«Ich fühle mich nicht als Fremder bei euch»
Osterwoche 1973. Wie es mich wieder nach Irland zog, diesmal nicht mehr als autostoppender Schüler – und wie mich ein Ire in die Tiefe seiner verletzten Seele hinabblicken liess. Serie ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft #58 von Nicolas Lindt.
Nach meiner kritischen Beschäftigung mit dem Pestalozzi-Kalender – und der offenbleibenden Frage, ob Pestalozzi wohl seinen Namen dafür entlehnt hätte – musste ich diese Überdosis an Schweiz schnell wieder loswerden. Ich reiste nach Irland. Nach meinem ersten Aufenthalt auf der grünen Insel mit Elias zusammen ein Jahr davor wusste ich: Dahin muss ich zurückkehren.
Schon während der Schulzeit in einem Aufsatz hatte ich es zum Land meiner Sehnsucht erkoren, und nachdem ich es nun bereist hatte, war seine Anziehungskraft noch stärker geworden. Irland vereinigte Eigenschaften in sich, die mir heute noch viel bedeuten: die raue Natur, die Liebe zu den Poeten und Barden – und das Zeitgeschehen. Vor allem in das brodelnde, blutig umkämpfte Nordirland zog es mich wieder, aber diesmal nicht mehr als autostoppender Tramper, sondern als junger Reporter und Idealist.
Ausserdem reiste ich diesmal bewusst allein. Allein musste ich keine Kompromisse eingehen – und allein erfährt und erlebt man mehr. Schon bei unserem ersten Aufenthalt hatte ich deshalb, sowohl in Dublin als auch in Belfast, Kontakte zu Journalisten, Dichtern und IRA–Sympathisanten geknüpft, auf die ich jetzt zurückgreifen konnte. Und ich hatte auch eine ganze Liste von Ideen in meinem Rucksack, worüber ich, wenn ich wieder daheim war, für die Zeitungen schreiben wollte.
Vorerst aber notierte ich meine Erlebnisse nur im Tagebuch. Hier schildere ich meine Ankunft und meinen ersten Abend in Dublin, der mit einer Flut an Eindrücken auf mich wartete.
«Ich brannte auf das Wegfliegen aus der Schweiz und fühle mich gleich willkommen in Irland. Während ich Zürich kalt und nass hinter mir liess, empfängt mich Dublin in den Tagen vor Ostern freundlich und mild. Am Flughafen nimmt alles seinen gewohnten Lauf – das Warten auf das Gepäck, das Geldwechseln, das Beobachten all dieser Menschen und manchmal, überraschend, ein Austausch von Blicken. Aber noch wirkt die Atmosphäre auf mich zu international, noch spüre ich Irland nicht. Vorbei an einer lauten deutschen Reisegruppe und einer holländischen Familie strebe ich dem Ausgang entgegen. Ein behäbiger Ire geht draussen auf seinen Wagen zu, ich frage ihn, ob ich bis in die Stadt hinein mitfahren dürfe. Er enttäuscht mich nicht, und schon bald, auf der Fahrt durch die Aussenquartiere spreche ich ihn auf Nordirland an, das Thema liegt mir zuvorderst, kaum bin ich da. Doch das Rattern seines Lieferwagens verunmöglicht ein Gespräch, worüber der Ire aber nicht unglücklich ist, denn ich merke ihm an, der Konflikt im Norden beschäftigt ihn nicht so besonders. Ich werde das hier im Süden noch etliche Male erleben.
Dann sind wir im Zentrum, wo mich der Mann exakt dort hinauslässt, wo ich hinmöchte: an der Grafton Street. Wie schnell ich doch diesen einen guten Iren vergessen werde – ich würde ihn gerne näher beschreiben, aber bereits bin ich mitten in der geschäftigen City: Keine baufälligen Häuserfronten mehr wie in der Vorstadt, wo immer noch ‹No EEC› an den Mauern prangt, stattdessen überall Werbeplakate und Leuchtreklamen. Sie strahlen wie ein Triumph für den irischen Beitritt zur EWG und symbolisieren den verlockenden Fortschritt.»
Weil die grüne Insel in jener Zeit als das Armenhaus von Europa galt, warben die bürgerlichen, staatstragenden Kräfte des Landes für einen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – die Vorläuferin der EU. Die linken Parteien ebenso wie die Sinn Fein, die Partei der Republikaner, widersetzten sich einer Mitgliedschaft in der EWG. Mit dem Slogan «Keep Ireland free» kämpften sie für ein Nein in der Abstimmung. Doch die Iren erlagen dem Blendwerk der EWG. Sie stimmten dem Beitritt zu.
