«Ach, Nurmijärvi, kleiner sauberer See!»

Wie wir 1971 die Alkoholsucht in Finnland erleben – und wie ich zum erstenmal romantische Gefühle in mir entdeckte. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #31

Zelten am Nurmijärvi-See im Süden Finnlands, 1971 / © zvg

«Fliegen, das unermessliche Land aus der Vogelperspektive erleben, erkennen, wie lächerlich klein die Welt sein kann – beim Fliegen fühlt man sich über den Dingen. Zurück auf dem Boden dagegen weiss man wieder, wohin man gehört. Man muss wieder planen, sich orientieren: Wer nimmt uns mit, was sollen wir essen, wo werden wir heute nacht schlafen?»

So fragte ich in meinen Finnland-Reisebericht in der «Zürichsee-Zeitung» – und erzählte dann von der Ankunft in einer weiteren Stadt:

«Auch in Oulu, am Finnischen Meerbusen, als wir abends bei strömendem Regen Schutz vor dem Nasswerden suchten und uns unter das Dach eines Bürogebäudes flüchteten, wussten wir nicht, wo übernachten. Dennoch waren wir guter Dinge. Auf den Zufall angewiesen zu sein ist eine der schönsten Erfahrungen einer Autostopp-Reise: die Augenblicke geniessen, ungebunden und frei sein – und schliesslich das Glück erleben, als uns ein Architekturstudent, der des Weges kommt, in das Bürohaus mitnimmt. Im städtischen Architekturbüro von Oulu, mit all den Skizzen und Plänen einer aufstrebenden, jungen Stadt, richtet er uns einen Schlafplatz ein. Er bleibt dann noch bei uns, und wir fragen ihn über sein Land aus.

So erfahren wir auch, dass besonders im Norden viele junge Finnen arbeitslos sind. Der Grossteil von ihnen sucht sich deshalb in Schweden Arbeit. Wer zu Hause bleibt — ob Jung oder Alt –, flüchtet sich oft in den Alkohol. Das haben auch wir gesehen: In allen Städten, die wir besuchten, gehörten betrunkene Männer zum Alltagsbild. Schon frühmorgens liegen sie in den Pärken herum, bis sie von der Polizei eingesammelt und in ein Obdachlosenasyl gebracht werden. In Helsinki schliesst man sie über Nacht sogar in der Unterführung beim Bahnhof ein.

In Tampere beobachteten wir, wie ein Betrunkener am frühen Abend im Zentrum der Stadt zu Boden fiel und liegenblieb, bis ihn die Polizei schliesslich auflas. Kurz darauf torkelte ein älterer alkoholisierter Mann auf uns zu, in der Hand einen Plastiksack mit leeren Schnapsflaschen, und redete in finnisch-deutsch-englischem Sprachgewirr auf uns ein. Aus seinen Reden zu schliessen, war er Akademiker und offenbar arbeitslos. Schliesslich schwankte er weiter — gefährlich nahe der Strasse — und seine traurige Erscheinung wurde durch einen jungen Betrunkenen abgelöst, der als Nächster an uns vorbeistolperte. Was für eine deprimierende Szenerie: ein zukunftsträchtiges Land, das sich europäisch modern gibt –  und die Schattenseiten, die nicht dazu passen wollen.

Hochprozentiges auch als Stimmungsmacher: Viele Finnen können ihre naturbedingte Reserviertheit oft nur mit Hilfe von Alkohol abschütteln. Während der Rückfahrt von Finnland nach Schweden lernten wir auf dem Schiff junge Schweden kennen, die sich auf der zollfreien Insel Aland betrunken hatten und nun lustig und übermütig von ihrer Sauftour heimkehrten. Sie luden uns freigiebig ein, bei ihnen zu übernachten. Am anderen Morgen waren sie wieder nüchterne und verkaterte Nordländer.»

Am fröhlichen – oder weniger fröhlichen – Alkoholkonsum hat sich im hohen Norden auch 50 Jahre danach nichts geändert. Noch immer, so lese ich im weltweiten Web, bechern die Finnen jahraus jahrein, was die Flasche hergibt, obwohl es im Lande selbst nach wie vor schwierig ist, den ersehnten Spiritus überhaupt zu erhalten. So darf Alkohol über 4,7 % nur in staatlichen Monopolgeschäften verkauft werden, während überall sonst nur Softbier in den Gestellen steht – und dies nur bis 21 Uhr abends.

Alkohol in Bars ist geradezu unbezahlbar, sodass, wer sich betrinken will, dies am besten zu Hause tut. Oder auf einer Party, und zwar in Mengen, dass man sich anderntags an nichts mehr erinnert. Ich vermute deshalb, dass man in finnischen Städten heute noch torkelnden, schwankenden Finnen begegnen kann. Und als Jugendlicher aus einem Land mit weniger hochprozentiger Mentalität würden mich solche Bilder wohl noch heute schockieren.

*

«Doch genug der unangenehmen Tatsachen», fahre ich fort in meinem  Reisebericht. «Oulu liegt bereits hinter uns, wir haben das Seengebiet im Südosten erreicht, ein junger Finne nimmt uns eine lange Wegstrecke mit, und über viele Kilometer hinweg säumt Wald, immer nur Wald die Landstrasse. Der Tag neigt sich schon dem Abend zu, als im Sonnenlicht glitzernde Wasserflächen die engen Reihen der Bäume durchdringen. Weitverzweigte Seen tun sich auf mit winzigen Inseln und Wochenendhäuschen in Ufernähe. Diesen Traum wollen wir uns noch erfüllen: an einem einsamen See campieren.

