Im falschen Film
Ausserhalb der Wirklichkeit lebt es sich gefährlich. Illusionen können hart enden, und sie tun es fast immer. Also doch lieber die Wirklichkeit akzeptieren? Es könnte sehr befreiend sein.
Die Menschheit lebt in rund sieben Milliarden Wirklichkeiten. Jeder Bewohner dieser Erde hat sein eigenes Zeitempfinden, seine eigene Erfahrungswelt, sein eigenes Universum. Und es ändert sich dauernd: Beim Warten schleicht die Zeit dahin, im Glück fliegt sie davon. Kindern dauert alles zu lange, Alten zu kurz. Wenn wir Angst haben, ist alles bedrohlich, wenn wir lieben, ist die ganze Welt eine einzige Einladung.
Wer nach der Wirklichkeit fragt, erhält deshalb auch keine konsistenten Antworten, selbst nicht von Physikern. Hängt ganz vom Beobachter ab, sagen sie seit Einstein, und die Experimente der Quantenphysik bestätigen die Einsicht, dass selbst die Materie eine sehr subjektive Komponente hat und sich zudem vom Geist beeinflussen lässt, wie verschiedene Experimente* gezeigt haben.
Dass es die Wirklichkeit als solche nicht gibt, wissen die Philosophen schon lange. Für Platon lag sie in den Ideen, für Hegel im Geistigen. Und der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, den die Quantenphysik zum Philosophen gemacht hat, sagte: «Die Wirklichkeit ist nichts als eine bequeme Fiktion.»
Diese Fiktion hat freilich existenzielle Auswirkungen. Wenn wir in einer Welt der Fülle leben, werden wir zu Schenkenden, in einer Welt des Mangels zu Gierigen. In einer Welt des Krieges werden wir zu Soldaten, in einer Welt des Friedens vielleicht zu Engeln. Beide Seiten dieser Wirklichkeit sind irgendwie wahr: Es wird Krieg geführt, wie schon lange nicht mehr; und es wird auch sehr kräftig für den Frieden gearbeitet, wenn auch fast immer unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung. Welche Seite die Oberhand gewinnt, bestimmen wir als Kollektiv weitgehend selbst, indem wir uns für eine bestimmte Realität entscheiden. Leider geschieht dies meist unbewusst.
Die Wirklichkeit ist also eher ein subjektiver, flüssiger Schleier. Und trotzdem sind wir angehalten, als Individuum und als Kollektiv in der Realität zu leben und nach Fakten zu entscheiden. Doch nach welcher Wirklichkeit und wie ist sie beschaffen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns zuerst damit befassen, wie aus den sieben Milliarden Wirklichkeiten von uns Erdenmenschen so etwas wie eine gemeinsame Realität entsteht. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: indem wir sie gegenseitig übernehmen, durch Übereinstimmung. Realität ist, was wir übereinstimmend als Realität betrachten, und das verändert sich dauernd. Im Altertum kreiste die Sonne um die Welt, seit der kopernikanischen Wende ist es umgekehrt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war das Atom die kleinste Einheit, dann das Elektron und heute die Quarks und Leptonen, von denen man nicht einmal weiss, ob sie eine Ausdehnung grösser als Null haben. Früher bestimmten die Körpersäfte das Leben, dann die Desoxyribonukleinsäure (DNS). Heute weiss man, dass die Erbsubstanz kein definitives Programm ist, sondern bloss Potenziale vorgibt, die aktiviert werden oder nicht. Früher erschuf Gott die Welt, heute der Zufall, morgen wird es der Mensch sein, wie wir gleich sehen werden.
Wie hoch die Zustimmung für eine bestimmte Variante der Wirklichkeit sein muss, damit sie allgemein akzeptiert wird, ist nicht erforscht. Aus der Geschichte der Wissenschaft, die gesichertes Wissen schaffen will und deshalb für die Entwicklung der Realität eine entscheidende Vorreiterrolle spielt, weiss man, dass ein Paradigmenwechsel oft erst eintritt, wenn die Vertreter der überholten Theorien wegsterben und Platz für ein neues Verständnis der Wirklichkeit schaffen. Ein paar wenige Menschen in guter Position können sich also problemlos gegen Fakten und Widersprüche durchsetzen. Was heute als akzeptierte Tatsache gilt, wird vielleicht schon in einer Generation auf der Schutthalde der Irrtümer verrotten. Neues Wissen entsteht nicht immer auf der Grundlage von altem.
