«Aussenseiter sind die wahre Opposition»
August 1972. Wie ich mir, zurück in der Schweiz, zum ersten Mal einen Notstand herbeiwünschte und wie ich erkannte, dass echte Opposition immer von unten kommt. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» #50 von Nicolas Lindt.
Noch nicht einmal zurück in der Heimat, machte ich mir im Flugzeug Gedanken darüber, was Elias und mich auf die irische Insel gezogen hatte:
«Wir wollten der schweizerischen Sattheit und Selbstzufriedenheit entrinnen, wir wollten die Erfahrung einer echten Friedlichkeit mit unserem schweizerischen verschlafenen Frieden vergleichen, wir wollten mit Menschen zusammenkommen, die gelernt haben, in Risiko und Notstand zu leben, und wir haben erkannt, dass die jungen Nordiren mündiger sind als wir jungen Schweizer, dass sie bewusster im Alltag stehen als wir in unserem abgesicherten Wohlstand, den wir kaum mehr wahrnehmen, den wir hinnehmen, bis uns eines Tages eine Krisensituation überraschen und wachrütteln wird.»
Bis uns eine Krisensituation wachrütteln wird – zum ersten Mal spreche ich aus, was ich von da an immer wieder empfinden werde: Dass unser Land in seiner Selbstzufriedenheit, die auch zu Selbstgerechtigkeit werden kann, eines Tages unsanft erwachen werde. Ich war überzeugt, dass uns nur eine von Aussen kommende Notlage zwingen konnte, die Augen zu öffnen. Wie sich in den folgenden Jahren erweisen sollte, war es nicht das letzte Mal, dass ich so etwas dachte und der Schweiz geradezu wünschte. Doch der Achtzehnjährige konnte nicht ahnen, dass fast 50 Jahre vergehen mussten, bis die von mir erhoffte Ausnahmesituation eintrat: Corona war der Impuls, der viele Menschen erwachen liess. Corona hat uns die Augen geöffnet, was auf der Welt vor sich geht und wie ernsthaft die Schweiz in ihrer Autonomie bedroht ist, wenn wir nicht für sie einstehen.
Wenige Tage später, am Nationalfeiertag, doppelte ich ein meinem Tagebuch nach: «Ich ging am Abend hinaus, sah die aufblitzenden Lichter am Himmel, hörte die Knallerei von überall her. Es ist 1. August, und die Schweizer spielen einmal mehr mit dem Feuer. Wie lächerlich ist das alles, nach der Erfahrung Nordirland, wo das Feuer brennt und aus der Spielerei ernst wurde. Die Schweiz ist zu einer einzigen Spielzeugabteilung geworden – wir sind die Kunden, und die Behörden und Unternehmer sind die Verkäufer. Wie gut täte der Schweiz ein Ernstfall, wie ihn sich die Armee so schön vorstellt, eine Notlage, die den Einzelnen zwingen würde, Partei zu ergreifen und umzudenken. Die Schweizer wollen den Schock, sonst würden sie nicht jedes Jahr mit dem Feuer spielen.»
*
Nachdem ich beim Tages-Anzeiger meine «Notizen einer Nordirland-Reise» vorbeigebracht hatte, musste auch die brave Zürichsee-Zeitung dran glauben. Ich hatte in Irland die Autobiografie der Sozialistin und katholischen Republikanerin Bernadette Devlin gelesen, die als eine Vertreterin Nordirlands überraschend ins britische Parlament gewählt worden war. Nun schlug ich der Zürichsee-Zeitung eine Besprechung des Buches vor, das den täuschend harmlosen Titel «The Price of my soul» trug. Ich aber benützte die Buchrezension, um den Lesern am See meine Überzeugung näherzubringen, dass nur der Sozialismus das Nordirland-Problem lösen könne. Niemand war vor mir sicher, wenn ich eine neue Erkenntnis gewonnen hatte. Dann tat ich alles, um die Welt damit zu beglücken.
In den gleichen Tagen raffte ich mich dazu auf, mich auf die mündlichen Prüfungen vorzubereiten. Es war das letzte Gefecht, was die Schule betraf, und ich wollte es nicht verlieren. Dennoch blieb mir im Tagebuch Zeit für eine erste grosse Abrechnung mit der «Leistungsgesellschaft». Nach der Rückkehr aus Irland war ich so richtig in Stimmung für kämpferische, revolutionäre Gedanken.
