Ärzte des Grauens

Die letzten Wochen im Leben des Patienten Rupert R., rekonstruiert aus seinem hinterlassenen Tagebuch. Ein satirischer Thriller von Roland Rottenfußer

Ende November suchte mich die Krankenschwester Aisha Özgyl (Name von der Redaktion geändert) in der Redaktion auf, um mir ein – wie sie sagte – brisantes Dokument zu überreichen. Es handle sich um das Tagebuch meines unlängst an PRUZ verstorbenen Freundes Rupert R. PRUZ, die in 60 % der Fälle zum Tode führende virale Infektionskrankheit, war in den Monaten zuvor in einer beispiellosen Medienkampagne zur neuen gefährlichen Volksseuche ausgerufen worden. Angst und Misstrauen grassierten in der Bevölkerung, und umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen – teilweise verbunden mit der vorübergehenden Aufhebung von bürgerlichen Grundrechten – wurden von den Gesundheitsbehörden verhängt. Ruperts Tagebuch ist ein erschütterndes Dokument. Die dort enthüllten Sachverhalte sind wirklich kaum zu glauben, würden aber, wenn sie zuträfen, unser Bild vom ärztlichen Beruf und von der Aufgabe des Gesundheitswesens in unserer Gesellschaft grundlegend erschüttern.
Für den Zeitpunkt ist die Veröffentlichung dieses Dokuments mit erheblichen rechtlichen Risiken verbunden, da die Betroffenen – Ärztekammern und Pharmaindustrie, vor allem das erwähnte (hier anonymisierte) Krankenhaus – die erhobenen Vorwürfe nicht widerspruchslos hinnehmen dürften. Trotzdem fühlt sich der Zeitpunkt auf Grund ihres journalistischen Ethos der Wahrheit und dem Gemeinwohl mehr verpflichtet als vordergründigen Sicherheitserwägungen. Wir halten es für dringend geboten, die Öffentlichkeit vor dieser Bedrohung zu warnen – in der Hoffnung, dass die Aufdeckung der ganzen Wahrheit gerade noch rechtzeitig die nötigen Gegenkräfte in der Gesellschaft aktivieren und das Schlimmste verhüten kann. Ich hoffe nur eines: dass es für dich, wenn du dies liest, nicht längst zu spät ist. Jeder kann der Nächste sein. Wen sie erst einmal im Visier haben, den kriegen sie nämlich früher oder später – die Ärzte.


19.10.03
Besuch bei Dr. Kroll, meinem Naturmedizin-Dealer. 50 Gramm Johanniskraut aus illegalen Importen, 30 Gramm Hopfen-Baldrian-Tabletten. Meine Rescue-Tropfen sollten jetzt auch für ein paar Monate reichen. Und die Bachblüte Aspen hat er mir noch aufgeschwatzt – gegen meine »diffusen Ängste« und »paranoiden Verschwörungsfantasien«. Wenn es nur so wäre! Wenn das alles nur Fantasien wären! Ich sage zu ihm: »Dr. Kroll, wenn Sie jemand mit dem Messer bedroht, nehme sie dann Aspen gegen die Angst-Störung, oder ist es nicht besser, sich aus dem Staub zu machen?« Aber wohin sollten wir auch fliehen? Wo sollten wir uns verstecken? Die Ärzte kriegen früher oder später jeden.
Dr. Kroll beschönigt die Situation immer noch. Dabei sollte gerade er doch wissen, was abläuft. Wenn sie ihn erwischen, bekommt er wegen Dealen mit Naturmedizin bis zu drei Jahren Haft. Auch Naturmedizin-Besitz ist ab einem bestimmten Umfang strafbar. Als Ersttäter hätte ich allerdings Aussichten, mit Bewährung davon zu kommen. Wir müssen vorsichtig sein. Behandlungen nur noch nach Einbruch der Dunkelheit, unten in Dr. Krolls Kohlenkeller. Die Schlupflöcher werden rar!