Als ich in Irland ankam, war das Armenhaus seit Jahresbeginn bereits Mitglied, und die verblassenden Nein-Parolen in den ärmeren Aussenquartiere wirkten auf mich wie ein Hohn. Denn soviel hatte ich schon begriffen, dass die Iren für das verheissene Eldorado einen unberechenbar hohen Preis zahlten. Sie tauschten die frühere Unterdrückung durch Grossbritannien gegen eine neue Abhängigkeit ein, die der Insel zwar einen nie erwarteten Aufschwung brachte, sie bis heute aber mit tausend Fäden an die EU kettet.
Diese neue Bereitschaft der Iren zur Unterwerfung lag bereits in der Luft, als ich damals, vor 50 Jahren, in Dublin eintraf. Ich spürte den Druck der Moderne vom ersten Moment an, und wenn der Fortschritt von aussen kommt, geht damit immer auch ein Stück Selbstbestimmung verloren. Dieses Selbstbestimmte jedoch, dieses Eigenwillige war es, das ich in Irland suchte – und auch in Dublin noch immer zu finden hoffte. Ein Pub zu betreten, war in diesem Moment das Heilsamste, was ich tun konnte.
Das historische «Grogan’s» hatte ich noch in bester Erinnerung, als ich es im vorigen Sommer mit Elias besuchte. Ein guter Teil von Dublins Szene traf und trifft sich noch heute im «Grogan’s», und anstelle der unausweichlichen Fernsehbildschirme, wie sie auch in den meisten irischen Pubs zur Inneneinrichtung gehören, wird im «Grogan’s» Kunst ausgestellt. Das war damals schon so. Ein Hauch von Kultur, in Rauch und Guinness getränkt, durchwehte das Pub, als ich eintrat.
«Unter den zahlreichen Gästen, die das Lokal schon bevölkern, entdecke ich sogleich ein bekanntes Gesicht. Es ist Paul, den ich letztes Jahr kennenlernte. Er arbeitet für das Auslandressort der ‹Irish Times› und engagiert sich politisch für die sozialistische Zeitung ‹The Worker›. Gross und dünn, mit strähnigen blonden Haaren, die er ständig zurückdrängen muss, trinkt er sein Bier, freut sich, als er mich kommen sieht und stellt mir die Frau vor, die neben ihm sitzt. Journalistin wie er, ist sie mir sofort sympathisch, weil sie ein Mensch ist, der ernsthaft zuhört.
Paul, mit dem ich korrespondierte, kennt das Ziel meiner Reise. Ich will in den Norden, nach Belfast und Derry, um darüber zu schreiben. Diesmal wolle ich länger bleiben, erkläre ich ihm, und er gibt mir Adressen von Leuten, die für mich nützlich sein können. Ein Thema geht ins andere über, während Paul bereits mein zweites Guinness bestellt. Nur ein halbes Mass bitte, sage ich schnell, ein ganzes Pint besser nicht, weil es nicht das letzte sein wird. Ich weiss noch vom letzten Jahr, wie viele Pints vor uns hingestellt wurden.
Ich bekomme mein Bier, das noch immer zu bitter schmeckt, und wir reden über die Neue Linke und über ihre Erfolgsaussichten. Sogar in Irland, wo die Armut so gross ist – sogar hier fällt es offenbar schwer, die Arbeiterschaft zu gewinnen. Aber das hat auch damit zu tun, glaube ich, dass engagierte junge Iren wie Paul, anstatt zu handeln, über Politik gerne reden. Diskutieren im Pub, das können sie stundenlang, und wie zum Beweis entbrennt jetzt ein politischer Streit zwischen Paul und der Journalistin – sodass ich die Gelegenheit nutze und telefonieren gehe.
In der Hoffnung auf einen Schlafplatz versuche ich Pearse zu erreichen, doch er gibt keine Antwort. Pearse Hutchinson ist der Dichter, der Elias und mich letztes Jahr in seinem Junggesellenhaushalt beherbergt hat. Während er noch im Pub sass, haben wir ihm zu Hause eine richtige Mahlzeit gekocht. Dafür war er sehr dankbar. Vielleicht lässt er mich wieder bei sich übernachten.»