Etwas unerwartet begann ich meine Kampfansage mit Adolf Muschg, ein damals schon vielgelesener Schweizer Autor, der in einem längeren Text den Prozess gegen einen Dienstverweigerer schilderte. Militärdienstverweigerung war damals noch strafbar und wurde mit Gefängnis bis zu einem Jahr sanktioniert. Ich schrieb: «Der junge Angeklagte, wie Muschg ihn erlebte, war offenbar alles andere als ein intellektueller, wortgewandter und von seiner Einstellung überzeugter Dienstverweigerer. Er geht keiner geregelten Arbeit nach, lässt sich vom Leben treiben, kommt ohne klare Motivierung an den Prozess – will einfach nicht in den WK und schert sich einen Deut um das hohe Gericht. Man ist fassungslos. Jetzt haben sich doch die Richter in ihrem Verhalten mindestens so weit gemildert, dass sie Verweigerer mit Verständnis und Anstand behandeln, ihnen gut zuhören und ihre Motive ernst nehmen – und da steht nun dieser Verweigerer vor den Richtern, der ihr Entgegenkommen mit ungehobeltem Auftreten und Gleichgültigkeit belohnt. Nicht einmal über die Gründe für seine Verweigerung scheint er sich Gedanken zu machen. Da hört alles auf – der Mann bekommt klare sechs Monate und und darf nächstes Jahr aufgrund seiner offensichtlichen Unreife gleich noch einmal antreten.»
«Adolf Muschg» – so schrieb ich weiter – «hat mit der Beschreibung dieses im Grunde ‹uninteressanten› Prozesses zwei völlig verschiedene Welten gezeichnet: die geistig hochstehende, leistungsbewusste und als aufgeklärt geltende Lebenseinstellung des Richters – und auf der anderen Seite die unmotivierte, primitive und scheinbar sinnlose Existenz des jungen Gammlers. Zwei Welten, zwei Haltungen, die sich unmöglich verstehen können. Als respektabel gilt nur die Welt des Richters, weil es die Welt unserer Gesellschaft ist. Er steht stellvertretend für all jene Mitbürger, die redlich leben und arbeiten, sich nichts zuschulden kommen lassen und in unserer Leistungsgesellschaft ihren festen Platz haben.»
Was schloss ich daraus? «Konsequente Aussenseiter wie der junge Angeklagte werden in unserer Gesellschaft nicht akzeptiert. Aber sie sind die wahre Opposition. Der asoziale Szenentyp, der sich irgendwie durchschlägt – er lebt, wie er will, während der linke Intellektuelle nur denkt, wie er will. Der überzeugte Marxist gehört zur gesellschaftsfähigen Opposition – aber nur, solange er die Gesetze der Leistungsgesellschaft im Alltag befolgt. Und der Medizinstudent, der den Dienst zwar verweigert, erfährt eine schonungsvolle Behandlung, solange er sein Studium ordentlich fortsetzt und danach als Arzt der Gesellschaft dient.»
«Unser System verbietet Opposition im Alltagsleben. Toleriert wird eine Schrift für das Gratistram – nicht toleriert wird das Tramfahren selbst ohne Fahrschein. Toleriert werden Bücher, die den Konsum von Drogen verherrlichen – verboten wird der Drogenkonsum selbst. Toleriert wird die gewaltlose Demonstration gegen den Abbruch eines Wohnhauses. Verboten wird die Besetzung des Hauses. Toleriert werden Flugblätter gegen Waffenexporte - während Militärdienstverweigerung hart bestraft wird. Echte, praktische Opposition ist immer illegal.»
Obwohl mich die Idee des Sozialismus als Alternative zur herrschenden Ordnung immer mehr überzeugte, war die legale linke Opposition nicht der Weg, dem ich folgen wollte. Die Veränderung musste von unten kommen, das fühlte ich instinktiv, aus einem Bereich, den die Gesellschaft nicht unter Kontrolle hatte.
