«Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht»
Der 25. November ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Warum braucht es diesen Tag? Woher kommt der Frauenhass? Und wie überwinden wir geschlechtsspezifische Gewalt? Dazu befragte ich Monique Wilson, Kampagnenleiterin von «One Billion Rising»*.
Im Juni vergangen Jahres erschiesst der Türke Esref A. seine 38-jährige Frau Yemen vor ihrem Haus in der zentralanatolischen Stadt Aksaray. Zuvor hatten Gerichte ihn viermal aufgefordert, von seiner Frau Abstand zu halten. Er hatte sie im Zuge eines Scheidungsverfahrens wiederholt belästigt. Yemen ist eine von über 80.000 Frauen und Mädchen, die pro Jahr weltweit getötet werden – nur weil sie weiblich sind. Mehr als die Hälfte von ihnen, rund 47.000 Frauen und Mädchen, wurde 2020 von ihrem Intimpartner oder einem Familienmitglied wie zum Beispiel Vater, Mutter, Bruder oder Cousin ermordet. Damit starb rechnerisch weltweit alle 11 Minuten eine Frau oder ein Mädchen durch die Hand eines nahen Angehörigen. Für viele Frauen ist das Zuhause der gefährlichste Ort.
Aktionstermine zum 25. November und den 16 Tagen bis zum Welttag der Menschenrechte am 10. Dezember:
Schweiz: 16 Tage www.16tage.ch
Deutschland: Z. B. die Fahnenaktion von Terre des Femmes www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/aktionen/fahnenaktion
In diesem Jahr geht es beim «Orange Day» am 25. November vor allem um häusliche Gewalt. Unter dem Hashtag #TrautesHeimLeidAllein beschreibt die Organisation Terre des Femmes auf ihrer Webseite die vielen Aspekte häuslicher Gewalt – und die Situation von Frauen, die ihre gewalttätigen Partner aus finanzieller oder emotionaler Abhängigkeit heraus nicht verlassen können. Femizid – Mord an Frauen, nur weil sie Frauen sind – ist die äusserste Form sexueller Gewalt. Hinzu kommen alle anderen Formen: belästigen, verprügeln, einschüchtern, beschneiden, foltern, einsperren, benachteiligen, beherrschen. Auch Männer sind von häuslicher Gewalt betroffen – diese wirkt dann oft subtiler, beschämender, verschwiegener. Nicht immer sind Frauen Opfer und Männer Täter. Aber sehr oft.
Die Istanbul-Konvention und ihre Umsetzung in Deutschland und der Schweiz
Am 11. Mai 2011 verabschiedete der Europarat in Istanbul ein Übereinkommen zur «Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt». Es wurde als Istanbul-Konvention bekannt und bietet erstmals eine international anerkannte, einheitliche Definition von häuslicher Gewalt: Darunter verstehen wir alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb von Familie, Haushalt und/oder ehemaliger oder derzeitiger Partnerschaft vorkommen.
Im Februar 2018 trat die Istanbul-Konvention in Deutschland in Kraft, im April 2018 in der Schweiz. Die GREVIO (Expertengruppe zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) bestätigte kürzlich beiden Staaten einen immer noch mangelhaften Schutz vor sexualisierter Gewalt.
In Deutschland mahnte der deutsche Bundesjustizminister Marco Buschmann im Juli: «Jeden Tag erfahren Frauen Gewalt durch Männer - einfach nur, weil sie frei und selbstbestimmt leben wollen. Jeden Tag werden Frauen verletzt, traumatisiert oder sogar getötet - weil sie sich männlichem Herrschaftswahn widersetzen. Auch in unserem Land ist das Ausmass frauenfeindlicher Gewalt erschütternd.» Daher solle Paragraf 46 des Strafgesetzbuchs, der die Grundlage der Strafzumessung definiert, ergänzt werden. Handelt ein Täter etwa aus rassistischen oder antisemitischen Motiven, wirkt das schon jetzt strafverschärfend. Laut Buschmanns Gesetzentwurf soll der Paragraf um «geschlechtsspezifische» und «gegen die sexuelle Orientierung gerichtete» Beweggründe ergänzt werden. Das hatten SPD, Grüne und FDP im vergangenen Jahr im Koalitionsvertrag vereinbart.
Ein freies Leben ohne sexuelle Gewalt – wie erreichen wir dieses Ziel? Wie überwinden wir Geschlechterhass? Das kann nur von Frauen und Männern gemeinsam erreicht werden, glaubt Monique Wilson. Die Philippinerin ist weltweite Kampagnenleiterin von «One Billion Rising»*, eine der grössten Bewegungen gegen Gewalt an Frauen und Mädchen. Ich möchte von ihr wissen, ob sie überhaupt noch Männer mag.
«Wir erhalten täglich Berichte von Vergewaltigungen, oft schreckliche Geschichten. Vor diesem Hintergrund hatte ich irgendwann begonnen, den Männern für alles Schlechte, das passiert, die Schuld zu geben. Ich wollte keinen Kontakt mit ihnen und führte Freundschaften und Beziehungen nur mit Frauen. Doch vor einer Weile habe ich das Herz und die Güte von Männern neu entdeckt. Seitdem lade ich viel aktiver auch Männer in unsere Bewegung ein. Sobald sie merkten, dass wir sie wirklich einladen wollten, sagten sie: `Natürlich lieben wir unsere Mütter, unsere Frauen, unsere Töchter, und natürlich wollen wir sie schützen und unterstützen.´»
Monique hat zu viel Gewalt gesehen, als dass sie sie als privates Problem begreift. Sexualisierte Gewalt ist Ventil und Symptom einer Gesellschaft im Geschlechterkrieg – des Patriarchats. Patriarchale Gesellschaften bedeuten nicht in erster Linie Männerherrschaft – sondern Herrschaft der Gewalt. Strukturelle, institutionalisierte Gewalt durchzieht alle Bereiche, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Familien und Partnerschaften im Patriarchat. Im Kern steht Ungleichheit, Entfremdung und Entfremdung zwischen den Geschlechtern.