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25.10.03
Ich darf um keinen Preis krank werden. Zum Glück reichen die Multivitamin-Präparate von Dr. Kroll eine Weile. Hochdosierte Antioxydantien sind der wirksamste Schutz. Dazu mache ich täglich meine bioenergetischen Übungen, um den Energiefluss im Körper zu aktivieren, und gehe in die Sauna, um meine Toleranz gegenüber extremen Temperaturschwankungen zu erhöhen. Ich habe mir auch ein Aura-Soma-Fläschchen ausgependelt und meine Beziehung zu Anna und zu meiner Mutter aufstellen lassen. Ich tue wirklich, was ich kann. Die Ärzte dürfen gar nicht erst auf mich aufmerksam werden.
Meinen Kollegen Wimmer haben sie vor zwei Wochen im Städtischen Sanatorium eingeliefert. Er hatte eigentlich nichts. Manchmal so ein Jucken an den Nasenflügeln. Ich glaube aber eher, dass es an seinen schmutzigen Taschentüchern lag. Gestern kam die Nachricht, Wimmer sei an PRUZ verstorben. Unheilbar. Die Ärzte konnten ihm nicht mehr helfen. Ich hatte ihn noch gewarnt: »Fliehen Sie, Herr Wimmer! Die haben Sie auf dem Kieker. Die Krankl, die alte intrigante Ziege, die denunziert doch jeden, der nur dunkle Ringe unter den Augen hat. Und wenn die Ärzte Sie erst mal haben, kommen Sie so schnell nicht wieder raus.« Aber Wimmer wollte mir nicht zuhören. Immer wieder sagte er: »Was wollen Sie? Was soll das Misstrauen? Ärzte sind doch dazu da, uns zu helfen!« Jetzt ist er tot.
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01.11.03
Seit die Medien die Sache mit dem PRUZ-Virus lanciert haben, sind die Kontrollen strenger geworden. Gefahr für die öffentliche Gesundheit, heißt es. Jeder, der Anzeichen der Krankheit bei sich entdeckt – z.B. ein trockenes Hüsteln, Niesen oder Mundtrockenheit – ist verpflichtet, sich unverzüglich bei einer ärztlichen Bereitschaftsstation zu melden. Auch wenn wir solche Symptome bei Anderen bemerken, bei Kollegen, bei Freunden, bei unserem Partner, sind wir verpflichtet, sie zu melden. Wenn sie uns drauf kommen, dass wir jemanden mit Verdacht auf PRUZ-Infektion gedeckt haben, sind wir mit dran – wegen unterlassener Unterstützung des öffentlichen Seuchenschutzes. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Brust zerspringt mir vor Angst. Selbst Pranayama-Atmung und Baldriantropfen helfen kaum. Letzte Woche, als mir beim Schulterstand das Hemd aus der Hose gerutscht ist und das Fenster einen Spalt offen war, hatte ich das Gefühl, ich erkälte mich. Ein paar mal habe ich laut gehustet. Aber die Nachbarn waren zum Glück außer Haus. Es hat sicher niemand gehört – außer Anna. Ich liebe Anna so sehr – mehr als ich jemals einen Menschen geliebt habe. Und obwohl es fast niemanden mehr gibt, dem ich vertrauen kann – Anna vertraue ich bedingungslos. Sie würde mich nie verraten.
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03.11.03
Sie haben mich erwischt. Irgendjemand muss mich denunziert haben. Ich habe im Büro ein paar Mal laut geschnieft – wohl wegen der Staubschicht auf den alten Akten, die ich sortieren musste. Die Krankl hat dabei so komisch zu mir rüber gekuckt. Da hab ich eigentlich schon geahnt, dass es zu spät ist.
