«Hit’s à go go» – Wie ich das Fernsehen entdeckte
Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #5
Dass wir zuhause ein Radio, aber kein Fernsehgerät besassen, wurde für mich zum Problem. Zu einer Frage des Überlebens geradezu. Die pädagogischen Vorbehalte, die meine Eltern gegen das Fernsehen hatten, fand ich ungerecht.
Ich wollte nicht vor der Glotze sitzen, wie manche Schulkameraden, und Krimis schauen. Ich wollte den «Beatclub» sehen, der samstags jeweils im deutschen Fernsehen gesendet wurde. Doch unsere Nachbarn im Haus nebenan, ein nettes älteres Ehepaar, in deren Stube ein Fernseher stand, konnte ich mit meinem Musikgeschmack nicht belästigen. Und so verpasste ich nicht nur regelmässig den Beatclub, sondern auch «Hits à go go», die Popmusiksendung im Schweizer Fernsehen.
Auf der Suche nach dem zündenden Argument, das meine Eltern umstimmen konnte, erklärte ich ihnen, dass ich doch über Popmusik schrieb. Ich musste mich informieren können. Ich hatte die Pflicht, fernzusehen! – Sobald ich «beruflich» argumentierte, gelang es mir, die Eltern zu überzeugen. Um den Fernseher nicht gleich kaufen zu müssen, mieteten sie ein Gerät. Sie mieteten es auch deshalb, weil sie den Kauf eines Apparats nicht vermochten. Aber darüber machte ich mir noch keine Gedanken.
Mein Vater hätte den Apparat in die Stube gestellt, doch weil meine Mutter darauf bestand, als Fernsehraum genüge der Keller, blieb die Stube nun öfters leer. Weil meine Eltern im Keller sassen, um fernzusehen.
Am 2. September 1968 jedoch wollte ich nicht in den Keller steigen. Denn das Schweizer Fernsehen führte die Farbe ein – und eine der ersten farbigen Sendungen war «Hit’s à go go». Als Popmusikrezensent der ersten Stunde musste ich diesen fernsehhistorischen Augenblick live erleben, und ich ergatterte mir eine Eintrittskarte in die Fernseh- und Radioausstellung FERA, wo «Hits à go go» vor Publikum produziert wurde. Danach berichtete ich darüber in meinem Popcorner.
Zum erstenmal eine Fernsehproduktion live zu erleben, machte mir grossen Eindruck – doch erwähnte ich meine persönlichen Emotionen mit keinem Wort. Schon ganz der abgeklärte Berichterstatter, schilderte ich die farbenfrohe Gestaltung der Sendung und bemerkte dann kritisch:
«Die Produzenten müssen vergessen haben, dass der grösste Teil des Schweizer Fernsehpublikums noch über Schwarzweiss-Empfänger verfügt und deshalb nicht in den Genuss der verschiedenen Farbsinfonien kam. Schwarz-weiss wirkten sie ziemlich öde.»
Tatsächlich konnten nur wenige tausend Zuschauer in der Schweiz die ersten Farbsendungen in Farbe sehen. Auch wir besassen nur ein Schwarzweissgerät. Die Haushaltskasse war für grösseren Luxus nicht eingerichtet.
Doch die Farbe, die niemand sehen konnte, war nicht mein Thema. Die Musik interessierte mich. Aus England traten «The Nice» auf, die gerade ihre ersten Erfolge feierten. Sie spielten den Titel «America», eine Instrumentalversion des Musicals «Westsidestory» und – wie ich schrieb – «ernteten damit grosse Begeisterung».
Als Lobeslied auf die USA war das Stück aber nicht gedacht. Keith Emerson, Organist und Kopf der Gruppe, protestierte danach ausser Programm und vor laufender Kamera gegen das Engagement der USA in Vietnam. Mit aller Härte bekämpften die Amerikaner damals das kommunistische Nordvietnam, und ein Jahr später bereits hätte ich Emersons kritische Worte in meiner Kolumne bestimmt erwähnt. Doch in meinem Bericht verlor ich kein Wort darüber. 1968 war ich offenbar noch zu jung für den Vietnamkrieg. Noch interessierte mich die Musik mehr als die Politik.
*
Als ich diese Zeilen verfasse, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert hinter dem ersten farbigen «Hits à go go», und ich wünschte mir, die Sendung 50 Jahre danach noch einmal sehen zu können. Auf der Archivseite des Schweizer Fernsehens finde ich sie erstaunlicherweise sofort – und die Wiederbegegnung mit den historischen bunten Bildern berührt mich.
Heute nämlich wirkt «Hits à go go» auf mich wie eine niedliche, etwas unbeholfene Kinderstunde. Alles an ihr erscheint mir auf eine fast peinliche Weise als kindlich: die Moderation, die Gestaltung, das Publikum, die Präsentation der Musik. So hätte das damals niemand empfunden. Heute aber erschrecke ich, wie erwachsen wir unterdessen geworden sind. Die Sendung strahlt eine Unschuld aus, die wir definitiv verloren haben.
Wie werden die Menschen, frage ich mich, in 50 Jahren über eine Musikshow von heute reden? Werden sie auch uns als naiv und niedlich empfinden? Kann der Mensch noch erwachsener werden, als wir es sind?
Die Kamera zeigte während der Sendung auch immer wieder das dichtgedrängt sitzende Publikum. Irgendwo mittendrin, überlege ich mir, müsste auch ich zu entdecken sein, denn ich war tatsächlich dort. Zu gern hätte ich mich, 50 Jahre danach, unter den Zuschauern wiedergefunden. Aber ich sehe mich nirgends, und ich weiss auch warum. Mitten in einer Menge habe ich mich noch nie wohl gefühlt. Ich hielt mich immer eher am Rand auf. Schon damals zog ich es vor, zu beobachten. Der Fan wandelte sich bereits zum Chronisten.
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von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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