Das Ende am Grand Canyon
Der Filmklassiker «Thelma & Louise» ist auch 30 Jahre danach immer noch aktuell - doch vermittelt er nicht eine falsche Botschaft? Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
«Aus Freundinnen werden Verbündete» (Bild Netzfund)
«Aus Freundinnen werden Verbündete» (Bild Netzfund)

Der vielleicht berühmteste Frauenfilm, den Hollywood je produzierte, hat mich schon damals bewegt. Jetzt sah ich ihn wieder. Und er liess mich auch diesmal nicht unberührt. Die Geschichte erzählt von Thelma und Louise. Louise ist Kellnerin, irgendwo in Amerika. Mit ihrer Freundin Thelma will sie ein Wochenende verbringen, irgendwo in den Bergen, in der Hütte eines Bekannten.

Aber Thelma, die Hausfrau, getraut sich nicht, ihrem Mann davon etwas zu sagen. Sie muss das Wochenende mit Louise heimlich planen. Ihr Haustyrann hätte ihr nicht erlaubt, zwei Tage wegzubleiben. Sie muss jederzeit für ihn da sein, jederzeit für ihn kochen – und nicht nur das.

Louise – ein paar Jahre älter - muss für niemanden kochen. Sie hat einen Freund, der sie liebt, aber Zusammenleben, gemeinsame Zukunft und Haus mit Garten kommt für sie nicht in Frage. Auch mit keinem anderen Mann. Vielleicht deshalb, weil sie früher einmal so verletzt worden ist, dass sie darüber nicht reden will. Mit niemandem. Nicht einmal mit ihrer besten Freundin.

Die beiden Frauen starten ihr Cabrio und lassen die Kleinstadt, in der sie leben, möglichst schnell hinter sich. Sie tauchen ein in die Weite Amerikas und erahnen im Fahrtwind den Duft der Freiheit. Der Film, der ihre Geschichte erzählt, kommt in Bewegung. Irgendwo unterwegs, am späteren Abend betreten sie ein Musiklokal, mischen sich unter das Volk, bestellen Prozentiges und trinken auf ihren Ausflug, der so vielversprechend begonnen hat.

Thelma, von einem netten Mann zum Tanz eingeladen, vergisst ihren Gatten zuhause. Sie vergisst alles, was sie als braves Mädchen gelernt hat. Als der sehr nette Mann draussen auf dem Parkplatz zur Sache kommt, erwacht sie, aber zu spät. Was sie für ein kleines reizvolles Spiel hielt, war für ihn eine kostenlose Offerte. Ihr plötzlicher, überstürzter Rückzug geht über seinen Verstand.

Da taucht Louise auf. Sie sieht die Brutalität des Kerls – ein Bild, das sie kennt und immer noch verdammt weh tut. In ihrer Handtasche befindet sich ein Revolver. Er gehört Thelmas Gatten, doch die Frauen nahmen die Waffe mit. Für alle Fälle. Louise zieht die Waffe, entsichert sie und hält sie dem Mann an den Hals. Als er sie übel beschimpft, drückt sie ab. Sie tötet den Mann.

Von diesem fatalen Augenblick an wird der Ausflug der beiden Frauen zur Flucht. Denn die Gäste im Tanzlokal werden von Thelma sagen: Sie hat es gewollt. Sie hat den Mann heiss gemacht. Louise begreift schnell: Das Gericht wird Notwehr nicht gelten lassen. Sie muss fliehen, wenn sie nicht in den Knast will.

Thelma schliesst sich ihr trotzig an. Sie ist über Nacht erwachsen geworden, und sie würde für Louise durchs Feuer gehen. Aus Freundinnen werden Verbündete. Sie flüchten in Richtung Mexiko. Aber das Pech klebt an den Reifen des Cabrios. Verfolgt von der Polizei, landesweit gesucht, reiten sie sich in immer grössere Schwierigkeiten hinein. Ungewollt werden sie kriminell, und die Moral der Gerechten darf sie nicht mehr entkommen lassen.