Der ÄET, der Ärztliche Eingreif-Trupp kam durch’s Fenster, als ich gerade mit Anna beim Fernsehen saß. Sie haben es einfach eingeschlagen, nachdem ich auf ihr Klingeln nicht reagiert hatte. Sie trugen Gasmasken und sterile Gummi-Anzüge, eine Art Ganzkörperkondom. Sie haben mich am Arm gepackt, die Treppe herunter geschleift und in einen Krankenwagen gestoßen, der mit Blaulicht vor dem Haus parkte. Die Nachbarn haben zugeschaut, aber keiner hat eingegriffen. Es sind immerhin Ärzte. Und wenn Ärzte etwas tun, hat das Hand und Fuß und basiert auf unzweifelhafter fachlicher Autorität.
Gott sei Dank wirkte Anna gefasst bei meiner Festnahme. Ich weiß nicht, ob ihr klar ist, was da geschehen ist und dass sie mich vielleicht nie wieder sehen wird. Vier meiner Freunde und Bekannten sind im Städtischen Sanatorium verschwunden, seit PRUZ ausgebrochen ist. Das Sanatorium hat einen gesegneten Appetit. Es verschluckt lebendige Menschen, gesunde, kräftige Männer und Frauen, die durch das zahllose Maul des großen Eingangstors eingeliefert werden, und scheidet sie durch den Hinterausgang als Leichen wieder aus – vorher sorgsam ausgeschlachtet nach verwertbaren Organen.
Es steht alles in den Marquardtsfelder Mitschriften, die zurzeit in Insider-Kreisen im Internet kursieren. Da steht haarklein, was die Ärzte wollen und was sie mit uns vorhaben. Aber niemand wollte mir glauben. »Paranoide Ausgeburt kranker Fantasien« hieß es. Mag ja sein. Es ist auch wirklich nur sehr schwer zu glauben, was da steht, weil es alles in Frage stellt, was wir bisher für wahr und richtig hielten. Ich wünschte so sehr, dass das, was in den Mitschriften steht, frei erfunden wäre – schließlich will ich auch leben und hier wieder rauskommen – aber ich bin mir da nicht mehr so sicher.
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05.11.03
Sie haben mich auf die Quarantänestation gesteckt. Bei der Anmeldung musste ich unterschreiben, dass ich mit meinem Vermögen für alle Behandlungskosten hafte. Die Kosten für einen Tag im Sanatorium liegen derzeit bei rund 1.600 Euro, die Zuzahlung der Krankenkassen beträgt seit 1. Januar nur noch 6,5 Prozent. Glückliche Zeiten, in denen die noch ein Drittel der Behandlungskosten getragen haben! Und für PRUZ-Fälle beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Sanatorium zwei Monate. Wenn ich hier je wieder rauskommen sollte, bin ich ruiniert. Ich weiß gar nicht, ob ich es mir wünschen sollte, das hier zu überleben.
Bei der Einlieferung war ich noch top fit, aber seit sie mir die antivirale Medikation gegeben haben, fühle ich mich nur noch elend. Fünf mal am Tag muss ich auf die Toilette zum Erbrechen. Mein Kopf ist schwer und dumpf und schwirrt wie nach einer durchzechten Nacht. Ich sehe alles nur noch verschwommen. Alles wirkt so seltsam fremd und unwirklich. Es juckt überall, so als wäre meine ganze Haut ein riesiges nässendes Ekzem.
Dabei geht es mir noch gut im Vergleich zu Huber, meinem Nachbarn. Als ich hereinkam und ihn da liegen sah, dachte ich zuerst: »Ist es schon so weit, dass sie mich ins Leichenschauhaus bringen?« Huber sieht tatsächlich so aus, als ob kaum noch Leben in ihm wäre. Sein Gesicht ist wie eine hauchdünne Schicht Hefeteig – auf einen Totenschädel aufgespannt. Es hat die Farbe von Post-it-Zetteln, während seine Augenränder ins Schwärzlich-Lilane spielen. Ich schätze ihn auf 60-65. »PRUZ im fortgeschrittenen Stadium«, sagen die Ärzte.