Was als Wirklichkeit angenommen wird, nach der wir uns gefälligst zu richten haben, besteht also zu einem guten Teil aus Annahmen und Sichtweisen mit beschränkter Haltbarkeit. Obwohl oft nur temporär «richtig», verfügen solche Wirklichkeiten über die Macht des Faktischen, verändern die Realität in ihrem Sinne und machen sie noch «wahrer». Ein Beispiel dafür ist das Aggressionsgen. Obwohl nie nachgewiesen und durch die Neurobiologie mittlerweile falsifiziert, hat die Meinung, der Mensch sei von Natur zu aggressivem Verhalten veranlagt, die Wahrnehmung der sozialen Zusammenhänge und die Politik massgeblich beeinflusst
Die angeblich natürliche Kriegslust des Menschen führte 1651 zur Veröffentlichung von Thomas Hobbes’ staatspolitischem Grundlagenwerk Leviathan, in dem der englische Philosoph argumentiert, nur ein absoluter Souverän, eine starke, ungeteilte Regierung könne den «Krieg aller gegen alle» verhindern. Seither haben die Regierungen dieser Welt die Macht über ihre Bürger ständig erweitert, mit höchst zweifelhaftem Ergebnis. Der Beweis, dass grosse Macht friedvoller, moralischer und gerechter ist als kleine, ist noch nicht erbracht, weder praktisch noch theoretisch. Die Gegenbeispiele sind jedoch zahlreich. Und trotzdem rast die Erde in immer grösserem Machtrausch in eine unsichere Zukunft. Im globalen Wettbewerb will jedes Land das stärkste sein, jede Firma die profitabelste und jedes Individuum das einzigartigste.
Es lohnt sich, Hobbes’ Gedanken genauer zu betrachten. Der Gelehrte, vom Bürgerkrieg geprägt, ging von einer Gleichheit der menschlichen Fähigkeiten und Hoffnungen aus. «Und wenn daher zwei Menschen das gleiche verlangen, in dessen Genuss sie dennoch nicht beide kommen können, werden sie Feinde; und auf dem Weg zu ihrem Ziel bemühen sie sich, einander zu vernichten.»
Dieses Menschenbild ist also einer der wesentlichen Pfeiler der Staatstheorie. Wie konnte es dazu kommen? Eine Antwort finden wir 167 Jahre vor Leviathan. Mit den verheerenden Pestzügen des Spätmittelalters veränderten sich auch die Machtverhältnisse. Bauern «wanderten massenhaft in die von der Pest entleerten Städte», wo sie freie Bürger wurden. 1484 erliess Papst Innozenz VII. – der «Unschuldige» hatte selbst mindestens acht Kinder! – eine Bulle, die faktisch die Geburtenkontrolle bei Todesstrafe verbot. Später wurde die eheliche Fortpflanzung zum einzig tolerierten Sexualakt erklärt. Die Folge war eine massive Zunahme der Bevölkerung. Während im Mittelalter eine Frau zwei bis drei Kinder gebar, waren es zwischen 1490 und 1915 im Durchschnitt fünf bis sieben. Anstatt dass ungefähr gleich viele junge Männer ins Erwerbsleben eintraten wie es ältere Männer verliessen, gab es nun einen Überfluss an zweit-, dritt- und viertgeborenen Kerlen, die um einen Platz in der Gesellschaft kämpfen mussten. Das Resultat dieses Überhangs, so die Überzeugung des Bevölkerungs- und Genozidforschers Prof. Gunnar Heinsohn, ist Konflikt. Diese jungen Männer, auf den elterlichen Höfen nicht erbberechtigt und überzählig, bildeten das Menschenmaterial, das die ab 1500 massiv erhöhte Eroberungs- und Kriegstätigkeit der europäischen Staaten erst ermöglichte. Die Burschen durften einen Heldentod sterben, ein Verlust war das nicht. In den überseeischen Gebieten trafen die besser bewaffneten Eroberer auf Kulturen mit nachhaltiger Familienplanung ohne überzählige Söhne, die man im Krieg opfern konnte – und Europa machte sich in den folgenden Jahrhunderten die Welt untertan. Nur ganz wenige Länder wurden nie kolonisiert. Der weltweite Raubzug führte zu einer Ausbeutung und Militarisierung, die bis zum heutigen Tag andauert und das globale politische Klima prägt. Der Krieg hat gesiegt, er beherrscht unser Denken, die Wirtschaft und die Politik – u.a. weil ein Papst und die Oberschicht vor über 500 Jahren nicht hinnehmen konnten, dass Arbeitskraft nach der Pest rar und teuer wurde und Landbesitz im Wert sank. Die Vorstellung von ein paar Männern – ihre private Realität – formte die Wirklichkeit der ganzen Erde.
