Am 15. Oktober 1976 notierte ich: «Ende des Schulungskurses. Jetzt bin ich wieder politisch organisiert.»
Es war ein grosser Moment für mich. Die «Kommunistische Gruppe Arbeiterpolitik» nahm mich zusammen mit Eugen und anderen Absolventen des Schulungskurses als Mitglied auf. Damit öffnete sich eine Tür für mich, die mir bisher verschlossen gewesen war. Von nun an durfte ich alle zwei Wochen an den Parteiversammlungen teilnehmen. Sie fanden im Hinterzimmer eines Lokals statt, dessen Betreiber nicht wusste, dass es sich bei den fröhlichen jungen Leuten um Kommunisten handelte. Aber das interessierte ihn weiter nicht, denn das Lokal galt ohnehin als Treffpunkt der Linken.
Dass sich die kommunistische Gruppe, der ich nun angehörte, nicht öffentlich zu erkennen gab, machte alles noch spannender. Ich nahm an einer Verschwörung teil, so kam es mir vor, von der im Prinzip nicht einmal meine Eltern erfahren durften. Mitglieder waren wir bloss zwei Dutzend, aber der strenge Aufnahmemodus gewährleistete, dass nur beitreten konnte, wer den ernsthaften Willen bekundete, Kommunist zu werden. Die KGAP verstand sich nicht als Massenpartei, sondern als Kaderschmiede. Wir waren sozusagen die Besten, denn nur die Besten konnten sich an die Spitze des Volkes stellen, um dereinst den Kapitalismus zu stürzen und der Arbeiterklasse zur Macht zu verhelfen.
Selbstbewusstsein verlieh uns auch die hehre Gewissheit, Teil der kommunistischen Weltbewegung zu sein. Weltweit kämpften junge Revolutionäre wie wir für eine Zukunft im Sozialismus. Sie fühlten sich als Rebellen und Aufständische – doch vor allem waren sie Mitglieder. Mitglieder ihrer Partei. Sie marschierten im Gleichschritt für die Revolution. Sie marschierten für die Partei.
Ein Parteisoldat war nun auch ich. Auch ich ordnete mich dem Kollektiv unter. Auch ich stand bedingungslos hinter der kommunistischen Theorie und Praxis. Wir sangen zwar keine Stalinhymnen, aber grundsätzlich unterschied uns nichts von der Sekte des Predigerpaares, das ich in Albanien erlebte. Marianne und Werners ideologische Hingabe war mir unerträglich geworden, doch denselben Eifer, denselben missionarischen Geist entwickelte nun auch ich. Mit meinem Beitritt zur KGAP hatte ich mich einer grossen gemeinsamen Sache verpflichtet, die wenig Zweifel und keinen Widerspruch duldete. Mein Individualismus, mein Freiheitsdrang, mein Widerwille, mich einzuordnen und unterzuordnen - all das, was mich seit meiner Jugend geprägt und befeuert hatte, wo war es geblieben? Wo blieb ICH?
Die Erklärung für den Verkauf meiner Seele war noch immer dieselbe: Ich wollte glauben. Ich war noch so jung und sehnte mich nach dem irdischen Paradies. Die heilige Botschaft des Sozialismus versprach es mir. Ich opferte meine Persönlichkeit, meine Eigenart auf dem Altar der Revolution. Dafür war ich nicht mehr allein. In der KGAP fühlte ich mich emporgehoben und aufgenommen in eine Elite. Eine Elite von Gläubigen.
