Auf der Suche nach Finnland
Wie ich 1971 auch in Finnland, vor dem Touristenmainstream flüchtend, das Authentische suchte – und wie es sich anfühlt, wenn es um Mitternacht hell ist. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #30
Warum Finnland? Weil die finnische Fluggesellschaft für 400 Franken ein «Holidayticket» anbot, das während 14 Tagen zu unbeschränkten Flügen innerhalb Finnlands berechtigte. Damit erwies sich die «Finnair» als frühe Vorreiterin der heutigen Billigflüge. 400 Franken waren für einen Gymnasiasten im Jahre 1971 natürlich viel Geld, doch Thomas hatte in einem Ferienjob gut verdient und ich selber, dank meines bei der Swissair tätigen Vaters, erhielt das Ticket vergünstigt.
1971 war noch nicht alles versichert.
Doch bevor wir uns – damals noch ganz unzeitgemäss – als Jugendliche ins Flugzeug setzten, stellten wir uns am ersten Sonntag nach Ferienbeginn nachmittags an die Ausfallstrasse von Zürich nach Basel und streckten den Daumen aus. Wir wollten Finnland autostoppend erreichen – und in Basel, so hatte ich einmal vernommen, gab es einen zentralen Fernfahrerparkplatz. Von dort aus brachen die Trucks am späteren Sonntagabend, wenn das Wochenendfahrverbot für Lastwagen endete, zu ihren Destinationen auf.
In Basel angekommen, begaben wir uns zum Parkplatz der Hoffnung, gingen von Camion zu Camion und fragten die Fahrer nach ihren Zielen und ob wir mitfahren könnten. Autostopper, das wussten wir, waren den Truckern durchaus willkommen. Dann hatten sie während ihrer einsamen Fahrt durch die Nacht etwas Abwechslung und schliefen am Steuer nicht ein.
Heute dürfen Fernfahrer mit Sicherheit keine Tramper mehr mitnehmen, allein schon aus versicherungstechnischen Gründen. Doch 1971 war noch nicht alles versichert, und als wir auf einen Chauffeur aus dem Kanton Schwyz stiessen, der nach Hamburg fuhr und bereit war, uns mitzunehmen, lachte uns das Glück schon gleich zu Beginn. Wir reisten mit ihm durch die Nacht und durch Deutschland, trafen in Hamburg am frühen folgenden Morgen ein – und hatten eine Idee. Vor unserer Weiterreise nach Kopenhagen wollten wir der berühmten Reeperbahn einen Besuch abstatten.
Doch in unserer immer noch jugendlichen Naivität hatten wir nicht vorausgesehen, dass die Hamburger Sündenmeile an einem Montagmorgen um 9 Uhr am Schlafen war. Umsonst hofften wir auf eine Stillung unserer Neugier. Eine Dame aus dem horizontalen Gewerbe war ebensowenig zu beobachten wie ihre männliche Kundschaft, nur der Abfallwagen rumpelte der Strasse entlang, Mülltonne für Mülltonne leerend, und ein Lebensmittelhändler öffnete sein Geschäft. Das sind die Bilder, die mir geblieben sind.
Nachdem wir noch am gleichen Tag ausserhalb von Hamburg an der Autobahneinfahrt in Richtung Dänemark unsere Daumen ausgestreckt hatten, errichten wir autostoppend drei Tage später Stockholm. Über diesen Abschnitt unseres Trips habe ich nirgends etwas notiert, obwohl wir bestimmt schon in Schweden vieles erlebten, worüber ich hätte berichten können.
Heute nun, während ich diese Zeilen hier schreibe, habe ich am Nachmittag eine Trauung, an deren Ende eine ältere Dame auf mich zukommt und freudestrahlend zu mir sagt:
«Sie sind es wirklich! Vor 50 Jahren, als ich mit meinem Mann Schweden bereiste, habe ich Sie und Ihren Reisekollegen mitgenommen. Sie waren per Autostopp unterwegs, und weil Sie ein Schweizerfähnchen am Rucksack hatten, hielten wir an. Dann stellten wir fest, dass wir zuhause im gleichen Dorf wohnten. Ich kannte sogar Ihre Eltern. Deshalb ist mir Ihr Name geblieben. Und jetzt stehen Sie vor mir!»