Noch phantastischer ist die kulturelle Prägekraft einer Einrichtung, die schon bei ihrer Einführung ganz ungeschminkt als Illusion bezeichnet wurde und es bis heute geblieben ist: das moderne Geld. «Die Bank erhält den Zinsgewinn von all den Geldern, die sie, die Bank, aus dem Nichts erzeugt», stand 1694 im ersten Prospekt der Bank of England, die als die Mutter aller Zentralbanken gilt. Geldschöpfung aus dem Nichts ist seither der Standard der privaten Banken, deren «Geld» rund 90 Prozent der Geldmenge ausmacht. Sie verleihen – was selbst viele Banker nicht wissen – nicht das Geld der Sparer, sondern schreiben ihren Kreditnehmern einfach den gewünschten Betrag ins Konto. Dabei entsteht ein gleichbleibendes Guthaben, das sich als Zahlungsmittel in der Volkswirtschaft verteilt und eine ständig steigende Forderung darstellt. Unser Geld besteht also aus Schulden, die nie bezahlt werden können. Das ist so absurd und illusionär, dass wir nicht einmal ein Wort dafür haben.
Obwohl unser Geldsystem keiner mathematischen Prüfung standhält, hat es sich in den 300 Jahren seines Bestehens porentief auf der Erde verbreitet, den Menschen in Besitz genommen und eine ganz neue Wirklichkeit geschaffen, die so hart ist, dass man in Kriegen und Hungergebieten ohne weiteres daran sterben kann.
Die Herrschenden mögen der illusionären Überzeugung mit Gesetzen, ein bisschen Gewalt und hie und da einem Krieg nachgeholfen haben. Aber vor allem sind es wir alle, die bereitwillig an die Illusion glauben. Man wiegt uns mit ein bisschen Geld aus dem Nichts in Sorglosigkeit und scheinbarer Fülle; bis die fette Rechnung folgt, haben wir sie längst vergessen. Man kann eben besser stehlen, wenn man etwas gibt.
Der Glaube an dieses Nichts hat buchstäblich Berge versetzt. Wir haben viel erreicht, auf der Soll-, wie auf der Haben-Seite der Bilanz. Aber wir haben auch einen Mangel geschaffen, der sich mit diesem Geld nicht mehr lösen lässt, sondern nur mit seinem Gegenstück, dem Verschwinden der Schuld ins Nichts – durch Vergebung. Nur noch ein grossmächtiger Schuldenerlass wird die kleine Geldmenge mit der grossen Schuldenlast wieder in Ausgleich bringen, die die grosse Mehrheit der Menschen und ihre Staaten unterjocht. Wenn wir die Schulden mit Geld bezahlen wollen – also mit noch mehr Schulden – werden wir an der von uns geschaffenen Realität, die einmal ganz virtuell begonnen hat, zugrunde gehen.
Aber noch besteht ein bisschen Freiheit. Wir werden zwar zum Gelderwerb gezwungen; aber das Denken ist noch nicht verboten und viele haben es sich noch nicht abgewöhnt. Vor allem darf man noch den Mund aufmachen, ohne sein Leben zu riskieren, wenngleich den guten Ruf, was in der virtuellen Welt dem Tod als kommunizierendes Individuum recht nahe kommt.
Noch besteht also die Chance, eine neue gemeinsame Wirklichkeit zu erschaffen. Sobald wir verstummen, ist sie dahin. Deshalb wollen wir dem schönen lateinischen Wort «sapere aude, incipe!» folgen und es wagen, weise zu sein; jetzt und nicht später.