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Wie schon die einstige KPS war auch die «Kommunistische Gruppe Arbeiterpolitik» unterteilt in mehrere Zellen. Die Genossinnen und Genossen, die in Betrieben arbeiteten, organisierten sich in der «Produktionszelle», die sich wöchentlich traf. In der Prod-Zelle wurde besprochen, wie wir an unserem Arbeitsort eine Betriebszelle aufbauen konnten. Parallel dazu war die KGAP im «Arbeiterbasiskomitee» tätig. Wir unterstützten darin sympathisierende Werktätige bei ihrer Agitation im Betrieb, mit dem Ziel, Arbeiterkämpfe zu provozieren, Streiks anzuzetteln und ausserdem neue Interessenten für die Partei zu gewinnen. Der Verkauf unserer Zeitung «Arbeiterpolitik» schliesslich diente der Propaganda für die richtige politische Linie. Denn die richtige sozialistische Politik praktizierten nur wir. Die anderen linken Grüppchen befanden sich auf dem falschen Weg.
Alle diese Aktivitäten verlangten von jedem Parteimitglied volle Kampfbereitschaft und vollen Einsatz. Mehrere Abende unter der Woche gehörten den Zellensitzungen und dem «Arbeiterbasiskomitee» und jeder zweite Samstagnachmittag der Parteiversammlung. Weitere Stunden mussten aufgewendet werden für Treffen von Untergruppen, das Verfassen parteiinterner Berichte, das Schreiben und Verteilen von Flugblättern und der Strassenverkauf der Zeitung.
Kaum lag der Arbeitstag in der Tagesschau hinter mir, war ich für die Partei unterwegs. Damit nicht genug - auch die Freizeit wurde von oben verordnet. Ein Kommunist, der nur die Arbeit für die Revolution kennt, isoliert sich vom Volk. Deshalb muss er, wie jeder Werktätige, ein Privatleben vorweisen können und mit Sympathisanten auch den persönlichen Kontakt pflegen. Das bedeutete, dass ich sogar in der Wohngemeinschaft und mit Arbeitskollegen nie ganz vergessen durfte, in die Geselligkeit die politische Botschaft hineinzuschmuggeln.
Meine ganze Woche wurde zu einem Terminplan. Und gab es zwischendurch eine Lücke, griff ich eilig zum Telefonhörer, um mich zu treffen mit Gleichgesinnten, die auch gerade vor einem einsamen Abend standen. Mein Aktivismus musste mich jederzeit davor bewahren, mir einzugestehen, dass ich immer noch single war.
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Auf den ersten Blick ging es mir wunderbar. Die Herausforderung der politischen Arbeit begeisterte mich, ich stürzte mich in den Klassenkampf und gehörte schon bald zu den vorbildlichsten Genossen der KGAP. Mindestens einmal wöchentlich stand ich frühmorgens um 6 Uhr vor einem Fabriktor, um den herbeiströmenden Proletariern die neueste Kampfschrift des «Arbeiterbasiskomitees» in die Hand zu drücken. Es war dunkel und kalt, der Winter hatte begonnen, doch mein inneres Feuer liess mich die Kälte vergessen, und ich sah auch darüber hinweg, dass sich nur jeder zweite Arbeiter dazu bequemte, mein Flugblatt entgegenzunehmen. Ebenso viele wollten möglichst rasch an die Wärme kommen und beachteten mich schon gar nicht.
Aber ich war ein guter Parteiarbeiter. Mitmenschen anzusprechen und in ein Gespräch zu verwickeln, war eine Fähigkeit, die ich auch als Fernsehreporter täglich aufs neue beweisen musste. Hin und wieder gelang es mir, dass ein Arbeiter stehenblieb und konkret von mir wissen wollte, was das Arbeiterbasiskomitee propagierte und warum er dem Funktionär der Gewerkschaft nicht glauben sollte. Ganz selten schaffte ich es sogar, dass ein von mir Angesprochener Interesse für die nächste Versammlung bekundete. Natürlich kam er dann doch nicht, sodass wir die echten Proleten im Komitee weiterhin an einer Hand abzählen konnten. Doch bereits war auch ich soweit, mich davon nicht beirren zu lassen, dass die Arbeiterklasse nicht mitmachen wollte.