Ich erinnere mich an einen Herrn mittleren Alters mit Bart und dicken Brillengläsern, durch die er sein Gegenüber freundlich betrachtete. Auch ihn lernten wir kennen im «Grogan’s», und er schenkte uns für unser literarisches Heft sein neues Gedichtbuch, was für uns eine Ehre war, denn Pearse Hutchinson galt als ziemlich bekannter irischer Lyriker.
Doch was bewog ihn dazu, uns bei sich logieren zu lassen, in seiner Klause, die kaum für ihn genug Platz bot? Im weltweiten Netz finde ich eine Antwort. Die Gedichte des inzwischen verstorbenen Hutchinson bringen schön und unmissverständlich zum Ausdruck, dass der Poet – mehr als die Frauen – die Knaben liebte. Es war ihm sicherlich ein Vergnügen, Elias und mich bei sich aufzunehmen.
«Pearse befinde sich gerade im Ausland, meint Hayden, ein junger Autor, der den Dichter kennt. Mit seiner Frau, die sich mir als Elvira vorstellt, sitzt er am nächsten Tisch, neben sich einen zerknautschten Seemannssack, aus dem er ein Exemplar seines literarischen Blattes zieht, um es mir sogleich anzubieten. Obwohl ich an Politik inzwischen mehr als an Poesie interessiert bin, kaufe ich es ihm ab. Ich verabschiede mich von Paul, den ich bei meiner Rückkehr nach Dublin bestimmt wieder treffen werde, und setze mich – auf ein neues Guinness – zu den Murphys.
Hayden ist 28 und vom Typ her der stille beobachtende Literat. Sobald ich die Politik anspreche, zieht er sich auf philosophische Ausschweifungen zurück. Ich habe kaum zu erzählen begonnen, was mich so unwiderstehlich nach Irland zieht, als sich unerwartet Luke Kelly, den ich schon hereinkommen sah, an unseren Tisch setzt. Er tut es ganz selbstverständlich, weil hier jeder jeden kennt und in jeder Runde willkommen ist.»
Diesen Luke Kelly kannte auch ich. Ich sah ihn zum ersten Mal mit Elias zusammen im vorigen Jahr, in Dublins grösster Konzerthalle. Kelly stand auf der Bühne. Er war ein Mitglied der «Dubliners» – der berühmtesten Folkband von Irland. Sie war schon damals ein Nationalheiligtum. Alle, aber wirklich alle Menschen in Irland kannten die «Dubliners», und alle sangen die Lieder mit an jenem Abend in der Halle von Dublin.
Luke war ein Sänger und der Banjospieler der Formation. Seine rote Lockenpracht und der ebenso rote Bart machten ihn unverwechselbar. Und nun sass dieser Luke Kelly, einer der damals berühmtesten Menschen von Irland, neben mir im Dubliner Pub. Heute würde ich ihm als erstes sagen, wie wunderbar ich seine Musik finde. Aber mich derart vor ihm zu verneigen, wäre mir damals nicht eingefallen. Dazu trug auch der Musiker selbst bei. Er war nicht ins Pub gekommen als einer der «Dubliners». Er kam ins «Grogan’s» als einer, der trinken wollte. Und als er sich mit seinem Pint zu uns setzte, wurde auch mir sofort klar: Er hatte bereits getrunken, und nicht zu knapp.
«Der Musiker entschuldigt seinen betrunkenen Zustand damit, dass er gerade aus London zurückgekehrt sei und den Whisky im Flugzeug nicht habe lassen können. Mit wilden roten Haaren und Leidenschaft philosophiert er sogleich über Existenzialismus und das Recht auf Selbstmord. Hayden, der philosophierende Dichter, gibt zu bedenken, dass bei Selbstmord stets eine Schuld zurückbleibe, doch Luke entgegnet ihm sehr entschieden, dass jedermann allein für sich selbst verantwortlich sei und sein Tun nicht rechtfertigen müsse.»
Wenn es stimmt, dass ein Betrunkener keine Hemmungen hat, sein Inneres nach aussen zu kehren, dann zeigte uns an jenem Abend auch Kelly, mit welchen Gedanken er innerlich rang. In einer Zeit, in der Suizid vor allem in katholischen Ländern noch immer als Sünde galt, verteidigte er sein persönliches Recht, sich das Leben nehmen zu dürfen.