«Im Hintergrund der Gewalt gegen Frauen steht die weibliche Sexualität und die Angst der Männer davor. Aber Selbstbestimmung in der Sexualität ist ein Menschenrecht. Es ist das Recht jeder Frau, Lust und Freude zu erleben. Es ist ihr Recht, in ihrem Körper frei zu sein, ohne Angst vor Verfolgung oder Verletzung. Frauen mussten von klein auf lernen, sich zu schämen, sich zu verschleiern, ihren Körper an äussere Normen anzupassen – also nicht zu viel zu essen, nach aussen immer freundlich zu lächeln, ihre Wut zu unterdrücken. Auch das sind Aspekte von Gewalt. Wir haben sie im Laufe der Jahrhunderte in all unseren Kulturen und politischen Institutionen aufgenommen. Aber sie sind nicht angeboren, sondern anerzogen.»
Monique berichtet von der vor-patriarchalen, indigenen Kultur der Philippinen. «Es gab darin weibliche Schamanen und Führerinnen. Sie hiessen Babaylan. Eine Babaylan war eine Priesterin. Sie war aber auch Kriegerin, Heilerin, Erzieherin und Künstlerin, und sie leistete gegen die spanischen Kolonisatoren Widerstand. Die Kolonisatoren zerstörten den Ruf der Babaylan, nannten sie Hexen, verfolgten und töteten sie.»
Erinnerungen wie diese tauchen auch in anderen Kulturen wieder auf, beobachtet Monique Wilson. Sie betrachtet es als heilende Kraftaneignung von Frauen. «Ich glaube nicht, dass wir Erfolg mit der Beendigung von Gewalt haben werden, ohne unsere Sexualität zu heilen. Auch unseren Kampf für die Umwelt und die Erde können wir nicht von dem Kampf für die Befreiung der Sexualität trennen. Frauen werden auf die gleiche aggressive Weise vergewaltigt und verletzt wie die Erde. Das System beherrscht und kontrolliert die Frauen in gleichem Mass, wie es die Erde beherrscht.»
Nach 20 Jahren Erfahrung als Aktivistin sieht sie, dass das Patriarchat vor allem zwei Dinge getan hat: «Erstens hat es den Mann seinem Herzen entfremdet. Die grosse Aufgabe der Männer ist es heute, sich wieder mit ihrem Herzen zu verbinden, damit sie Mitgefühl und Liebe empfinden können. Zweitens hat es die ursprüngliche Einheit der Frauen gespalten. So wie es Nationen und Kulturen spaltete, so hat es auch Frauen gegeneinander aufgebracht. Es hat Frauen das Paradigma des Kapitalismus übergestülpt und sie gelehrt, miteinander zu konkurrieren. Anstatt untereinander zu konkurrieren und uns gegenseitig zu verurteilen, müssen wir Frauen uns wieder zusammenschliessen. Die Überwindung der Trennung kann schmerzhaft sein, weil wir darüber nachdenken müssen, was uns ursprünglich getrennt hat. Manchmal sind das sehr persönliche Dinge wie Eifersucht. Wenn eine Frau unter uns von ihren Verletzungen aufersteht, ist es die Auferstehung von uns allen. Diese Solidarität brauchen wir. Auch mit den Männern.»
Dazu einige Videos
From Men to Women:
From Women to Men:
Dieses Video macht auf die Gewaltsprache in deutscher Rap-Musik aufmerksam:
*Was ist One Billion Rising?
Eine von drei Frauen auf der Welt wird im Laufe ihres Lebens geschlagen oder vergewaltigt. Das ist EINE MILLIARDEN FRAUEN UND MÄDCHEN. Jedes Jahr im Februar erheben wir uns - in Ländern auf der ganzen Welt - um unseren lokalen Gemeinschaften und der Welt zu zeigen, wie eine Milliarde aussieht, und um ein Licht auf die weit verbreitete Straflosigkeit und Ungerechtigkeit zu werfen, mit der Überlebende am häufigsten konfrontiert sind. Wir erheben uns durch Tanz, um Freude und Gemeinschaft auszudrücken und die Tatsache zu feiern, dass wir von dieser Gewalt nicht besiegt worden sind. Wir erheben uns, um zu zeigen, dass wir entschlossen sind, eine neue Art von Bewusstsein zu schaffen - eines, in dem der Gewalt so lange widerstanden wird, bis sie undenkbar ist. One Billion Rising ist die grösste Massenaktion zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen (cisgender, transgender und diejenigen, die fliessende Identitäten haben, die geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind) in der Geschichte der Menschheit.
von:
Kommentare
Sexuelle Gewalt oder gewalttätiger Sex
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Sexuelle Gewalt ?
Danke, ja, ich stimme insofern zu, dass «sexuelle Gewalt» auf keinen Fall harmlos ist und auch nicht verharmlost werden sollte. Ich glaube, hier wird das im Sprachgebrauch einfach aus dem englischen genommen. Sexuell oder sexualisiert meint da nicht, dass es mit Sex zu tun hat, sondern dass es aufgrund des Geschlechtes ist - «Sex» gleich Geschlecht im englischen. Also wenn die Frauen keine Frauen wären, dann wären sie nicht umgebracht worden, denn Männern gesteht man mehr Freiheiten zu.
Aber ich nehme Ihren Kommentar jetzt gerne als Hinweis darauf, Anglizismen nicht mehr einfach zu übernehmen.
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sexuell ist nicht gleich sexualisiert
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