Klassenkampf in einem Land, wo es den Ausgebeuteten einigermassen gut ging, erforderte eben Geduld und Aufklärungsarbeit. Manipuliert von den falschen Versprechen ihrer Gewerkschaft, mussten die Arbeiter erst erkennen, wie es in Wirklichkeit um sie stand.
Wenn ich dann meine Flugblätter vor den Toren der Escher-Wyss, der Oerlikon-Bührle oder der Zahnräder Maag alle verteilt hatte und ein paar Stunden später einen bürgerlichen Politiker oder Wirtschaftsboss interviewte, gefiel mir dieser Szenenwechsel nicht schlecht. Vor den Mächtigen hatte ich keinen Respekt. Als Kommunist gehörte ich zur politischen Avantgarde von morgen. Wenn ihr wüsstet, dachte ich, wen ihr vor euch habt!
Doch mein kommunistisches Hochgefühl konnte mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass ich mehr und mehr spürte, wie der Stress an mir nagte. Erste körperliche Symptome setzten mir zu. Meine Kopfhaut juckte manchmal so schrecklich, dass ich die Wände hochging. Eine Kollegin der Tagesschau sah es mir an, dass ich aus der Haut fahren wollte, und eines Tages meinte sie in ihrem lieblichen Berndeutsch zu mir:
Muesch dr echly luege!
Wörtlich übersetzen lässt sich das nicht, aber sie wollte mir sagen: Du brauchst Erholung. Ihren besorgten Rat habe ich nie vergessen. Jedesmal in späteren Jahren, wenn ich mir zuviel zumutete, fiel mir der Satz wieder ein, und ich sagte ihn, einem Mantra gleich, zu mir selbst.
Mein körperliches Befinden schürte Fluchtgedanken in mir. Ich war gerade mal 22 und schon im Begriff, in ein Burnout zu steuern. Irgendetwas musste ich unternehmen. Da fiel mir Tommy ein. Er hatte die Tagesschau, ein paar Monate vorher verlassen, um mit seiner Partnerin auszuwandern. Ihr Ziel war Gomera, die kleine kanarische Insel, die den Ruf einer Aussteigerinsel besass und für viele zivilisationsmüde Westeuropäer zum Pilgerort wurde.
Auf einer Postkarte nach seiner Ankunft hatte mich Tommy, der mich gut mochte, eingeladen, ihn zu besuchen. Ich könne bleiben, solange ich wolle. Nun schrieb ich ihm, mitten im kalten Dezember, ob seine Einladung immer noch gelte, und Tommy antwortete mir erfreut: «Natürlich kannst du kommen! Ich bezweifle allerdings, dass ein bis zwei Wochen genügend Zeit sind, um den inneren Frieden zu finden, den du suchst. Ich behaupte sogar, eine so kurze Reise behält dich im genau gleichen Stadium der Nervosität und Ungeduld, die du mitbringst. Aber sei herzlich willkommen! – Vom Flughafen Santa Cruz de Teneriffa fährst du am besten per Taxi nach Los Cristianos, von wo aus die Fähre ablegt. In San Sebastian de Gomera fährt dann um 13 Uhr ein Autobus ab, der dich nach 4 Stunden Fahrt nach Valle Gran Rey führt. Du steigst beim Hostel Parada aus und fragst nach dem matrimonio suizo, das alle kennen. So kommst du zu uns. Es wird dir gefallen in Valle Gran Rey. In den Bars und am Strand findest du viele junge Leute aus aller Herren Länder. Seltsamerweise hat es unter ihnen auffallend viele Intellektuelle, Studenten, Ärzte und Psychologen. Alles weitere, wenn du bei uns bist!»
Nach dem Erhalt seines Briefes wuchs in mir die Vorfreude auf die Reise. Ich plante sie für den Februar. Die Vorfreude wuchs auch deshalb, weil der Stress nicht von mir abliess. Ich erlebte zum erstenmal, dass körperliche Beschwerden alle Prioritäten in den Hintergrund rücken. Der gute, leidenschaftliche Kommunist, als den ich mich sah, konnte sich tatsächlich vorstellen, die Revolution mehrere Wochen warten zu lassen und in eine Welt abzutauchen, die zu mir im Grunde nicht passte. Denn ein Aussteiger hatte ich nie sein wollen.
