nicht in Bewegung.
Alle Gesellschaften schaffen seit eh und je über innere Bilder, religiöse Vorstellungen und allgemein gültige Regeln stabile Verhältnisse. Diese inneren Bilder, die über Generationen vermittelt werden, verändern sich nicht von alleine, denn das würde Abbau von Sicherheiten und das Eingehen von Wagnissen bedeuten. Und für die Reichen bedeutet der Abbau von alten Strukturen oft auch Abbau von Pfründen. Für die Kirchen waren zum Beispiel die Freidenker Terroristen, die ihre Pfründen gefährdeten. Diese gesellschaftlichen inneren Bildern legitimieren die Verteilung von Wissen, Produktionsmitteln und militärischer Macht und stützen sich auf eine Religion und auf ein «Rechtssystem», das mit Hinweis auf seinen gottgewollten Inhalt jede Kritik bestraft.
Fand nicht mit der Industrialisierung ein grosser Wandel statt? Weg von der Grossfamilie mit Selbstversorgung hin zur Kernfamilie im Häuschen oder in der Wohnung mit einem Ernährer, der sich für Lohnarbeit andient.
Das Wohnen, wenn wir diesen Aspekt einmal anschauen, war im Mittelalter nicht unbedingt bequem oder sozial. Die Städte wurden kreuz und quer gebaut, schief und billig und die Häuser waren kalt und zugig, die Menschen eingepfercht, die Abwasser flossen auf den Strassen und es stank nach Fäkalien und Hausbrand. Nur die Kirche hatte eine geordnete Geometrie, um sich vom Chaos der weltlichen Szene abzusetzen.
Die Besitzverhältnisse, Rechtsformen und gesellschaftlichen Klassen änderten sich mit der Industrialisierung nicht wesentlich, auch wenn es Veränderungen gab wie die Verarmung einiger Aristokraten und der Aufstieg vereinzelter Bürger. Die Wohnsituation in den Städten verschlechterte sich aber ganz allgemein, deshalb zogen die reicheren Bürger und die Aristokraten in die Aussenbezirke um. Das schaffte Platz, um in den alten Häusern ein Vielfaches an Menschen einzupferchen, bis Seuchen das Überleben dieser Menschen gefährdeten, die ja «wichtige Arbeitskräfte» waren. Um die Seuchengefahr einzudämmen und den revolutionären Kräften die Spitze zu brechen, wurde der «soziale Wohnungsbau» eingeführt. Diese Wohnungen waren wesentlich besser als die Slums in London, Paris oder Berlin. Das ist unbestritten!
Was aber blieb, war die Verquickung von Massenwohnungsbau und Ausbeutung der Arbeitskraft. Die Bereitstellung von Arbeitskräften und ihre Kasernierung diente der Industrie und wurde nach Kräften gefördert, Ansätze für echten Lebensraum dagegen bewusst verhindert. In den 20er Jahren zum Beispiel wurde, unterstützt von Koryphäen wie Walter Gropius und Mies van der Rohe, die Idee der Wohnküche auch für Mietwohnungen diskutiert. Realisiert wurde sie nicht, weil man befürchtete, den Arbeitern könnte es auf den Sofas in ihren Wohnküchen zu bequem werden!
Das grosse Problem des Massenwohnungsbaus nach diesem Muster ist, dass er nur in einer Gesellschaft mit Vollbeschäftigung «funktioniert». Die Siedlungen sind nicht darauf ausgelegt, dass man sich 24 Stunden am Tag darin aufhält, sondern dass man abends müde nach Hause kommt und sie im Morgengrauen wieder verlässt. Kinder können in solchen Siedlungen deutlich weniger soziale Kompetenzen entwickeln, was die Wissenschaft inzwischen mehrfach bestätigt hat. In den letzten Jahrzehnten ist ein weiterer struktureller Mangel deutlich geworden: Solche Siedlungen hemmen die Integration und verschärfen die Konflikte unter den verschiedenen ethnischen Gruppen.
Gibt es denn Hoffnung, dass sich etwas auf evolutionärem Weg ändert?
Der englische Utopist Owen hatte die Hoffnung, dass sich die Reichen daran beteiligen. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt und trotzdem habe ich sie auch. Es gibt doch ein paar wenige, die es probieren. Aber generell haben sie die Tendenz, sich in gesicherte Siedlungen zurückzuziehen. Wenn wir einmal Zustände haben, dass die Reichen nicht mehr in die Städte einkaufen gehen können, wie es sich in Brasilien schon abzeichnet und sie erst dann zu Bewusstsein kommen, dann ist es zu spät.
Die Reichen sollten in Kultur und Bildung investieren. Hilfe zur Selbsthilfe war das Motto der Entwicklungshilfe in den 60er Jahren. Eine solche Entwicklungshilfe, die die Massen erreicht, ist heute auch in unseren Breitengraden bitternötig. So bekommt die Krise auch einen Sinn.
Michael Habeck (*1949) studierte Architektur und Pädagogik und ist seit 1977 freiberuflich als Architekt tätig. Er erhielt für seine Arbeit verschiedene Auszeichnungen, u. a. den Holzbaupreis des Landes Rheinland-Pfalz oder die Auszeichnung für vorbildliches Bauen des hessischen Ministers für Wirtschaft. Die deutsche Zeitschrift «Architektur und Wohnen» nahm ihn in ihre Liste der 175 besten Architekten für Wohnungsbau auf.
Seit 30 Jahren sind Hofhäuser nebem dem Holzbau die grosse Leidenschaft von Michael Habeck. Seit vier Jahren plant er in der Gascogne im Süd- Westen Frankreichs im Auftrag eines privaten Investors eine kleine Stadt bestehend aus Hofhäusern. Ebenfalls in Planung ist eine (tibetische) Universität für die geistige Forschung auf Santorin.
Von Michael Habeck sind erschienen: Basiswissen Küchenplanung - die konzeptionellen und architektonischen Grundlagen. 2000.
Der Mensch , sein Haus und andere erstaunliche Geschichten. 2006. Beide Verlag «Die Planung», Darmstadt
Kontakt: Michael Habeck, Prinz Christians Weg 7, D-64287 Darmstadt, e-mail: [email protected] - http://www.wohnhotel.com - http://www.stadt-utopie.de
01. März 2007
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