«Ich will leben!» - Gedichte zum Weinen schön
Es gibt Menschenseelen, die in ihrem äusseren Leben niemals Frieden und Freiheit erleben durften: Dazu gehörte auch Selma Merbaum! 
Else Schächter und Selma Meerbaum. Geschichtliche Aufnahme
Else Schächter und Selma Meerbaum. Geschichtliche Aufnahme

Bei den Vorbereitungen zu einem Liederabend, bei dem Lieder nach Gedichten von Selma Merbaum vorgetragen werden sollten, ist mir dieser Name zum ersten Mal begegnet: Selma Merbaum, eine 1924 in Czernowitz/Bukowina (heute Teil der Ukraine) geborene deutschsprachige Jüdin. Ihre Schaffenszeit als Dichterin begann im Frühsommer 1939, als Selma knapp 16 Jahre alt war, und umfasste nur etwa zwei Jahre. Der letzte geschriebene Satz unter ihre 57 Gedichte umfassende Sammlung war: «Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben.»

Selma Merbaums Geschichte und Gedichte haben mich sofort so stark fasziniert, dass ich mich fast zwangsläufig mit der Biographie ihres Lebens beschäftigt habe. Besonders informativ und berührend war für mich das biographische Buch von Marion Tauschwitz, aus dem ich hier einiges wiedergebe:

Vom 18. Jh. bis zum ersten Weltkrieg gehörte die Bukowina zur multinationalen österreich-ungarischen Monarchie. Czernowitz blühte wirtschaftlich und kulturell auf in dieser Zeit – die Stadt wurde als «Klein Wien» bezeichnet. Es entwickelte sich ein kreativer multikultureller Mix von Juden, Deutschen, Rumänen, Ukrainern und Polen. Namhafte Dichter, Schriftsteller und Wissenschaftler z.B. Paul Celan (Selmas Grosscousin), Rose Ausländer, Wilhelm Reich u.a. lebten dort; die deutsche Sprache wurde als lingua franca (Verkehrssprache) genutzt.

Mit dem ersten Weltkrieg allerdings zerfiel die österreichisch-ungarische Monarchie in diverse nationale Staaten. Und die Bukowina wurde im Vertrag von St. Germain (1919) dem Staat Rumänien zugeteilt. Eine Volkszählung ergab damals einen Anteil von 28% «Nicht-Rumänen». Mit den Pariser Vorortverträgen sowie dem angeschlossenen Minderheitenschutzvertrag erhielten viele dieser «Nicht-Rumänen», darunter ein Grossteil der jüdischen Bevölkerung, die rumänische Staatsbürgerschaft.

Rumänien sträubte sich allerdings gegen die Unterzeichnung dieses Vertrages und wertete ihn als vom Westen aufgedrückt. Darum wurde nur wenige Jahre später, 1924, ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet, mit dem viele Juden die rumänischen Bürgerrechte wieder verloren. Die rumänischen Behörden begannen mit einer Reihe von Massnahmen zur ethnischen Assimilation, der so genannten Rumänisierung, die sich gegen die ungarische Minderheit, gegen Juden und auch gegen die ukrainische Minderheit in der Bukowina richtete.

In diese unruhige Zeiten hinein wurde Selma geboren. Der Vater, Max Merbaum, stirbt, als sie neun Monate alt ist. Ihre Mutter Friederika heiratet drei Jahre später Leo Eisinger. Zu dritt wohnen sie in ärmlichen Verhältnissen, beengt, ohne fliessendes Wasser, ohne Strom, aber immerhin: Selma hatte einen eigenen Schreibtisch.

Von 1934 bis 1940 besuchte sie ein jüdisches Mädchenlyzeum und zählte mit zu den besten Schülerinnen. Schon früh begann sie, sich mit der Lektüre von Rainer Maria Rilke, Heinrich Heine, Stefan Zweig, Rabindranath Tagore und anderen Dichtern zu beschäftigen. Ehemalige Klassenkameradinnen berichteten später, dass sie heimlich unter die Schulbank rutschte, um dort ungestört lesen zu können.