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Mein unermüdliches aktivistisches Pendeln zwischen Fernsehen und Engagement, das Hin- und Hergerissensein zwischen zwei unvereinbaren Welten liess den Gedanken in mir, die Tagesschau zu verlassen, immer drängender werden. Aber ich war immer noch unentschlossen.
«Ich habe plötzlich wieder genug von der Tagesschau», notierte ich am 6. Dezember. Am 10. Januar dann: «Ich bleibe vorläufig noch. Stress gibt es auch in anderen Ressorts. Aber ich weiss, dass ich einen Entscheid ebenso spontan wieder umstossen kann.»
Am 8. Februar wird meine Absicht konkreter: «Ich sehe jetzt eine Möglichkeit, von der Tagesschau wegzukommen und doch im Fernsehen zu bleiben. Ideal wäre für mich eine Stelle in der Zeitungsdokumentation - ein ruhiger, stressfreier Job mit normalen Arbeitszeiten. Berufliche Ambitionen habe ich schon seit längerem keine mehr.»
Wenige Tage später, am 14. Februar 1977, stand mein Entscheid bereits fest:
«Ich wechsle hinüber zur Dokumentation. Vor einem Jahr noch hätte ich diesen Wechsel als Abstieg betrachtet. Jetzt ist es ein Aufstieg – weil ich endgültig auf eine Fernsehkarriere verzichte und die Priorität bei der politischen Arbeit sehe. Zuerst glaubte ich noch, mich an zwei Orten zugleich engagieren zu können. Aber das geht nicht. Entweder oder. Die Arbeit bei der Dokumentation ist genau, was ich suche: Ich kann berufsmässig Zeitung lesen und mich neben dem Job ganz auf die Politik konzentrieren. Ausserdem bin ich noch immer beim Fernsehen. Die Betriebsarbeit, zusammen mit Eugen, muss ich nicht aufgeben.»
Mein Entschluss war auch eine Notbremse. Kaum hatte ich mich entschieden, spürte ich, wie der Druck von mir wich. Ich fühlte mich wie befreit. Nur eine Woche später wäre ich nach Gomera gereist. Das Flugticket hatte ich schon gebucht. Aber noch am gleichen 14. Februar schrieb ich Tommy:
«Ich komme doch nicht. Erstens könnte ich nur etwa zehn Tage bleiben und zweitens findet am nächsten Wochenende in Brokdorf bei Hamburg eine Grossdemonstration gegen das geplante Atomkraftwerk statt. Da möchte ich unbedingt hingehen. Nachher fahre ich noch ein paar Tage mit Freunden ins Tessin. Das finde ich vernünftiger als schnell auf die Kanarischen Inseln zu fliegen. Ausserdem hast du ja selber geschrieben, dass ein bis zwei Wochen Gomera nicht reichen, um in die Ruhe zu kommen. Ich hätte natürlich längere Ferien beziehen können. Doch mein Engagement hier in der Schweiz ist mir wichtiger.»
Je näher Gomera gerückt war, um so grösser waren meine Zweifel geworden, was ich dort im Grunde genommen zu suchen hatte. Tommy und seiner Frau beim Aussteigen zuzusehen, reizte mich überhaupt nicht. Ich befürchtete plötzlich, dass ich mich, so allein, schon nach wenigen Tagen tödlich gelangweilt hätte. Und dann platzte, mitten in meine Zweifel hinein, die Nachricht aus Deutschland. Die Meldung von der Grossdemonstration gegen ein geplantes Atomkraftwerk ins der Nähe von Hamburg. Da war für mich klar gewesen: Ich reise. Aber nicht nach Gomera - sondern nach Brokdorf.
Folge 88 am 30. März