Bei mir ist es aber noch im Anfangsstadium. Dr. Sägebrecht macht mir auch durchaus Hoffnung, zu überleben. »Wir können Sie durchbringen«, sagt er, »aber wir werden nicht umhinkommen, die Dimithylpyrazolon-Dosis zu erhöhen.« Dr. Sägebrecht ist ein schmales Männchen mit ausgeprägter, gekrümmter Nase. Er wirkt immer etwas übernächtigt, vielleicht von den anstrengenden 48-Stunden-Diensten, die hier im Sanatorium üblich sind. Seine Stimme hat eine roboterhafte Starre, so als müsse er sich mühsam gegen die Erschöpfung aufrecht halten.
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12.11.03
Schwester Aïsha mag mich, glaube ich. Sie hat seidiges schwarzes Haar, das unter dem kalten Licht bläulich glänzt, und schöne Augen wie die Kurtisane in »Siddharta«. Es ist wohl so seit dem Abend, als sie meinen Urinbeutel ausgeleert hat und ich ihr geduldig dabei zugehört habe, wie sie von Anatolien erzählt hat. Von den Olivenbäumen und dem warmen, nach Kiefernnadeln duftenden Wind über dem Meer. Kaum einer hört ihr zu, weder auf der Station noch in dieser Bienenwabe, die sie im 30-stöckigen Schwesternwohnheim bewohnt. Nicht einmal die Ärzte hören zu, die sich manchmal ihren Körper nehmen. Denen sie sich hingibt für einen kurzen Moment der Wärme oder weil sie manchmal einfach davon träumt, hier rauszukommen. Und es sind immerhin Ärzte, Ärzten sagt man nicht ohne weiteres »nein«.
Sie hat auch meistens keine Zeit, mit Patienten zu reden. 25 Zimmer in einer Viertelstunde. Aber an dem Abend war ich ihr letzter Patient und sie hat mir ein bisschen von sich erzählt. Seitdem schaut sie mich immer so an, wenn sie zu mir kommt. Selbst wenn’s nur für einen kurzen Moment ist, während sie das Essen bringt oder meine Medikamente. Da ist dieses Funkeln in ihren Augen, als ob sie sagen würde: »Wir wissen beide, was los ist, aber wir dürfen es nicht aussprechen ... noch nicht!«
Wenn ich jemals hier rauskommen sollte ... aber nein, das ist Unsinn, Anna ist die Frau, die ich liebe. Natürlich tut es weh, dass sie mich seitdem kein einziges Mal besucht hat. Ich meine: Gespräche wären sowieso nur durch Glasscheibe und Sprechanlage möglich gewesen, wegen der Ansteckungsgefahr. Aber sie hätte ruhig kommen können. Es kann nur etwas sehr schwer Wiegendes gewesen sein, das sie daran gehindert hat. Vielleicht ist ihr was passiert oder sie ist selbst krank geworden.
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16.11.03
Herr Huber ist unlängst aufgewacht und hat wirres Zeug geredet. Ein Wunder, dass er überhaupt noch sprechen kann. »Fliehen Sie!«, hat er mir zugemurmelt. »Schauen Sie, dass Sie hier rauskommen, solange Sie noch die Kraft haben. Für mich ist es schon zu spät.« Dann röchelte er noch etwas Unverständliches – es klang wie »Sie werden sein wie ich« – und wurde wieder bewusstlos.
Am Tag darauf fragte ich Schwester Aisha, wie alt Herr Huber ist. Sie schaute in ihre Unterlagen und sagte: »43«. Vielleicht hat sie sich ja geirrt. Das wäre ja ungefähr so alt wie ich selbst bin. Obwohl ich auch schon ziemlich schlecht aussehe, ich traue mich schon kaum mehr in den Spiegel zu sehen. Scheiß Dimithylpyrazolon!
Ich habe einen Trick angewandt, den ich in »Einer flog über das Kuckucksnest« gesehen habe. Die Tabletten unter der Zunge verschwinden lassen, sie später wieder ausspucken und ins Klo spülen. Ich übe den trägen, schleppenden Gang und den glasigen Blick, damit es nicht so auffällt, dass ich das Mittel heimlich abgesetzt habe. Ich fühle mich schon viel kräftiger.
