Impfobligatorium und industrielle Medizin

Die Debatte ums Impfen ähnelt einer endemischen Krankheit: Sie ist immer latent vorhanden und bricht periodisch in Epidemien durch. In der Schweiz, die als Hort der Impfskepsis gilt und beispielsweise bei der Masernimpfung die tiefste Durchimpfungsrate Europas aufweist, kocht die Debatte gerade wieder einmal hoch, nachdem Ende Januar in einem Genfer Krankenhaus ein zwölfjähriges Mädchen an den Folgen der Masern verstorben ist.

Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren forderte daraufhin, ein Obligatorium der Masernimpfung müsse "ernsthaft geprüft und ins Auge gefasst werden". Fast gleichzeitig starb im Kanton Baselland ein ungeimpftes Kleinkind an Keuchhusten. Dieser Kanton ist eine Hochburg der traditionell impfskeptischen Anthroposophen. Einzelne Gesundheitspolitiker fordern nun, gleich den gesamten Impfkatalog für obligatorisch zu erklären.

Im Streit um Für und Wider eines Obligatoriums haben nun einige Protagonisten jedes Augenmass verloren – allen voran der Leiter des Instituts für Immunologie an der Universität Bern, Beda Stadler. Dieser verglich in einer Diskussionssendung auf Tele Züri seine Kontrahentin mit Holocaust-Leugnern. Impfkritiker wie Holocaustleugner würden Erkenntnisse der Wissenschaft leugnen, und wie das Leugnen des Holocausts strafbar sei, müsste auch Impfkritik verboten werden. ( ... )


Zweifel am Erfolg der Ausrottungsstrategie

Kritische Stimmen wie die Arbeitsgemeinschaft für differenzierte Impfungen dagegen zweifeln, ob das Ziel der Ausrottung überhaupt zu erreichen sei. Zwar gebe es etwa in Finnland und in Nord- und Südamerika tatsächlich fast keine Erkrankungen mehr. Das bedeute aber nicht, dass das Virus ausgerottet sei: Geimpfte könnten das Virus in sich tragen und weitergeben, ohne Krankheitssymptome zu entwickeln. Zudem habe eine Verschiebung stattgefunden: Heute treffe die Krankheit vermehrt junge Erwachsene, aber auch Säuglinge unter zwölf Monaten, die noch nicht geimpft werden können. Der Grund liege darin, dass Mütter, die die Krankheit durchgemacht hätten, ihren Babys einen besseren Nestschutz mitgäben als solche, die geimpft seien. Diese Verschiebung sei fatal, denn die Krankheit sei für Babys besonders gefährlich und verlaufe auch bei Erwachsenen schwerer als bei Kindern. Entsprechend ist die Mortalität von Masern seit den Impfkampagnen gestiegen. ( ... )

Für die Propaganda wird gerade in ärztlichen Kreisen grobes Geschütz aufgefahren. Eine verbreitete Strategie ist es, dem Gegner die Wissenschaftlichkeit abzusprechen. ( ... ) Kritische Impfbefürworter werden als Impfgegner bezeichnet, Studien, die von negativen Impffolgen berichten, werden kleingeredet. Und: Es wird mit der Moralkeule gefuchtelt. Wer seine Kinder nicht impfen lasse, trage dazu bei, dass das Virus andere anstecken könne.


Medien spitzen die Debatte weiter zu

Die Medien übernehmen diese Sicht weit gehend. Das zeigt sich schon bei der Wortwahl: Die gegenwärtige Masernepidemie wird in fast allen Zeitungen mit dem Attribut "grassierend" versehen. Dieses Wort taucht sonst in den Medien nur entweder in ironischem Kontext auf ("das Fussballbildchen-Fieber grassiert") oder bei wirklich schlimmen Epidemien wie der Choleraepidemie, die in Zimbabwe Tausende Tote gefordert hat. Dass die gegenwärtige Masernepidemie "grassiert" ist die Sprachregelung des BAG.

Auch übernehmen fast alle Medien das Schema "Impfbefürworter versus Impfgegner", wobei alle, die die maximalistischen Impfempfehlungen der Behörden kritisieren, der Gegnerseite zugeschlagen werden. Die fundamentalen Impfgegner, die sich im Verein Aegis organisieren ("Jede Impfung ist so ein schädlicher Einfluss!"), lassen sich leicht in die Pfanne hauen und als esoterisch inspirierte Extremisten abtun. So trat auch Beda Stadler, als er seinen Holocaust-Leugner-Vergleich äusserte, gegen eine Aegis-Vertreterin auf.


Spötter, Polemiker, Vertreter von Schulmedizin und Industrie

Stadler ist ein in den Medien gern gesehener Gast, drückt er sich doch schön plakativ aus und kann selber gut schreiben. Noch vor besagter TV-Sendung tat er die Argumente seiner Gegner in einem Interview mit der Berner Zeitung als "Blödsinn" ab. Statt kritisch nachzufragen, setzte der Interviewer über das Gespräch den Lead: "Professor Stadler spricht Klartext". In der NZZ am Sonntag ist Stadler Kolumnist, der gerne gegen alles schiesst und über alles spottet, was nicht der reinen Lehre der Schulmedizin entspricht. Die Redaktion legt Stadlers Interessebindungen nicht offen, obwohl Stadler selber das auf seiner Website tut – er sitzt beispielsweise im wissenschaftlichen Beirat des Impfstoffherstellers Berna Biotech und in Beiräten von Gentech-Lobbyorganisationen. ( ... )

(Red.: db)

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