Illusion von Demokratie, Freiheit und Wohlstand

Seit zwanzig Jahren, dem Ende der DDR, wird Sozialismus im Mainstream als totalitäre Politreligion dem Nationalsozialismus gleichgesetzt. Als dogmatisch und weltfremd wird bezeichnet, wer noch ernsthaft von sozialer Gerechtigkeit spricht.

Die besiegten sozialistischen Staaten werden eifrig als Despotien, ihre damaligen führenden Funktionäre als luxussüchtige Herrscher hingestellt. Die sfdrs-Tagesschau schafft es, das grosse Schiff, dass sich die sozialistische Föderation Jugoslawien für diplomatische Empfänge und Konferenzen leistete, als Privatbesitz des „Diktators“ Tito darzustellen. Wird heute die jüngere Geschichte Chinas in den grossen Medien erzählt, fehlt jedes Verständnis für sozialistische Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, über alles wird die bürgerlich-kapitalistische Schablone gelegt. Es werden Schuldzuweisungen gemacht, Tatsachen verschoben oder ausgeblendet – Propaganda eben. Eine neue sozialistische Aufklärung tut not.

Kritische Solidarität und Austausch
Der Kalte Krieg in seiner neoliberalen Form geht verschärft weiter: Entlassungen, Flexibilität, Sozialabbau und Umverteilung, Ausschluss von materiell armen Ausländern und Steuerprivilegien für Reiche sind die Siegesfeiern. Angesichts dieser Situation denkt vielleicht manche und mancher an die „kritische Solidarität“, die von der kommunistischen Partei der Arbeit in der Schweiz gegenüber den sozialistischen Staaten als Haltung gepflegt wurde, und die bereits damals von der übrigen Linken als verkappte Moskauhörigkeit diffamiert wurde. Vermutlich wären die kritische Solidarität und der Erfahrungsaustausch zwischen West und Ost (und Süd) geeignet gewesen, etwas soziale Gerechtigkeit zu erhalten.

Alternativen und modische Posen
Bürgerliche Demokratie und Marktwirtschaft, die unter dem Druck der sozialistischen Atommacht UdSSR standen, gaben sich sozial und gesellschaftlich liberal – auch so liess sich noch zünftig Geld machen.
In der zweiten Hälfte der 70-er Jahre entstanden Bürgerinitiativen und Bewegungen: Anti-AKW-, Zurück-zur-Natur-, Friedens-, Frauenbewegung, Kooperativen, Basisdemokratie und Solidarität mit Befreiungsbewegungen der Dritten Welt. Die Solidarität, die oft noch in den jetzt meist kriselnden Familien und den aufgelösten Grossfamilien gelebt worden war, wurde jetzt in alternativen Kreisen praktiziert - auch wenn es immer Mitläufer gab, für die das progressive, alternative Wesen nur modische Pose war.

Sozial-ökologisches Europa
Viele heute über 50-Jährige brachten Schwung in diese Bewegungen, fühlten sich getragen und stark genug, die Avantgarde eines neuen sozialen, ökologischen und global fairen Europas zu sein. Mainstreammedien bekamen etwas Schlagseite gegen links. Sozialkritische Kultur und Geschichtsschreibung (Rütli, nazifreundliche Industrie usw.) hatten hohes Prestige und wurden von der öffentlichen Hand gefördert.

Neoliberal-konservative Revolution
Die Gesetzgebung wurde in der Schweiz bis zum Beginn der 90-er Jahre ökologischer und sozialer, die Verfassung ebenfalls. Die Heilige Kuh Armee wurde vom Sockel gestossen und geschrumpft, die staatliche Gesinnungsschnüffelei entlarvt, homosexuelle Paare bekamen eine registrierte Partnerschaft zugesprochen. Für die von der öffentlichen Meinung lange als selbstverständlich betrachtete Entkriminalisierung von Cannabis reichte es aber dann nicht mehr. Das Anfang der 80-er von Ronald Reagan, Margret Thatcher, deren Nachahmern und Pressure Groups angestossene neokonservativ-neoliberale Rollback hatte zu greifen begonnen.

Entpolitisierte Professionalität und Wettbewerb
Links-grün war bis weit in die 80-er Jahre hinein tonangebend und schick gewesen, dann schwörten immer mehr der sozialen, antibürgerlichen Haltung ab, sprachen dafür dem modischen Konsum und dem früher als entfremdet betrachteten Arbeiten zu, setzten und hofften auf Konsum und Karriere. Die Kultur wurde weitgehend von emanzipativen Inhalten gesäubert, soziales Engagement in der Arbeitswelt durch entpolitisierte Professionalität und Wettbewerb ersetzt.