Bevor wir uns an die Konstruktion einer neuen Realität machen, sollten wir einen Blick darauf werfen, was sich in der virtuellen Sphäre darauf vorbereitet, Wirklichkeit zu werden. Dabei können wir folgende Feststellungen machen:
1. Unsere Wahrnehmung wird immer mehr von kommerziell gesteuerten Algorithmen bestimmt und damit auch das, was wir als Wirklichkeit betrachten. Wir sehen nicht mehr die gemeinsam belebte Welt, sondern das, was es durch die verschiedenen Filter auf unsere Bildschirme schafft.
2. Der Bildschirm hat immer recht und damit stärkere Wirkung als die Realität! (Es sind schon etliche Patienten gestorben, weil Ärzte auf falsche Bildschirminformationen reagiert haben.)
3. Über das Internet der Dinge wird schon in wenigen Jahren alles mit allem verbunden sein und von Algorithmen unter der Kontrolle von wenigen Konzernen und staatlichen Einrichtungen gesteuert: Kühlschränke, Thermometer, Joggingschuhe, Herzschrittmacher, Autos, alles.
4. Der Mensch wird eine elektronische Identität erhalten, und sie wird, wie alles, was ein Computer ist, rechnen kann oder aus Daten besteht, gehackt werden können.
5. Es wird keine Sicherheit mehr geben, keinen Schutz vor Kontrolle und Kriminalität.
6. Alles wird gleichzeitig sichtbar und unsichtbar sein. Alle Daten werden erhoben, gespeichert und ausgewertet, aber niemand wird wissen, wer was weiss.
7. Roboter werden menschenähnlich werden und Menschen, bestückt mit sogenannten wearables, werden roboterähnlich werden.
Wenn Sie das alles nicht glauben möchten, lesen Sie das faszinierende Buch Future Crimes von Marc Goodman, Inside the Digital Underground and the Battle for Our Connected World. Der Mann hat für über siebzig Länder als Cyber-Kriminologe gearbeitet und beschreibt die Schatten der Technologie so scharf und beispielreich, dass Sie nach der Lektüre erst nach ein paar Tagen wieder ans Tageslicht kommen.
Natürlich kann kein Mensch mit Herz und Gefühl eine solche Zukunft wollen. Aber sie ist schon so weit fortgeschritten, dass sie sich gewissermassen selbst will. Das Programm läuft, ein Stop-Button ist nicht vorgesehen. «Smart Dust» zum Beispiel, mikroskopisch kleine Sensoren, die typischerweise in Schwärmen eingesetzt werden, sind schon heute ein riesiges Geschäft, obwohl Sie vermutlich den Begriff noch nie gehört haben. Goldman-Sachs hat eine Milliarde Dollar in dieses Geschäft investiert, die Bank of America 2,5 und Blackrock 11 Milliarden. Ich glaube nicht, dass sich diese Zukunft bekämpfen lässt. Das bisschen Datenschutz, den wir betreiben, die Security, die wir einrichten und die Kontrolle, die wir fordern, werden bei weitem nicht genügen für eine Rückbesinnung auf das menschliche Mass. Wir tun das schon lange, und die einzige Wirkung ist Beruhigung unseres Gewissens.
Eine neue Wirklichkeit zu schaffen, wird vielleicht noch anstrengender sein. Aber wir könnten es zumindest versuchen. Sie muss mit der einzigen Wirklichkeit beginnen, deren wir sicher sein können: dem Individuum. Das beobachtende, mit Bewusstsein ausgestattete Wesen, das ich bin, ist das Einzige, was mit Sicherheit existiert. Alles andere könnte Illusion sein, vom Mensch geschaffene Realität oder sonst ein Zauber.
Was lässt sich auf dieser Erkenntnis aufbauen?
1. Ich bin Bewusstsein.
2. Ich bin kein Körper (neuere Forschung zeigt, dass der Geist auch ohne funktionierendes Gehirn «arbeitet», siehe Interview mit dem Kardiologen und Nahtodforscher Pim van Lommel in ZP 146).
3. Menschheit ist Summe von Bewusstsein oder kollektives Bewusstsein.
Viel mehr allgemeine Gültigkeit lässt sich im Moment nicht herstellen. Aber sie reicht für eine ganz neue Welt, eine Welt aus Bewusstsein, Frieden und Liebe. Wir müssen nur bereit sein, neben den sieben Milliarden Wirklichkeiten auch die einzige zu akzeptieren, die es für uns alle gibt.