«Die Leistungsgesellschaft wird ein Ende haben, denn sie zerstört sich selbst. Es wird zu staatlichen diktatorischen Massnahmen kommen, zu Restriktionen von oben – während die Gesellschaft von unten her immer mehr ausgehöhlt und zersetzt wird.»
«Hier liegt die Aufgabe der Subkultur. Ich sehe in ihr unsere einzige Chance. Wir müssen uns am Rande der Gesellschaft organisieren. Was können wir tun? – Nur noch soviel arbeiten, damit es gerade zum Leben reicht. Weniger konsumieren. Einander helfen. Alternativen schaffen auf allen Ebenen: Alternative Schulen. Alternative Läden. Alternative Kultur. Überleben werden wir nur, wenn wir uns von der bestehenden Zivilisation immer unabhängiger machen. Doch der Tag wird kommen, wo uns die Gesellschaft nachfolgt.»
Die Subkultur oder Gegenkultur, die aus der 68er-Bewegung heraus entstand, war meine Hoffnung. Ich hatte sie zuerst in der neuen Musik entdeckt und danach in der Literatur. Durch unsere literarische Zeitung, das «manuskript», waren wir selber zu einem Teil der Gegenkultur geworden. Doch nun erlebte ich mit, wie sich die neuen, wild wuchernden Impulse von unten in alle gesellschaftlichen Bereiche verbreiteten. In meinem jugendlichen Idealismus – der nur die Träume besitzt, aber nicht die Erfahrung – war ich davon überzeugt, die Subkultur würde sich nun immer mehr und mehr ausdehnen, bis das innerlich kranke, kaputte System sich auflösen würde. Eine neue, befreite Gesellschaft würde dann wie ein Phönix aus der Asche aufsteigen.
Was ich nicht wissen konnte: Wie stark die Selbstheilungskräfte einer Gesellschaft sind. Anstatt zusammenzubrechen, entwickelte sich der Kapitalismus erfolgreich weiter. Die Impulse von unten halfen ihm, sich zu verjüngen, und die Subkultur wurde zur neuen Kultur – gesellschaftlich anerkannt und legalisiert.
Inzwischen jedoch, ein halbes Jahrhundert später, scheint sich das Blatt zu wenden. Die westliche «Leistungsgesellschaft» hat sich in einer Krise hineinmanövriert, aus der sie nicht unverwundet herausfinden wird. Die staatliche Allmacht verhindert die Selbstheilung. Die moralische Dekadenz bedroht unseren Wohlstand und unser Zusammenleben. Gleichzeitig aber hat der Angriff der Herrschenden auf die Freiheit des Menschen in der Corona-Zeit eine neue Bewegung entstehen lassen – und mit ihr eine neue Subkultur. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Was ich mir damals so schwärmerisch überlegte, war instinktiv richtig. Die Veränderung kommt von unten.
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Noch ein Satz in meinem Text fällt mir auf: «Wir brauchen Menschen, die so leben, wie sie denken. Freie und glückliche Menschen sind umweltbewusste Menschen.»
Zum ersten Mal verwendete ich das Wort «umweltbewusst», obwohl es 1972 noch weit und breit keine Umweltbewegung gab. Aber es gab den «Club of Rome», eine Vereinigung von Wissenschaftlern, die erstmals ihre Besorgnis über die Plünderung unseres Planeten zum Ausdruck brachten. Und es gab in der Schweiz ein Aktionskomitee gegen ein geplantes Atomkraftwerk in Kaiseraugst. Darüber muss ich gelesen haben, und ich begriff, dass nicht nur die Menschen auf diesem Planeten zählen, sondern auch die Natur, und dass wir uns dieser Umwelt bewusst sein müssen: «Nur dann haben wir eine Zukunftschance.»
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Mein programmatischer Text, den ich an einem Sommerabend Ende August wie immer mit flüchtiger Handschrift ins Tagebuch schrieb, war eine kleine Erleuchtung für mich. Und er lässt sich zusammenfassen in diesem einen Satz, den ich notierte: «Wir brauchen Menschen, die so leben, wie sie denken.» Ja, ich wollte denken, ganz viel denken und nachdenken, über alles. Aber ich wollte kein Theoretiker sein.
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