Vereinzelung statt Gemeinschaft
Gemeinschaftssinn musste der Vereinzelung weichen. Hatte man früher noch dem Arbeitskollegen und dem Wohnungspartner zugehört oder sogar einen gut gemeinten Rat gegeben, wenn er von seinen Problemen sprach, reagierten ab Ende der 80-er viele kühl und abweisend, man habe selber genug Probleme und sowieso keine Zeit. Konsum als Ablenkung nahm zu.

Konsum und Ausgrenzung statt Integration
Schwächere sollten Schutz und Förderung bekommen und nicht unter der Diskriminierung der Konkurrenz leiden müssen. Unangepasste werden heute zunehmend nicht integriert, sondern mariginalisiert. Verantwortung ist in der neoliberalisierten Welt nicht mehr soziale Verantwortung für Kranke, Schwache und Andersartige, sondern das finanzielle Risiko einer Ich-AG oder die weitgehende Selbstaufgabe für einen kommerziellen Arbeitgeber.

Dass auch im sozialistischen Osten die Gemeinschaft einen hohen Stellenwert gehabt hatte, sieht man in literarischen Werken aus der DDR: Ulrich Plenzdorfs Edgar Wibeau etwa wird in „Die neuen Leiden des jungen W.“ (1973) von seinen besorgten Arbeitskollegen in der Einsamkeit seiner Schrebergartenhütte auf den Bauplatz und ins Kollektiv zurückgeholt.

„Demokratie“ und „Diktatur“
Im Osten ergab sich in den 80-er Jahren eine ähnliche Wende wie im Westen, hervorgerufen unter anderem durch die westliche TV-Propaganda und Konsumverlockung. Nicht wenig Linke im Westen tendierten angesichts der druckvollen bürgerlichen, antikommunistischen Propaganda zu einer undifferenzierten Verurteilung der „sozialistischen Regimes“.
Deren erfolgreiche Abnabelung von der bigotten christlichen Sexualmoral und deren soziale Errungenschaften blendet man bis heute aus, die demokratische Partizipation durch die einflussreichen Gewerkschaften, Arbeiter- und Bürgerkomitees, Schieds- und Konfliktkommissionen ignoriert man. Die Macht des Kapitals, die Manipulation durch Medien und Interessenpolitik, die Prostitution der Arbeitnehmer im Kapitalismus ebenso.

Unternehmerprivilegien und Konsumanästhesie
Die bürgerlich-kapitalistische Definition der Begriffe „Demokratie“ und „Menschenrechte“ (Mythen „freie“ Wahlen, Wirtschaftsfreiheit, individuelle Freiheit, sozialer Aufstieg dank Tüchtigkeit, Konsumparadies) wurde im Westen nie ernsthaft erschüttert und seine Verwurzelung mit Lotto und TV-Geldspielen, Hollywood-Filmen und anderem kräftig gefördert.

„Diktatur des Proletariats“
Man spricht noch heute von „Diktaturen“ im Osten (und in Kuba und Venezuela), verschweigend, was mit der „Diktatur des Proletariats“ gemeint war und ist: Entmachtung der Spekulanten, Vergesellschaftung von Privateigentum, Produktionsmitteln, Kultur, Bildung und medizinischer Versorgung (zum Wohle aller) sowie Verbot der Propaganda für „freien“ Wettbewerb und Unternehmerprivilegien unter dem Deckmantel von Demokratie und Menschenrechten.

Verantwortung übernehmen
Volker Braun beschreibt 1988 in seiner Erzählung „Unvollendete Geschichte“ die Situation kurz vor der Wende. Die sozialistischen Funktionäre der DDR sind hier gut meinende Väter, die ihre Kinder behüten, bevormunden, vor ökologischen Schäden bewahren und ins sozialistische Paradies führen wollen. Mit dem Ergebnis, dass sich diese nicht richtig entwickeln und einbringen können, nicht selber soziale Verantwortung übernehmen und den Sozialismus weiterentwickeln und gerechter machen können.

Citoyens, Citoyennes!
Auch an diesem Problem scheitert die Entwicklung zur sozialen Gerechtigkeit. Weder der Aufklärung noch der Französischen Revolution noch dem Sozialliberalismus und dem Sozialismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es gelungen, den Individuen die Macht und die Möglichkeit zu geben, um Bewusstsein zu entwickeln, um echte Citoyens und Citoyennes zu werden und ihre Geschicke solidarisch und jenseits von Repression, Bevormundung und Verführung in die Hand zu nehmen.

db.

Das Thema im Konzentrat: 1 und 2

Das Thema im TV-Spielfilm: 3
01. Februar 2009
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