In ein paar Tagen kann ich daran denken, zu entkommen. Ich fahre mit dem Fahrstuhl im Nordflügel ins zweite Untergeschoss, wo die Pathologie und die Organentnahme untergebracht sind. Nachts hält sich kein Lebender mehr dort auf. Eine Treppe führt am anderen Ende des Ganges zur Oberfläche, in den Garten des Sanatoriums. Vielleicht kann ich irgendwie rauskommen, ein Fenster einschlagen ... Schwester Aisha hat mir die Pathologie genau beschrieben. Wir kamen darauf zu sprechen, weil sie immer solche Angst davor hat, dort hinunter zu gehen. Sie gruselt sich vor den sterilen Seziertischen mit den Abflussrinnen und den langen Schubfächern, wo die Toten aufbewahrt sind.
Vielleicht wünscht sich Schwester Aisha ja heimlich, dass wir zusammen fliehen. Aber seit ich ihr von Anna erzählt habe, hat sie so eine Traurigkeit in ihrem Blick. Sie ist zurückhaltender geworden und schaut mich nicht mehr so lange aus ihren dunklen Augen an.
Ich habe sie gebeten, dass sie mein Tagebuch aus dem Nachtkästchen nimmt, falls mir was passieren sollte, und dass sie es einem Freund von mir überbringt. Einem Journalisten der Zeitschrift Zeitpunkt. Er würde wissen, was damit zu tun ist. »Versprichst du es mir, Aisha?«, habe ich sie gefragt, und sie hat es versprochen. Kann ich ihr vertrauen?
Ich denke, übermorgen wäre ein guter Tag für die Flucht.
(...)
19.11.03, 10.45 Uhr
Sie haben mich erwischt. Ich bin noch bis in die Pathologie gekommen. Dann stieß ich, weil es dunkel war, an eines dieser Gläser auf dem Seziertisch, in dem menschliches Gewebe in Flüssigkeit eingelegt ist. Es hat einen großen Krach gegeben, alles ist auf dem Boden verspritzt worden, und da muss wohl ein Alarm ausgelöst worden sein. Sie haben mich gegriffen, mir eine Spritze in den Oberrarm gerammt und mich an mein Bett gefesselt.
Jetzt sind meine Arme und Beine wieder frei, wohl weil sie wissen, dass ich zu schwach bin, um jemals wieder zu fliehen. »Gell, Herr R., jetzt laufen wir nicht mehr davon«, haben die Wärter mit süffisantem Grinsen zu mir gesagt – in dem Tonfall wie man vielleicht mit debilen Altenheim-Bewohnern redet. Gott sei dank haben sie nicht daran gedacht, mein Tagebuch zu überprüfen. Dies ist vielleicht mein letzter Eintrag, und meine Hände zittern von dem Betäubungsmittel und der verschärften Dosis Dimithylpyrazolon, die sie mir eingeflößt haben, um mich ruhig zu stellen. Ich weiß nicht, ob man diese Krakelschrift noch lesen kann. Ich weiß nur, was ich zu sagen habe, ist in höchstem Maße mitteilenswert und zugleich erschreckend. Ich fürchte, selbst wenn diese Zeilen an die Öffentlichkeit gelangen, wird man mir nicht glauben, so furchtbar ist es, und doch muss ich meine verbleibenden Kräfte nutzen, um es wenigstens zu versuchen.
(...)
19.11.03, 15.50 Uhr
Ich werde nicht mehr lange leben ... Das Dimithylpyrazolon ... Gerade hatte ich ein Büschel Haare in der Hand und auch einer meiner Zähne ist mir ausgefallen. Zwei andere beginnen zu wackeln. Ich will auch nicht mehr leben. Wozu auch? Ich weiß jetzt definitiv, wer mich beim Ärztlichen Bereitschaftsdienst angezeigt hat. Es war nicht die Krankl, wie ich gedacht hatte. Es war Anna. Schwester Aisha hat es für mich im Krankenhauscomputer nachgeschaut. Zuerst dachte ich, Aisha wäre nur eifersüchtig, aber dann hat sie mir den Ausdruck gezeigt. Wahrscheinlich wollte mich Anna los werden, um mit dem jungen Doktor zusammen zu sein, den sie bei der Vorsorgeuntersuchung kennen gelernt hat. Er ist immerhin Arzt, und Ärzte imponierten ihr schon immer.
