Bist du ein Mont’isolani?

Ich übernachte auf einer Insel und erlebe ein weiteres Mal, warum ich Inseln so liebe. Und warum wir sie brauchen. Die Kolumne aus de Podcast «Fünf Minuten».

Monte Isola
Auf Monte Isola, mitten im italienischen Lago d’Iseo wohnen 1 800 Menschen. Sie nennen sich «Mont’isolani». (Bild: www.italien.de)

Auf der Heimfahrt von Italien nahmen wir eine andere Route. Wir fuhren nicht über endlose Autobahnkilometer bis Mailand, sondern verliessen die A4 auf der Höhe von Brescia, erreichten den Lago d’Iseo und reisten am anderen Morgen dem See entlang und über den Passo di Aprica ins Veltlin, wo hinter Tirano bereits das Puschlav beginnt.

Am Lago d’Iseo angekommen, beschliessen wir, in einem der Dörfer zu übernachten. Wir suchen im Netz nach einem Hotel und entdecken ein ehemaliges Kloster in einem Dorf, das Monte Isola heisst. Wir suchen den Ort auf der Karte – und finden kein Dorf, dafür eine Insel.

Tatsächlich gibt es mitten im Lago d’Iseo eine Insel. Es reizt uns, dort die Nacht zu verbringen. Wir buchen ein Zimmer und erreichen am frühen Abend Sulzano, wo die Fähre nach Monte Isola ablegt. Bereits setzt die Dämmerung ein, dunkle Wolken hängen über dem Wasser – doch unübersehbar erhebt sie sich aus der Mitte des Sees, gewaltig und voller Geheimnis: die Insel.

Drüben ist ein Dorf zu erkennen, und jetzt, wo das Schiff losfährt, kommen die Häuser, die Kirche und die Boote am Ufer rasch näher. Nur fünf Minuten dauert die Überfahrt. Der dichte Fahrplan der Fähre weist darauf hin, dass Monte Isola gut besucht ist. An schönen Tagen, vernehmen wir, strömen die Fremden zu Hunderten auf die Insel. Doch die Passagiere, die jetzt nach Monte Isola fahren, sind Einheimische. Sie begrüssen sich so selbstverständlich wie alte Bekannte. Vermutlich sind sie auf der Insel schon aufgewachsen. Jetzt arbeiten sie auf dem Festland – doch abends kehren sie heim.

Als wir uns der Schiffsstation nähern, erkennen wir erst, wie steil Monte Isola aus der Seeoberfläche emporragt. 450 Meter wächst der bewaldete Hügelzug in die Höhe. Er ist der älteste und mächtigste Inselbewohner und er wacht über die Insel mit grosser Autorität. 

Etwas später, nach unserer Ankunft, erfahren wir, dass auf Monte Isola 1 800 Menschen leben. Sie verteilen sich auf mehrere Dörfchen, und als wir die Verkäuferin im Spezialitätengeschäft fragen, wieviele der Inselbewohner sie kennt, antwortet sie, dass sie jeden kennt. Alle kennen hier alle. Ihre Insel gehört wie der ganze See zur Provinz Brescia, und Brescia gehört zu Italien. Doch die Menschen von Monte Isola fühlen sich in erster Linie als Angehörige ihrer Insel. Sie nennen sich «Mont’isolani». 

Weil das andere Ufer so nahe ist, begeben sich die Mont’isolani für den Wocheneinkauf aufs Festland, wo auch ihre Autos parkiert sind. Denn auf Monte Isola selbst gibt es keinen Autoverkehr. Neben dem öffentlichen Bus dürfen nur Lieferwagen auf den Strässchen der Insel verkehren. Privat sind die Inselbewohner auf Rollern, mit dem Fahrrad und zu Fuss unterwegs. 

Trotzdem steht die Zeit auf der Insel nicht still. Es gibt Kindergärten und eine Schule, medizinische Ambulatorien und sogar eine Zahnarztpraxis. Viele Mont’isolani finden ihr Auskommen auf Monte Isola selbst. Sie sind als Handwerker und Gewerbetreibende tätig, sie arbeiten in den Restaurants und Hotels, und sie betreiben Landwirtschaft. Die Insel könnte sich sogar selber versorgen. Einheimische kultivieren Oliven, Obst, Honig und Wein, sie verarbeiten Milch zu Käse und fahren als Fischer hinaus auf den See. Getrocknete Sardinen sind eine Spezialität auf Monte Isola. Die Inselbewohner stellen auch Netze her, seit Generationen, Fischernetze und Einkaufsnetze, und alle ihre Produkte verkaufen sie an die Fremden, die es magisch auf diese Insel zieht. 

So magisch wie mich.

