Hochheiliges Geheimnis

Beichten heisst Vertrauen: auf Gottes Vergebung und die Verschwiegenheit des Priesters. Doch manchmal gibt es
Konflikte.

(Foto: Klaus Petrus)

«Güetun Tag, ich bi en Büeb fa zwölf Jaar, z letschtusch Mal gha biichtu bin vor drii Monat, mine letschtusch Vorsatz isch gsi: nid z flüuchu, mine niw Vorsatz isch: nid z leigu. Mini Sünde sind ... .» Und dann habe ich, ich armer, vom schlechten Gewissen auf die Knie gedrückter Schlucker in diesem engen, dunklen, hölzernen Beichtstuhl mit leiser Stimme die Liste meiner Sünden runtergeleiert: die Lehrerin angemotzt, ein paar Mal gelogen, die ganze Zeit geflucht, auf dem Schulweg Kirschen geklaut, meine Schwester genervt, und so. Am Ende gab mir der Priester, durch das vergitterte Fenster gottlob nur schemenhaft erkennbar, die Absolution, und ich war, bis aufs nächste Mal, zwar frei von jeder Sünde, musste aber doch noch fünf Vaterunser und drei Heilige Maria beten, wieder auf den Knien und zur Strafe sozusagen.

Als ich Abbé Dominique Jeannerat von der Dreifaltigkeitskirche in Bern treffe, um über das Beichtgeheimnis zu reden, über Schuld und Sühne und Strafe, da merke ich bald, dass ich nicht mehr von dieser Welt bin. Im erzkatholischen Wallis erzkatholisch aufgewachsen (ich sage immer «sozialisiert», das klingt irgendwie aufgeklärt), liegt meine letzte Beichte weit über dreissig Jahre zurück. «Solche wie Sie damals, die gibt es heute nur noch selten. Die meisten gehen zum Beichtvater, weil sie Rat suchen.» Auch werde im Normalfall nicht mehr im Beichtstuhl gebeichtet, sondern von Angesicht zu Angesicht, an einem kleinen Tisch zum Beispiel, mit einer Kerze darauf, an der Wand ein Kreuz. «Der soziale und religiöse Druck, beichten zu müssen, ist heute weitgehend verschwunden. Was gut ist. Denn wer beichtet, sollte das freiwillig tun.» Überhaupt: Dieses Bild vom geduckten Büsser ist bei weitem nicht mehr die Regel, sagt Abbé Jeannerat, 57, jugendliche Erscheinung. Dahinter stehe die Vorstellung eines gestrengen, richtenden Gottes – und nicht das Vorbild Jesu, der liebt und vergibt.

Und doch gehören Schuldgefühle zum Menschen wie seine Ohren und Nasen. Wir sind unvollkommen, streben nach dem Perfekten und haben oft genug ein schlechtes Gewissen, nicht zu genügen. Ja, stimmt Abbé Jeannerat zu, besonders in unserer Leistungsgesellschaft. Zugleich seien wir gut darin, für alles eine Entschuldigung zu finden. Um es uns leicht zu machen, um keine Verantwortung zu übernehmen. «Dabei ist das Prinzip Verantwortung heute wichtiger denn je – etwa wenn es um unseren Umgang mit Geflüchteten geht oder mit der Natur.»

Doch entbindet den Katholiken nicht gerade die Absolution von jeder Verantwortung? Abbé Jeannerat wiegt den Kopf und denkt, was er im Gespräch oft ausspricht: Man muss differenzieren.
Auf der einen Seite: Ja, durch die Absolution schenke uns Gott die Chance auf einen Neuanfang. Allerdings sei das ganze Prozedere schwer zu begreifen: Da geht man zur Beichte und Minuten später soll man frei sein von Schuld. «Kann der Mensch sich selbst so schnell vergeben, wie ihm Gott vergibt? Vielleicht wäre es manchmal gut, man hätte mehr Zeit, um in sich zu gehen: Was habe ich falsch gemacht, wie kann ich es besser anstellen?» Abbé Jeannerat könnte sich ein arbeitsteiliges Modell vorstellen: Wir «beichten» bei einer Vertrauensperson – nicht zwingend ein Priester, vielleicht eine Katechetin, ein Freund –, nehmen uns Zeit zur Besinnung und lassen uns erst dann die Absolution geben.

Auf der anderen Seite: Nein, die Absolution ersetze die Verantwortung nicht, denn es könne durchaus sein, dass der Priester sie nicht erteilen dürfe. «Hat der Gläubige gemordet, so darf er nicht einfach sagen: Hauptsache, Gott vergibt mir! Er muss sich stellen und die gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Erst dann bekommt er die Absolution.»

Straftaten sind es denn auch, welche die Frage nach dem Beichtgeheimnis aufwerfen. Gilt es absolut? Oder darf es – ja, muss es – manchmal aufgehoben werden? Im Prinzip, sagt Abbé Jeannerat, sei das wie in einer Beziehung: Vertrauen ist alles. «Wenn wir nicht sicher sein können, dass der Beichtvater das, was wir ihm anvertrauen, für sich behält, würden wir dann noch zur Beichte gehen?» Sicher gebe es Situationen, da frage er sich als Priester: Ist das Beichtgeheimnis noch vertretbar? So vor allem, wenn es um den Schutz der Opfer geht. «Zu lange hat die katholische Kirche einseitig das Beichtgeheimnis geschützt oder den Beichtenden – und zu wenig die Betroffenen.» Abbé Jeannerat redet nicht drumherum, er spricht aus, an was jetzt wohl alle denken: Missbrauch. Dazu äussern mag er sich aber nicht, doch er sagt auch: «Hier ist ein Kurswechsel der katholischen Kirche dringend nötig.»
Ob er, der im erzkatholischen Jura aufgewachsen ist, denn selber oft zur Beichte gehe? Das, schmunzelt Abbé Dominique Jeannerat, sei sein persönliches Geheimnis.   

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