Im ersten Moment bin ich sprachlos. Ich kann es nicht glauben. Wenige Stunden, nachdem ich mich zu erinnern versuchte, was wir damals in Schweden erlebten, kommt diese Frau zu mir und erzählt mir, sie habe mich seinerzeit mitgenommen, beim Autostoppen in Schweden, vor 50 Jahren. Wenn es noch einen Beweis gebraucht hätte, dass es keine Zufälle gibt, dann habe ich ihn soeben erhalten. Mir kommt das so vor, als hätte ich die Frau aus dem Hut gezaubert. Sie wurde herbeigerufen durch meine Gedanken, die ins Jahr 1971 zurückwanderten.
Ich erzähle ihr, warum ich so überrascht bin. Die Dame teilt meine Verblüffung und fügt hinzu, es sei schon damals ein Zufall gewesen, dass sie in Schweden ausgerechnet jemanden mitnahm, der aus dem gleichen Dorf wie sie stammte. Darauf lobe ich das Trampen per Autostopp als die spannendste Form des Reisens – auch wenn heute niemand mehr Autostopp macht. Auf keine andere Weise lernte man so viele Menschen kennen. Glück und Pech begleiteten uns, und wir landeten meistens nicht genau da, wo wir hinwollten. Doch genau diese Unberechenbarkeit reizte uns.
Mein Reisebericht, den ich für die «Zürichsee-Zeitung» verfasste, beginnt auf der finnischen Insel Aland, die wir von Stockholm aus mit der Fähre erreichten. Auf der Insel gab es damals schon einen Flugplatz, eine blauweisse finnische Flagge hiess uns willkommen und die kleine, blauweiss gestrichene Propellermaschine brachte uns aufs finnische Festland.
Da sich mein Schreibstil in der Zwischenzeit weiterentwickelt hatte, darf ich es wagen, ganze Abschnitte meines Berichts wiederzugeben – leicht bearbeitet. Man möge mir nachsehen, wenn ich da und dort etwas experimentierte und mich in eigenwilligen Sätzen übte. Meine Beschäftigung mit moderner Literatur hinterliess ihre Spuren.
«Im Flugzeug nähern wir uns der finnischen Küste, wo es wimmelt von kleinen und kleinsten Schären, von Inseln, die alle mit Häuschen und Bootsanlegestellen bestückt sind. Jede einzelne ist ein winziges Königreich, das ich gerne regieren würde. Wir landen in Turku, der drittgrössten finnischen Stadt, stellen unser Zelt zwischen hundert andere Zelte, versuchen vergeblich, der internationalen Campingplatzstimmung etwas Finnisches abzugewinnen – und beschliessen, am nächsten Morgen gleich weiterzureisen: nach dem Finnland, das wir uns ausgemalt haben.
Wieder im Flugzeug, gleiten wir über das Land und blicken hinab auf die Seen von Finnland. Es müssen Tausende sein, und später lese ich im Lexikon nach: Es sind sogar weit mehr als 100’000. Sie liegen inmitten von Wäldern wie dunkelblaue Saphire, sie widerspiegeln die Wolkentürme, den Himmel, das Licht, und sie erstrecken sich über Kilometer und so weit unser Auge reicht. Das sind die Bilder, die uns hierher gelockt haben. Die finnische Landkarte, die wir zuhause studierten, hat nicht zuviel versprochen.
Dann entfernt sich Finnland wieder von uns, als wir in Jyväskylä landen und in der Jugendherberge logieren. Die Stadt ist modern und amerikanisch, an jeder Ecke steht eine Eis- oder Würstchenbude – und überall, wohin auch unsere Blicke sich wenden, lachen uns blonde Mädchen mit blauen Augen an.»