Wir halten uns nur eine Nacht auf Monte Isola auf, doch diese wenigen Stunden genügen, dass mich die Insel in ihren Bann schlägt. Was ist es, das den Wunsch in mir wachruft, noch heute ein Mont’isolani zu werden? Was löst sie aus, diese Insel? 

Nicht ihre Schönheit ist es vor allem. Nicht ihr stolzer, markanter Berg und nicht ihre pittoreske Erscheinung inmitten des Lago d'Iseo. Malerische, wildromantische Landschaften, atemberaubende Panoramen, tiefblaue Seen, verträumte Dörfchen, die alte Kirche: All das finde ich überall. Dafür muss ich nicht das Fährboot besteigen, um nach Monte Isola überzusetzen. Was mich packt und nicht loslässt, ist etwas anderes. 

Monte Isola ist eine Insel. Sie ist auf allen Seiten vom Wasser begrenzt. Der See trennt die Insel von der sie umgebenden Welt, doch er schützt sie auch vor der Welt. Eine Insel ist eine Welt für sich.

Natürlich reicht der lange Arm des Staates auch hinüber nach Monte Isola. Seine Gesetze gelten auch dort. Doch der Aufwand, eine Insel zu überwachen und Verstösse gegen die staatliche Ordnung zu ahnden, ist grösser als auf dem Festland. Die Beamten brauchen ein Schiff, denn zwischen dem Staat und der Insel liegt eine Grenze, die Grenze aus Wasser, und das bedeutet: Die Menschen auf einer Insel sind freier. 

Freiheit beginnt schon mit dem Gefühl, frei zu sein. Inselbewohner erleben auf ihrer Insel eine Autonomie, welche die Menschen jenseits des Wassers schon gar nicht mehr kennen. Inselbewohner bilden eine Gemeinschaft, die stärker ist als die Gemeinschaft in einem Dorf auf dem Festland. In stürmischen Zeiten sind sie sogar eine Schicksalsgemeinschaft. Auch die Mont’isolani, erfahren wir, kennen Tage, an denen die Wasser so aufgepeitscht sind, dass jeder Schiffsverkehr eingestellt wird. Abgeschnitten von der übrigen Welt, wird ihnen wieder bewusst, wie sehr der Mensch für sich selber verantwortlich ist. 

Mit einer Insel draussen im offenen Meer, weit entfernt von der Küste, ist Monte Isola nicht vergleichbar. Aber auch sie kann uns vermitteln, was eine Insel ist und was sie für uns, für die Festlandmenschen bedeutet. Sie ist ein Sehnsuchtsort. So möchte ich leben. Unabhängig vom Rest der Welt. In einem Hoheitsgebiet, das die Menschen umgibt wie ein grosser überschaubarer Park. In einem freundlichen Inselreich mit selbstgewählten Gesetzen und lebendigen Traditionen. In einem Auenland, wo man sich kennt und schätzt und manchmal auch braucht. So möchte ich leben. Auf einer Insel mit einer Schiffsstation für den Weg in die Welt, einer zweiten Station für den Güterverkehr mit der Welt und einer dritten Anlegestelle für die, die zurückkommen möchten. Auch auf Monte Isola hat es drei Schiffsstationen. So möchte ich leben. Auf einer Insel mit einem Berg, von dessen Anhöhe aus der Blick in die Weite und des Nachts zu den Sternen schweift. Auf einer Insel, in der ein guter Geist waltet, der in manchen Momenten so fühlbar wird, als ob es ihn wirklich gäbe.

Das Bild der Insel, wie es mir auf Monte Isola klarer denn je ins Bewusstsein drang, ist die Zukunft, die ich mir wünsche. Ich wünsche mir eine Welt, die aus Inseln besteht, aus sich selber regierenden, sich selber genügenden Inseln, die in gleichberechtigtem Austausch und friedlicher Koexistenz mit ihren Nachbarn verkehren, stets respektierend die Wasser dazwischen, die zugleich Verbindung und Grenze sind. Ich wünsche mir ein Europa aus Inseln, ich wünsche mir Inseln überall dort, wo Staaten streiten um Territorien, ich wünsche mir eine Insel für Palästina und eine Insel für Israel. 

Wir fahren zurück ans Festland, und ich wende mich noch einmal um, sehe die sich entfernenden Häuser und frage mich, ob ich Monte Isola jemals wieder besuchen werde. Möglicherweise nie mehr, aber das macht nichts. Denn das Bild dieser Insel ist ein inneres Bild, und wo immer ich bin, treffe ich Menschen, die dasselbe Bild in sich tragen. Dann weiss ich wieder: Es gibt viele Mont’isolani wie ich, und wir alle träumen den gleichen Traum.


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