* In einem Experiment der University of California und dem California Institute of Technology konnten Probanden Bilder auf Bildschirmen durch die Kraft ihrer Gedanken verändern. is.gd/W2gtd2
Und an der renommierten Princeton University wurden während der Beerdigung von Lady Diana und am 11. September 2001 sogar eine erhöhte kollektive Bewusstseinsenergie gemessen. is.gd/AjpJKa
Mehr zum Thema «real | virtuell» in Zeitpunkt 149
Wer nach der Wirklichkeit fragt, erhält deshalb auch keine konsistenten Antworten, selbst nicht von Physikern. Hängt ganz vom Beobachter ab, sagen sie seit Einstein, und die Experimente der Quantenphysik bestätigen die Einsicht, dass selbst die Materie eine sehr subjektive Komponente hat und sich zudem vom Geist beeinflussen lässt, wie verschiedene Experimente* gezeigt haben.
Dass es die Wirklichkeit als solche nicht gibt, wissen die Philosophen schon lange. Für Platon lag sie in den Ideen, für Hegel im Geistigen. Und der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, den die Quantenphysik zum Philosophen gemacht hat, sagte: «Die Wirklichkeit ist nichts als eine bequeme Fiktion.»
Diese Fiktion hat freilich existenzielle Auswirkungen. Wenn wir in einer Welt der Fülle leben, werden wir zu Schenkenden, in einer Welt des Mangels zu Gierigen. In einer Welt des Krieges werden wir zu Soldaten, in einer Welt des Friedens vielleicht zu Engeln. Beide Seiten dieser Wirklichkeit sind irgendwie wahr: Es wird Krieg geführt, wie schon lange nicht mehr; und es wird auch sehr kräftig für den Frieden gearbeitet, wenn auch fast immer unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung. Welche Seite die Oberhand gewinnt, bestimmen wir als Kollektiv weitgehend selbst, indem wir uns für eine bestimmte Realität entscheiden. Leider geschieht dies meist unbewusst.
Die Wirklichkeit ist also eher ein subjektiver, flüssiger Schleier. Und trotzdem sind wir angehalten, als Individuum und als Kollektiv in der Realität zu leben und nach Fakten zu entscheiden. Doch nach welcher Wirklichkeit und wie ist sie beschaffen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns zuerst damit befassen, wie aus den sieben Milliarden Wirklichkeiten von uns Erdenmenschen so etwas wie eine gemeinsame Realität entsteht. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: indem wir sie gegenseitig übernehmen, durch Übereinstimmung. Realität ist, was wir übereinstimmend als Realität betrachten, und das verändert sich dauernd. Im Altertum kreiste die Sonne um die Welt, seit der kopernikanischen Wende ist es umgekehrt. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war das Atom die kleinste Einheit, dann das Elektron und heute die Quarks und Leptonen, von denen man nicht einmal weiss, ob sie eine Ausdehnung grösser als Null haben. Früher bestimmten die Körpersäfte das Leben, dann die Desoxyribonukleinsäure (DNS). Heute weiss man, dass die Erbsubstanz kein definitives Programm ist, sondern bloss Potenziale vorgibt, die aktiviert werden oder nicht. Früher erschuf Gott die Welt, heute der Zufall, morgen wird es der Mensch sein, wie wir gleich sehen werden.
Wie hoch die Zustimmung für eine bestimmte Variante der Wirklichkeit sein muss, damit sie allgemein akzeptiert wird, ist nicht erforscht. Aus der Geschichte der Wissenschaft, die gesichertes Wissen schaffen will und deshalb für die Entwicklung der Realität eine entscheidende Vorreiterrolle spielt, weiss man, dass ein Paradigmenwechsel oft erst eintritt, wenn die Vertreter der überholten Theorien wegsterben und Platz für ein neues Verständnis der Wirklichkeit schaffen. Ein paar wenige Menschen in guter Position können sich also problemlos gegen Fakten und Widersprüche durchsetzen. Was heute als akzeptierte Tatsache gilt, wird vielleicht schon in einer Generation auf der Schutthalde der Irrtümer verrotten. Neues Wissen entsteht nicht immer auf der Grundlage von altem.