Vor einer Schlucht im Staat Arizona endet die Flucht. Das Cabrio ist umzingelt, die Scharfschützen stehen bereit. Einer der Polizisten geht auf das Auto zu, der einzige, der für das Handeln der Frauen Verständnis hat. Er beschwört sie, sich zu ergeben, weil er weiss, dass sie sonst im Kugelhagel des Rechtsstaates sterben werden.

In diesen letzten Minuten des Films, den wir alle kennen, wird es unmöglich, Distanz zu wahren. Man hat mit den beiden Frauen gefiebert, gelitten und dennoch gehofft, sie könnten es schaffen. Man hat sich gewünscht, die letzten Bilder des Films wären Bilder aus Mexiko: Thelma und Louise, glücklich entkommen und dankbar, neu beginnen zu können – in Freiheit.

Doch Mexiko bleibt ein Traum. Die beiden hatten von Anfang keine Chance, und jetzt, am Ende der Hetzjagd, ist auch der letzte Fluchtweg verbaut. Thelma und Louise stehen mit ihrem Cabrio vor dem Abgrund – vor dem berühmtesten Abgrund Amerikas. Der Grand Canyon erstreckt sich vor unseren Augen als grosse Kulisse für die Entscheidung zwischen Leben und Tod.

Würden die Frauen das Auto mit erhobenen Händen verlassen – sie könnten am Leben bleiben. Sie würden gefesselt, verhaftet, verurteilt und müssten wohl eine sehr lange Zeit im Gefängnis verbringen. Doch die Richter könnten dem FBI-Mann, der die Not der Frauen erkannte, Gehör schenken. Sie könnten mildernde Umstände anerkennen und das Strafmass vermindern. Wäre das keine Option?

Ich habe es mir schon gewünscht, als ich den Film zum ersten Mal sah. Ich wünschte mir in diesen finalen Sekunden nichts mehr, als dass sich Thelma und Louise für das Leben entscheiden. Ich wünschte mir, dass sie erkennen, im letzten, allerletzten Moment: Sich zu ergeben, kann auch ein Sieg sein.

Doch die Drehbuchautorin, der Regisseur und der Produzent haben anders entschieden. Sie schickten Thelma und Louise in den Tod. Thelma, noch immer im Rausch der gewonnenen Freiheit, kennt keine Besinnung mehr. Hysterisch, verwildert, kopflos fordert sie Louise, die am Steuer sitzt, dazu auf, in den Abgrund zu rasen. Louise zögert und schaut ihre Freundin ungläubig an. Doch dann fährt sie los.

Jede Feministin durfte sich über das Ende freuen: Lieber wollen die Frauen in Freiheit sterben als gefangen in Knechtschaft, verurteilt und weggesperrt, weiterzuleben. Solidarisch gehen sie in den Tod und vermasseln den Männern, die sie umzingeln, den feigen Triumph.

Doch erst jetzt frage ich mich: Sind es die Frauen, die triumphieren? Ist es nicht so, dass Thelma und Louise vor der männlichen Übermacht kapitulieren? Ist es nicht so, dass sie am Ende verlieren – nichts weniger als ihr Leben verlieren?

«Thelma & Louise» ist eine nach wie vor aktuelle Geschichte. Sie zeigt, dass die Frauen zwar emanzipiert und selbstbewusst sind – während die Welt noch immer von Männern regiert wird.

Aber «Thelma & Louise» ist kein Dokumentarfilm, sondern ein Spielfilm, und die Drehbuchautorin hätte es in der Hand gehabt, zu entscheiden: Ich will nicht, dass es den Männern gelingt, die beiden Flüchtenden in den Tod zu treiben. Ich will sie entkommen lassen. Nach Mexiko.

Das wäre mein feministischer Schluss. Frauen sollen für ihre Freiheit nicht mit dem Tod bezahlen. Sie sollen nicht sterben. Die weibliche Botschaft, von der die Welt lernen kann, ist der Triumph des Lebens.  

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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