Im Hier und Jetzt

Erfüllt ist der Augenblick, in dem mir etwas nahe geht

Es gibt Allerweltssätze, die auszusprechen die Zustimmung der Gesprächspartner garantiert: «Du musst im Hier und Jetzt leben», ist so eine Phrase, die zwar tiefgründig klingt, sich bei näherem Hinsehen aber als äusserst flach erweist. Denn was soll das heissen: Hier und Jetzt? Soll unsere Aufmerksamkeit – besser noch ‹Achtsamkeit› – ganz bei dem sein, was jetzt vor Augen steht: dem Nahen, Gegenwärtigen? Ist Nähe zu den Dingen dieser Welt gefordert? Gilt es, Vergangenheit und Zukunft auszublenden, um ja nicht in die Ferne abzuschweifen? So oder ähnlich liest man in spirituellen Ratgebern. Aber ist das auch sinnvoll?
Wie steht es um das Hier und Jetzt, wenn das Gegenwärtige unerträglich ist? Im Konzentrationslager etwa, so wie es Viktor Frankl erfahren musste. Ist auch hier Achtsamkeit fürs Nahe angebracht? Frankl sagt: «Nein». Hier sollten wir von unserer grossartigen Fähigkeit Gebrauch machen, gedanklich in die Ferne zu schweifen: das Jetzt gerade nicht mit dem zu füllen, was mir raumzeitlich nahe ist, sondern mit dem, was mir nahe geht. Und sei es noch so ferne. «In der denkbar tristesten äusseren Situation», notierte Frankl, «vermag der Mensch, im liebenden Schauen des geistigen Bildes, das er vom geliebten Menschen in sich trägt, sich zu erfüllen».
Im Hier und Jetzt sein – das ist dann erfüllend, wenn dieses Hier und Jetzt nicht mit dem Nahen gefüllt, sondern von dem erfüllt ist, was mir nahegeht: wenn dieses Hier und Jetzt erfüllt ist vom Berührtsein, vom Angesprochensein, von der Begegnung dessen, was mich etwas angeht. «Alles wirkliche Leben ist Begegnung», sagte Martin Buber. Lebendig ist das Hier und Jetzt, sobald mir etwas nahe geht – auch wenn es aus der Ferne des Vergangenen oder Zukünftigen zu mir kommt.   
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