Was als Wirklichkeit angenommen wird, nach der wir uns gefälligst zu richten haben, besteht also zu einem guten Teil aus Annahmen und Sichtweisen mit beschränkter Haltbarkeit. Obwohl oft nur temporär «richtig», verfügen solche Wirklichkeiten über die Macht des Faktischen, verändern die Realität in ihrem Sinne und machen sie noch «wahrer». Ein Beispiel dafür ist das Aggressionsgen. Obwohl nie nachgewiesen und durch die Neurobiologie mittlerweile falsifiziert, hat die Meinung, der Mensch sei von Natur zu aggressivem Verhalten veranlagt, die Wahrnehmung der sozialen Zusammenhänge und die Politik massgeblich beeinflusst
Die angeblich natürliche Kriegslust des Menschen führte 1651 zur Veröffentlichung von Thomas Hobbes’ staatspolitischem Grundlagenwerk Leviathan, in dem der englische Philosoph argumentiert, nur ein absoluter Souverän, eine starke, ungeteilte Regierung könne den «Krieg aller gegen alle» verhindern. Seither haben die Regierungen dieser Welt die Macht über ihre Bürger ständig erweitert, mit höchst zweifelhaftem Ergebnis. Der Beweis, dass grosse Macht friedvoller, moralischer und gerechter ist als kleine, ist noch nicht erbracht, weder praktisch noch theoretisch. Die Gegenbeispiele sind jedoch zahlreich. Und trotzdem rast die Erde in immer grösserem Machtrausch in eine unsichere Zukunft. Im globalen Wettbewerb will jedes Land das stärkste sein, jede Firma die profitabelste und jedes Individuum das einzigartigste.
Es lohnt sich, Hobbes’ Gedanken genauer zu betrachten. Der Gelehrte, vom Bürgerkrieg geprägt, ging von einer Gleichheit der menschlichen Fähigkeiten und Hoffnungen aus. «Und wenn daher zwei Menschen das gleiche verlangen, in dessen Genuss sie dennoch nicht beide kommen können, werden sie Feinde; und auf dem Weg zu ihrem Ziel bemühen sie sich, einander zu vernichten.»
Dieses Menschenbild ist also einer der wesentlichen Pfeiler der Staatstheorie. Wie konnte es dazu kommen? Eine Antwort finden wir 167 Jahre vor Leviathan. Mit den verheerenden Pestzügen des Spätmittelalters veränderten sich auch die Machtverhältnisse. Bauern «wanderten massenhaft in die von der Pest entleerten Städte», wo sie freie Bürger wurden. 1484 erliess Papst Innozenz VII. – der «Unschuldige» hatte selbst mindestens acht Kinder! – eine Bulle, die faktisch die Geburtenkontrolle bei Todesstrafe verbot. Später wurde die eheliche Fortpflanzung zum einzig tolerierten Sexualakt erklärt. Die Folge war eine massive Zunahme der Bevölkerung. Während im Mittelalter eine Frau zwei bis drei Kinder gebar, waren es zwischen 1490 und 1915 im Durchschnitt fünf bis sieben. Anstatt dass ungefähr gleich viele junge Männer ins Erwerbsleben eintraten wie es ältere Männer verliessen, gab es nun einen Überfluss an zweit-, dritt- und viertgeborenen Kerlen, die um einen Platz in der Gesellschaft kämpfen mussten. Das Resultat dieses Überhangs, so die Überzeugung des Bevölkerungs- und Genozidforschers Prof. Gunnar Heinsohn, ist Konflikt. Diese jungen Männer, auf den elterlichen Höfen nicht erbberechtigt und überzählig, bildeten das Menschenmaterial, das die ab 1500 massiv erhöhte Eroberungs- und Kriegstätigkeit der europäischen Staaten erst ermöglichte. Die Burschen durften einen Heldentod sterben, ein Verlust war das nicht. In den überseeischen Gebieten trafen die besser bewaffneten Eroberer auf Kulturen mit nachhaltiger Familienplanung ohne überzählige Söhne, die man im Krieg opfern konnte – und Europa machte sich in den folgenden Jahrhunderten die Welt untertan. Nur ganz wenige Länder wurden nie kolonisiert. Der weltweite Raubzug führte zu einer Ausbeutung und Militarisierung, die bis zum heutigen Tag andauert und das globale politische Klima prägt. Der Krieg hat gesiegt, er beherrscht unser Denken, die Wirtschaft und die Politik – u.a. weil ein Papst und die Oberschicht vor über 500 Jahren nicht hinnehmen konnten, dass Arbeitskraft nach der Pest rar und teuer wurde und Landbesitz im Wert sank. Die Vorstellung von ein paar Männern – ihre private Realität – formte die Wirklichkeit der ganzen Erde.