Als sich zwischen den Bäumen das nächste Gewässer zeigt, bitten wir den  netten Finnen, uns aussteigen zu lassen. Wir durchqueren das Waldstück, steigen auf eine kleine Anhöhe — und vor uns erstreckt sich der See, Nurmijärvi sein Name, den ich zu meiner schönsten Finnlanderinnerung auserwähle.

Kaum haben wir das Zelt aufgestellt, rudert ein Fischer heran, der sein Angelzeug im Boot hat. Unter Aufbietung seiner sämtlichen Englischkenntnisse lädt er uns in sein Häuschen zu einer Sauna ein — ein finnisches Ritual zur Begrüssung und offenbar eine hohe Ehre für solche wie wir, die keine Finnen sind. Fröhlich lachend giesst der Finne Wasser auf heisse Steine und ergötzt sich daran, wie unerwartet heiss uns die Hitze vorkommt. Einzige Rettung: hinauslaufen, in den See springen. Dem gastfreundlichen Fischer, der uns wenig später zu unserem einsamen Zeltplatz zurückrudert, versprechen wir, ihm aus der Schweiz eine Tafel Schokolade zu schicken. Leider haben wir seine Adresse verloren – was uns leid tut, denn jetzt wartet er auf das Paket aus der Schweiz, das nicht kommen wird.

Vor unserem Zelt sitzend, allein mit den Ameisen und den Mücken, den Fichten und dem bemoosten Boden, blicken wir hinaus auf den See und die Sonne. Wir sehen sie untergehen, und sie tut es noch schöner und kitschiger als auf den finnischen Ansichtskarten. Kitsch zerstört aufkommende Romantik. Dennoch war mir in Finnland oft romantisch zumute.»

*

«Ach, Nurmijärvi, kleiner sauberer See, warum haben wir dich schon wieder verlassen? Wir stehen erneut an der Strasse, entfernen uns von den Seen und nähern uns der finnischen Hauptstadt, Helsinki. Neben der überfüllten Jugendherberge campieren wir gratis in einem Park zusammen mit anderen sparsamen Schweizern.

Helsinki jedoch lässt mich kalt, vergeblich suche ich nach erzählenswerten Beobachtungen, denn ich möchte dem Leser doch Wissenswertes aus Finnland bieten. Versuchen wir’s damit: Helsinkis Strassen tragen überall sowohl finnische als auch schwedische Namen, da der südliche Teil des Landes früher einmal zu Schweden gehörte. Noch heute ist Schwedisch erste Fremdsprache in der Schule – doch wen interessiert das? Wen interessiert, dass uns am Abreisemorgen die Polizei hoch zu Pferd weckte und uns in höflichem Englisch aufforderte, unser Zelt abzubrechen, sodass wir dank dieser polizeilichen Intervention gerade noch das Flugzeug erreichten?

Fliegen hilft überspringen, leichter Abschied nehmen: Wir verlassen das finnische Festland, ohne es zu bemerken. Über einer dicken Wolkendecke brummt unsere Metropolitan Richtung Westen, nach Åland, wir werden in Mariehamn landen, dem Flugplatz, von dem wir ganz am Anfang gestartet sind, und die Fähre nach Stockholm besteigen.

Das ist mein letzter Eindruck von Finnland: Als das Schiff aus dem Hafen Mariehamns fährt und seinen Weg durch die Inseln nimmt – kleine, grosse, unbewohnte, bewohnte –, eile ich auf das Oberdeck, um ein letztes Bild aufzunehmen. Doch wir sind schon zu weit entfernt. Ohne sie festgehalten zu haben, werden die finnischen Inseln langsam zu Horizont und verschwinden am Ende, wie alles Sichtbare, ganz. Nur eine Sicherheit bleibt: Die Inseln warten auf mich. Sie warten auf alle, die Finnland einmal erleben möchten.»

*

«Wieder zuhause», so beendete ich meinen Reisebericht, «zähle ich die Distanzen zusammen, die wir zurückgelegt haben. Über 7’000 Kilometer Landweg haben wir hinter uns, unvorstellbare Riesenschritte in vier kurzen Wochen, die so unscheinbar ihren Anfang nahmen, als ich an jenem Sonntagnachmittag um zwei Uhr mit dem 4er-Tram bis Endstation Hardturm fuhr, dort auf Thomas, meinen Reisekollegen traf – und wir das erste Mal auf unserer Reise den Daumen senkrecht nach oben streckten: Es ging alles zu schnell.

Sind wir überhaupt in Finnland gewesen, fragte ich mich, als wir vier Wochen später abends, von München her kommend, das letzte Wegstück hinter uns brachten, beim Bellevue in Zürich abgesetzt wurden, wo wir uns an der «Riviera», dem Treffpunkt der Hippies, auf die Stufen am Fusse der Limmat setzten, umgeben von der nächtlichen Stadt: Sind wir jemals fort gewesen?»

 

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