Die finnischen jungen Frauen machten mir begreiflicherweise besonderen Eindruck, und ich erklärte sie kurzerhand «zum schönsten Exportprodukt ihrer Heimat». Aber dass auch sie, wie alle Jugendlichen Europas, die neueste Mode und die neuesten Schallplatten konsumierten, störte mich. Ich bezweifelte, ob es sie glücklich machte, den Trends aus dem Ausland blindlings zu folgen. «Die jungen Leute in Finnland», stellte ich fest, «wirken auf mich ein wenig verloren. Sie haben etwas angenommen, für das sie gar nicht bereit sind. Wie Kleiderpuppen kommen mir viele der Mädchen vor. Das Leben der finnischen Jugend wirkt unnatürlich, gestellt.
Echt und unverdorben in Finnland fand ich nur die Natur – die wir noch gar nicht wirklich erlebt hatten. Wie schon in Schottland beklagte ich auch in Finnland den Strom der Touristen, der die Strassen bevölkerte. «Touristen aus ganz Europa mit ihren Kleinbussen, Wohnwagen, Zeltplanen, Abfällen, Flaggen und Wimpeln – und Schweizer, immer wieder Schweizer mit Schweizerkreuzen, die alle ans Nordkap wollen und überall unterwegs, unüberhörbar ihr Schweizerdeutsch reden, das wir doch eigentlich gar nicht hören wollen, obwohl es uns so vertraut ist.
Ein Beispiel: Rovaniemi am Polarkreis, vollständig zerstört im Krieg, heute eine aufstrebende neue Kleinstadt in der alten, unzerstörbaren Landschaft, Rovaniemi um Mitternacht, bei Mitternachtssonne unwirklich hell. Drei Tramper kommen uns entgegen, auch sie wie wir auf der Suche nach einem Schlafplatz – und wir alle sind Schweizer: Eine mutige Zürcherin, die allein bis zum Nordkap will, zwei Regensdorfer, Thomas und ich.
Ein deutscher Tramper hat uns zu einem abbruchreifen, von einer Kommune bewohnten Haus geführt. Seine Bewohner nennen es das «House of the morning dew», das Morgentauhaus. Es steht am Ufer des Flusses Kemijoki, und als ich zum Fenster hinaus auf den Fluss blicke, sehe ich da draussen die Baumstämme, die in lautloser, endloser Folge mit der Strömung gen Süden ziehen. Wie wir haben auch sie kein festes Ziel, sie lassen sich treiben. Ich vergesse alles um mich herum und empfinde Finnland, nicht zum ersten Mal, als ein unglaublich friedliches Land.
Auf dem Dachboden, etwas später, breiten fünf Schweizer ihre Schlafsäcke aus, zünden eine Kerze an, improvisieren eine Raclette und feiern schon am 22. Juli insgeheim den schönsten 1. August, den sie jemals erlebt haben. Und gemeinsam stellen wir fest, weshalb wir ins Ausland gehen: Um uns auf unsere Heimat wieder freuen zu können. Mitten in Lappland wird uns bewusst, dass die Schweiz, auch wenn wir vieles an ihr kritisieren, ein wunderbares Vaterland ist.
Von Rovaniemi wollten wir weiterreisen, mit dem Flugzeug bis Ivalo und dann mit Autostopp bis ans Nordkap. Das war eigentlich unser Ziel – doch dann erzählten uns andere Tramper, wie schwierig es war, die 300 km Distanz bis zum nördlichsten Punkt zu bewältigen. Die Strecke werde nur von Touristen befahren, und Touristen nahmen Autostoppende selten mit. Wir beschlossen deshalb in Ivalo, das immerhin schon auf der Höhe von Grönland liegt, noch am selben Tag wieder südwärts zu fliegen.»
Nie mehr seither bin ich dem Nordkap so nahe gewesen. Habe ich etwas verpasst? Ich könnte die Reise nachholen, das denke ich oft beim Lesen meiner Zeilen von damals. Ich würde gern noch einmal so weit in den Norden reisen, auch diesmal wieder im Sommer – und noch einmal erleben wollen, wie es sich anfühlt, wenn es um Mitternacht hell ist. Ich sehe immer noch dieses Licht vor mir, diese Mitternachtsonne in Ivalo, soviel Helligkeit strahlte sie aus wie die Sonne bei uns am Nachmittag. Aber ich weiss noch, ich fand diese Helligkeit seltsam. Ich fand sie unwirklich. Es war kein Tageslicht.
Fortsetzung folgt am nächsten Sonntag
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