Noch phantastischer ist die kulturelle Prägekraft einer Einrichtung, die schon bei ihrer Einführung ganz ungeschminkt als Illusion bezeichnet wurde und es bis heute geblieben ist: das moderne Geld. «Die Bank erhält den Zinsgewinn von all den Geldern, die sie, die Bank, aus dem Nichts erzeugt», stand 1694 im ersten Prospekt der Bank of England, die als die Mutter aller Zentralbanken gilt. Geldschöpfung aus dem Nichts ist seither der Standard der privaten Banken, deren «Geld» rund 90 Prozent der Geldmenge ausmacht. Sie verleihen – was selbst viele Banker nicht wissen – nicht das Geld der Sparer, sondern schreiben ihren Kreditnehmern einfach den gewünschten Betrag ins Konto. Dabei entsteht ein gleichbleibendes Guthaben, das sich als Zahlungsmittel in der Volkswirtschaft verteilt und eine ständig steigende Forderung darstellt. Unser Geld besteht also aus Schulden, die nie bezahlt werden können. Das ist so absurd und illusionär, dass wir nicht einmal ein Wort dafür haben.
Obwohl unser Geldsystem keiner mathematischen Prüfung standhält, hat es sich in den 300 Jahren seines Bestehens porentief auf der Erde verbreitet, den Menschen in Besitz genommen und eine ganz neue Wirklichkeit geschaffen, die so hart ist, dass man in Kriegen und Hungergebieten ohne weiteres daran sterben kann.
Die Herrschenden mögen der illusionären Überzeugung mit Gesetzen, ein bisschen Gewalt und hie und da einem Krieg nachgeholfen haben. Aber vor allem sind es wir alle, die bereitwillig an die Illusion glauben. Man wiegt uns mit ein bisschen Geld aus dem Nichts in Sorglosigkeit und scheinbarer Fülle; bis die fette Rechnung folgt, haben wir sie längst vergessen. Man kann eben besser stehlen, wenn man etwas gibt.
Der Glaube an dieses Nichts hat buchstäblich Berge versetzt. Wir haben viel erreicht, auf der Soll-, wie auf der Haben-Seite der Bilanz. Aber wir haben auch einen Mangel geschaffen, der sich mit diesem Geld nicht mehr lösen lässt, sondern nur mit seinem Gegenstück, dem Verschwinden der Schuld ins Nichts – durch Vergebung. Nur noch ein grossmächtiger Schuldenerlass wird die kleine Geldmenge mit der grossen Schuldenlast wieder in Ausgleich bringen, die die grosse Mehrheit der Menschen und ihre Staaten unterjocht. Wenn wir die Schulden mit Geld bezahlen wollen – also mit noch mehr Schulden – werden wir an der von uns geschaffenen Realität, die einmal ganz virtuell begonnen hat, zugrunde gehen.
Aber noch besteht ein bisschen Freiheit. Wir werden zwar zum Gelderwerb gezwungen; aber das Denken ist noch nicht verboten und viele haben es sich noch nicht abgewöhnt. Vor allem darf man noch den Mund aufmachen, ohne sein Leben zu riskieren, wenngleich den guten Ruf, was in der virtuellen Welt dem Tod als kommunizierendes Individuum recht nahe kommt.
Noch besteht also die Chance, eine neue gemeinsame Wirklichkeit zu erschaffen. Sobald wir verstummen, ist sie dahin. Deshalb wollen wir dem schönen lateinischen Wort «sapere aude, incipe!» folgen und es wagen, weise zu sein; jetzt und nicht später.
Bevor wir uns an die Konstruktion einer neuen Realität machen, sollten wir einen Blick darauf werfen, was sich in der virtuellen Sphäre darauf vorbereitet, Wirklichkeit zu werden. Dabei können wir folgende Feststellungen machen:
1. Unsere Wahrnehmung wird immer mehr von kommerziell gesteuerten Algorithmen bestimmt und damit auch das, was wir als Wirklichkeit betrachten. Wir sehen nicht mehr die gemeinsam belebte Welt, sondern das, was es durch die verschiedenen Filter auf unsere Bildschirme schafft.