Arme Aisha! Jetzt, wo ich für sie frei wäre, spürt sie, dass sie mich unwiderruflich verlieren wird. Ein trauriges Paar sind wir zwei! Wir werden nie in Anatolien unter den Olivenbäumen sitzen, den warmen Wind vom Meer in unserer Nase. Draußen vor dem Fenster ist nur eine graue Betonwand mit kleinen quadratischen Fenstern – das Schwesternwohnheim. Der Himmel zugebaut – für immer. Etwas Anderes als diesen Ausblick werde ich in diesem Leben nicht mehr zu Gesicht bekommen.
(...)
19.11.03, 21.30 Uhr
Dr. Sägebrecht hat mir die Wahrheit gesagt, als wir allein waren am frühen Abend, im Krankenzimmer. Wohl weil er dachte, ich wäre nicht mehr in der Lage, es irgendjemandem weiter zu erzählen. Ich habe ihn auf den Kopf zu gefragt, ob es wahr ist, was in den Marquartsfelder Mitschriften steht: dass PRUZ ein von Ärzten gezüchteter Virus ist, der bewusst in Umlauf gebracht wurde, um die Gesundheitskosten in die Höhe zu treiben. Dr. Sägebrecht hat dann nur so in sich hineingelächelt, aber nicht um mich auszulachen. Es war, als ob er mir sagen wollte: »Wenn Sie wüssten ...! Es ist noch viel schlimmer als Sie es sich überhaupt vorstellen können.«
Ich konnte dann mit meiner immer schwächer werdenden Stimme nur noch eine Wort herauspressen: »Warum?«
Dies ist, was Dr. Sägebrecht antwortete. Ich versuche es nach bestem Gewissen und bester Erinnerung aus dem Gedächtnis wiederzugeben:
»Die Bettenbelegung ist in den letzten Monaten kontinuierlich zurückgegangen. Fälle von wilder Selbstmedikation, das verantwortungslose Treiben von Naturmedizin-Dealern, die grassierende Präventionsmentalität in der Bevölkerung. Eine Schwemme von Ratgeber-Büchern und Zeitschriften, die den Leute einredeten, dass sie sich ganz ohne Ärzte gesund erhalten können ... Unser größter Alptraum schien in greifbare Nähe gerückt: Ein Millionenheer von Bürgern, denen es tatsächlich gut geht. Wir konnten da nicht länger tatenlos zusehen. Die wissen ja gar nicht, was sie anrichten, diese selbst ernannten Gesundheitsapostel. Es hängen doch hunderttausende von Arbeitsplätzen an der Gesundheitsindustrie und am Krankenhausbetrieb dran. Ein Wirtschaftsfaktor ersten Ranges und einer der wenigen mit nahezu unbegrenztem Wachstumspotenzial ... Fernseher- und Gefrierschrankhersteller schreiben schon lange stagnierende Wachstumsraten, weil jeder nur einen Fernseher und einen Gefrierschrank braucht. Bei uns ist das anders: So lange es auch nur einen einzigen gesunden Menschen im Land gibt, besteht noch Wachstumspotenzial. Die Situation ist viel zu ernst, als dass wir den Gesundheitszustand der Bevölkerung länger hätten dem Zufall überlassen können. Ich gehe so weit zu sagen: es besteht unter den gegebenen Umständen sogar eine Pflicht für die Menschen, krank zu sein ...«

Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle bricht das Manuskript ab. Die Schrift wird unleserlich. Wenige Stunden später, gegen Mitternacht, verstarb Rupert R. Laut Totenschein an PRUZ im fortgeschrittenen Stadium.
03. März 2009
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