Auch hier wieder hilft mir das weltweite Netz, hinter die Worte blicken zu können, die der Musiker aussprach. Der 33jährige Kelly, der auf der Bühne jeweils zu Hochform auflief, galt privat als verletzlicher, introvertierter Mensch, weshalb ihn die anderen Musiker, nicht von ungefähr, als die «Seele der Band» empfanden.
Als ich ihm 1973 so unvermittelt begegnete, lebte er schon seit einiger Zeit von Deirdre, seiner Gattin, getrennt, und seine Freunde, so lese ich heute, zeigten sich damals besorgt über seinen ungebremsten Zuspruch zum Alkohol. Das Bier und der Whisky halfen ihm, die bösen Gedanken hinunterzuspülen – auch wenn sie danach umso heftiger wieder zurückkehrten.
Aber ich konnte den Trübsinn des neben mir sitzenden Musikers damals nicht nachempfinden. Eher überlegte ich mir, welche theoretische Haltung ich selber zum Selbstmord einnahm. Meine Haltung war klar: Das würde ich niemals tun. Ich war noch so jung. Noch fehlte mir die Erfahrung von Niederlagen im Leben. Man hat erst dann im Grunde das Recht, in dieser Angelegenheit mitzureden.
«Etwas später sagt er noch: Als Musiker wolle er entweder gehasst oder geliebt werden, dann wisse er wenigstens, dass ihm die Leute zugehört hätten.» Es war mein erster Abend in Dublin – und schon erlebte ich, wie tief die Iren in die Abgründe ihrer Seelen blicken. Der gefeierte Musiker offenbarte uns, unter Zuhilfenahme eines weiteren Guinness, dass er in Wirklichkeit daran zweifelte, ob ihm die Leute eigentlich zuhörten. Und er meinte damit: Ob sie eigentlich wissen wollten, wie es ihm ging?
Sieben Jahre später brach Luke Kelly während eines Konzerts in Cork auf der Bühne zusammen. Der Alkohol und der Seelenschmerz begannen ihn zu zerstören, und bald darauf verschied der begnadete Musiker. Im Tod fand er die Freiheit, die er an jenem Abend im «Grogan’s» so leidenschaftlich verteidigt hatte. Noch heute erinnert mitten in Dublin ein Denkmal an ihn.
Dann erhob sich der Musiker, so schildere ich seinen Abgang im Tagebuch, und drängte sich, das eben Gesagte vermutlich vergessend, durch die Menge zur Bar, wo ihn andere Gäste begrüssten.
«Wir bleiben noch eine Weile sitzen», fahre ich im Tagebuch fort, «und trinken ein letztes Bier, Elvira nippt ihren Weisswein – auf den Jahrgang kommt es in Irland nicht an –, während Hayden seine letzte Zigarette ausdrückt, eine Gauloise, wie alle sie rauchen in dieser Szene.
Da ich Pearse Hutchinson nicht erreichte, kann ich im kleinen, einfachen, aber gemütlichen Haus der Murphys übernachten. Unterwegs im Auto diskutieren wir das Wohnungsproblem in der Stadt, im Haus angekommen dann das Verpflegungsproblem. Wir stehen zu dritt vor dem offenen Kühlschrank und einigen uns auf Rührei mit Pilzen.
Hayden hat Hunger und ist betrunken, während Elvira kocht und mir verrät, dass sie es ist, die für den Lebensunterhalt aufkommt. Sie arbeitet ganztags als Sekretärin, kommt aus bürgerlichem Hause und steht heute irgendwo zwischen den Dubliner Bohemiens und dem Establishment. Vielleicht, denke ich, sind genau dies die Eigenschaften, die Hayden, der Schöngeist, so sehr an ihr schätzt: Die Sicherheit und Stabilität, für die er selber nicht aufkommt.
Nach dem Essen geht Hayden schlafen, Elvira bleibt noch ein wenig, alles wird ruhig. Nur der Kühlschrank brummt und die Katze schnurrt, und ich sage zur Irin am Küchentisch: Ich fühle mich nicht als Fremder bei euch.»
So endete dieser erste Abend meiner zweiten Reise nach Irland. Er endete mit dem guten Gefühl, angekommen zu sein – angekommen in Irland, aber auch angekommen in anderer Hinsicht. Ich schrieb im Tagebuch nicht von «ihnen» und «mir», obwohl sie alle älter waren als ich. Ich redete und ich schrieb von «uns». Ich empfand mich als einer von ihnen. Wie nie zuvor fühlte ich mich erwachsen.
Nächste Folge am 1. Oktober
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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