2. Der Bildschirm hat immer recht und damit stärkere Wirkung als die Realität! (Es sind schon etliche Patienten gestorben, weil Ärzte auf falsche Bildschirminformationen reagiert haben.)
3. Über das Internet der Dinge wird schon in wenigen Jahren alles mit allem verbunden sein und von Algorithmen unter der Kontrolle von wenigen Konzernen und staatlichen Einrichtungen gesteuert: Kühlschränke, Thermometer, Joggingschuhe, Herzschrittmacher, Autos, alles.
4. Der Mensch wird eine elektronische Identität erhalten, und sie wird, wie alles, was ein Computer ist, rechnen kann oder aus Daten besteht, gehackt werden können.
5. Es wird keine Sicherheit mehr geben, keinen Schutz vor Kontrolle und Kriminalität.
6. Alles wird gleichzeitig sichtbar und unsichtbar sein. Alle Daten werden erhoben, gespeichert und ausgewertet, aber niemand wird wissen, wer was weiss.
7. Roboter werden menschenähnlich werden und Menschen, bestückt mit sogenannten wearables, werden roboterähnlich werden.
Wenn Sie das alles nicht glauben möchten, lesen Sie das faszinierende Buch Future Crimes von Marc Goodman, Inside the Digital Underground and the Battle for Our Connected World. Der Mann hat für über siebzig Länder als Cyber-Kriminologe gearbeitet und beschreibt die Schatten der Technologie so scharf und beispielreich, dass Sie nach der Lektüre erst nach ein paar Tagen wieder ans Tageslicht kommen.
Natürlich kann kein Mensch mit Herz und Gefühl eine solche Zukunft wollen. Aber sie ist schon so weit fortgeschritten, dass sie sich gewissermassen selbst will. Das Programm läuft, ein Stop-Button ist nicht vorgesehen. «Smart Dust» zum Beispiel, mikroskopisch kleine Sensoren, die typischerweise in Schwärmen eingesetzt werden, sind schon heute ein riesiges Geschäft, obwohl Sie vermutlich den Begriff noch nie gehört haben. Goldman-Sachs hat eine Milliarde Dollar in dieses Geschäft investiert, die Bank of America 2,5 und Blackrock 11 Milliarden. Ich glaube nicht, dass sich diese Zukunft bekämpfen lässt. Das bisschen Datenschutz, den wir betreiben, die Security, die wir einrichten und die Kontrolle, die wir fordern, werden bei weitem nicht genügen für eine Rückbesinnung auf das menschliche Mass. Wir tun das schon lange, und die einzige Wirkung ist Beruhigung unseres Gewissens.
Eine neue Wirklichkeit zu schaffen, wird vielleicht noch anstrengender sein. Aber wir könnten es zumindest versuchen. Sie muss mit der einzigen Wirklichkeit beginnen, deren wir sicher sein können: dem Individuum. Das beobachtende, mit Bewusstsein ausgestattete Wesen, das ich bin, ist das Einzige, was mit Sicherheit existiert. Alles andere könnte Illusion sein, vom Mensch geschaffene Realität oder sonst ein Zauber.
Was lässt sich auf dieser Erkenntnis aufbauen?
1. Ich bin Bewusstsein.
2. Ich bin kein Körper (neuere Forschung zeigt, dass der Geist auch ohne funktionierendes Gehirn «arbeitet», siehe Interview mit dem Kardiologen und Nahtodforscher Pim van Lommel in ZP 146).
3. Menschheit ist Summe von Bewusstsein oder kollektives Bewusstsein.
Viel mehr allgemeine Gültigkeit lässt sich im Moment nicht herstellen. Aber sie reicht für eine ganz neue Welt, eine Welt aus Bewusstsein, Frieden und Liebe. Wir müssen nur bereit sein, neben den sieben Milliarden Wirklichkeiten auch die einzige zu akzeptieren, die es für uns alle gibt.
* In einem Experiment der University of California und dem California Institute of Technology konnten Probanden Bilder auf Bildschirmen durch die Kraft ihrer Gedanken verändern. is.gd/W2gtd2
Und an der renommierten Princeton University wurden während der Beerdigung von Lady Diana und am 11. September 2001 sogar eine erhöhte kollektive Bewusstseinsenergie gemessen. is.gd/AjpJKa
Mehr zum Thema «real | virtuell» in Zeitpunkt 149
06. Mai 2017
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Christoph Pfluger
Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".
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