Noch vor ihrem 16. Geburtstag begann sie selbst zu dichten – wohl ausgelöst durch eine heimliche Liebe zu Leiser Fichmann, der, wie Selma, schon seit über einem Jahr der Gruppe Hashomer Hazair angehörte, einer Gruppe von sozialistisch denkenden Jungzionisten, die von einer jüdischen Staatsgründung in Palästina träumten. Mit dieser Gruppe, die man mit der Wandervogel-Bewegung vergleichen kann, wurde gewandert, gesungen, getanzt, fleissig Sport betrieben und ebenso fleissig diskutiert. Hier fühlte sich Selma frei und glücklich. Sie wollte das Leben leben!

Aber lange sollte dieses Glück nicht dauern: 1940 wurde Czernowitz im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes von Rumänien an die Sowjetunion abgetreten. Die einmarschierenden sowjetischen Truppen und Panzer wurden zunächst von grossen Teilen der Bevölkerung bejubelt und als sozialistische Befreiung erwartet. Aber diese Hoffnung hielt nur kurz an, denn auch Stalin war im Pakt mit Hitler den Juden nicht wohl gesonnen. Und nachdem sich Rumänien auf die Seite des Deutschen Reiches gestellt hatte, marschierten die rumänischen Truppen im Juli 1941 wieder in Czernowitz ein. Damit begann nicht nur der gemeinsame Feldzug gegen die Sowjetunion, sondern auch die Vernichtung der Juden.

Und in dieser Zeit schrieb Selma Merbaum ihre Gedichte.

Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt. Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glüh’n und tun ihre Freude kund.
Sieh nur die Strasse, wie sie steigt: so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt die Sehnsucht, die sich zieht durch dich und mich. 
Der Wind rauscht rufend durch den Wald: er sagt mir, dass das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt. Die ferne Pappel winkt und winkt.
Ich möchte leben. Ich möchte lachen und Lasten heben und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen und möchte frei sein und atmen und schrei’n.
Ich will nicht sterben. Nein! – Nein!
Das Leben ist rot – das Leben ist mein.
Mein und dein – Mein!

Am 11. Oktober 1941 wurde in der Stadt ein Zwangsghetto eingerichtet, in dem sich alle Juden der Stadt einzufinden hatten, so auch Selma, ihre Mutter und ihr Stiefvater Leo Eisinger. Im August 1942 wurden sie von dort in das Zwangsarbeitslager Michailowka deportiert, wo Selma im Dezember im Alter von 18 Jahren entkräftet an Fleckfieber starb.

Gedichte zum Weinen schön. Mach was draus.

Überlebt hat aber ihr dichterisches Werk, das mittlerweile zur Weltliteratur gezählt wird, auf wundersame Weise:Als am 28. Juni 1942 die Häscher kamen, um Selma und ihre Eltern zu deportieren, arbeitete das junge Mädchen an ihrem Gedichtband Blütenlese: «Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben», kann sie noch hastig unter die Vers-Sammlung setzen, die «Leiser Fichmann zum Andenken und Dank für viel unvergesslich Schönes in Liebe gewidmet» war.

Ein junger Mann klopft an die Wohnungstür der Familie Schächter. Else, eine Freundin von Selma, öffnet. In der Hand hat der Unbekannte ein Album: «Das soll ich Ihnen von Selma geben. Sie hat es mir zugesteckt, als man sie heute mit ihren Eltern abholte. Sie möchten das Album an Selmas Freund Leiser Fichman weiterleiten.» Als Leiser für ein paar Tage nach Czernowitz zurückkehrt, erhält er das ihm «in Liebe» zugedachte Album. Er nimmt es mit zur Zwangsarbeit und verwahrt es unter seinen Sachen im Lager. Bis 1944.

Kurz bevor die Rote Armee Czernowitz kampflos einnimmt, flieht er aus dem rumänischen Arbeitslager, sucht Selmas Freundin Else auf und lässt ihr das Album mit den Worten zurück: «Wer weiss, wie es unter den Russen wird. Ich will nicht noch einmal von Palästina abgeschnitten sein. Aber ich will auch nicht, dass die Gedichte Seimas verlorengehen, wenn ich es nicht schaffe.» Der 21jährige Lejser Fichman schaffte es nicht. Er gelangte nach Bukarest und bis an das Schwarze Meer. Am 5. August, dem 20. Geburtstag Selmas, wurde das mit jüdischen Flüchtlingen besetzte türkische Schiff «Mefkure» von dem sowjetischen U-Boot SC-215 versenkt.

Ich möchte schlafen, denn ich bin so müd,
und so müd und wund ist mein Glück.
Ich bin so allein – selbst mein liebstes Lied
ist fort und will nicht mehr zurück.

Schlaf' ich einmal, so träume ich auch,
und Träume sind so wunderschön.
Sie zaubern einen lächelnden Hauch
auch übers schwerste Geschehn.

Träume tragen Vergessen mit sich
und schillernden bunten Tand.
Wer weiss es – vielleicht auch bannen sie mich
für ewig in ihr Land.

Im Rucksack der Freundin Else überstehen Selmas Gedichte eine Odyssee: zu Fuss, mit dem Pferdewagen, auf den Dächern von Zügen, durch Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Österreich, Deutschland und Frankreich, bevor sie 1948 in Israel ankommen. Allerdings: geschrieben «in der Sprache der Mörder», stossen die Verse dort lange auf keine Gegenliebe.

Bis Selmas ehemaliger Klassenlehrer Hersch Segal in der DDR-Anthologie «Welch Wort in die Kälte gerufen», einen Auszug aus dem Poem liest. Segal macht Selmas Freundin ausfindig und druckt 400 Exemplare der Gedichte auf eigene Kosten. Eines davon schenkt die junge Germanistikprofessorin Bianca Rosenthal 1978 der Heidelberger Lyrikerin Hilde Domin, die sich, anfangs vergeblich, für die Verbreitung der Gedichte einsetzt. «Zu unbekannt», winken die Verlage ab. 1980 drückt Domin den Gedichtband dem Stern-Journalisten Jürgen Serke in die Hand: «Gedichte zum Weinen schön. Mach was draus.»

Serke bringt sie im selben Jahr bei Hoffmann & Campe heraus. Der Band erlebt zahlreiche Auflagen. Inzwischen haben sie ihren Weg in etliche Anthologien deutscher Dichtung gefunden und gehören heute zur Weltliteratur. Auch die Universität Tel Aviv reihte sie in die Veröffentlichungen des Diaspora Research Institute ein.

Hundert Jahre sind seit Selma Merbaums Geburt in eine kriegerischen Zeit vergangen. Und noch immer geht das Gemetzel und Morden von Menschen, die als minderwertig betrachtet werden, bis heute weiter. Und wieder betrifft es den Osten Europas.

Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben für glitzernde Kronen?

Wann werden endlich ALLE begreifen, dass jedes menschliche Wesen der einen, unserer Menschheitsfamilie angehört, und dass wir Alle das gleiche Recht auf Leben haben? Dass es auf das SEIN ankommt, und nicht auf das HABEN! Und dass es ganz besonders wichtig ist, das Bewusstsein genau dahingehend weiter zu entwickeln. Verankere den Friedensgedanken immer fester in deinem Herzen und lass ihn wachsen.

Frieden kann es nur ohne Waffen geben! Noch nie ist ein Frieden durch Krieg gewonnen worden! Frieden kann es nur durch Gespräche und Verhandlungen geben! Und immer wieder Gespräche und Verhandlungen! Mit Wahrheit und Güte! Dann kommt auch die Schönheit der lebendigen Erde wieder voll zur Geltung! Wahrheit, Schönheit, Güte: die grossen Charaktere menschlichen Strebens.


 


Hier noch mal Hinweis und Infos für die Demokratie-Konferenz vom 14. bis 16. März.www.charta-demokratiekonferenz.org

Eva Maria Gent

Eva Maria Gent

Eva Maria Gent (*1951) lebt in Kassel und ist Heilpraktikerin und Homöopathin. Sie ist Ko-Vorsitzende der «Gesellschaft in Balance e.V.», die die «Charta Demokratiekonferenz» entwickelt hat. eva-maria-gent.de

Ich wohne in einer Gemeinschaft mit 16 Erwachsenen und 4 Kindern. Wer mehr darüber erfahren möchte, kann sich noch den Film über uns in der ARD-Mediathek anschauen: https://1.ard.de/Anders_leben_S01_E03

 

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