Das Prinzip der Verantwortung – Freiheit aus anarchistischer Perspektive

Für Anarchisten ist Freiheit ein zentrales Gut. Was aber nicht heisst, dass jeder das tun kann, was ihm gerade gefällt.

Titelillustration von Enriko Malatestas Buch «Anarchie» von 1909.

Wenn vom Freiheitsverständnis des Anarchismus die Rede ist, denken viele an ein einfaches Motto: «Ich tue, was ich will.» Das Verhalten manch selbsternannter Anarchisten mag zwar einer solchen Auffassung Vorschub leisten, doch wird sie von keinem ernsthaften Anhänger des Anarchismus geteilt. Anarchismus ist nicht moralischer Solipsismus. Anarchismus ist eine Weltanschauung, die Ausbeutung und Unterdrückung beseitigen und allen Menschen die gleichen Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung geben will.

Dieses Ziel hat der Anarchismus mit dem Marxismus gemein, weswegen beide Weltanschauungen Freiheit als gesellschaftliches und nicht primär (oder gar ausschliesslich) als individuelles Prinzip verstehen. Soll heissen: Individuen im bürgerlichen Sinne ihre Freiheitsrechte zuzugestehen, ist gut und schön, bleibt aber auf halbem Wege stehen, wenn es keine gesellschaftliche Grundlage gibt, die allen Menschen erlaubt, diese Rechte auch im gleichen Masse wahrzunehmen. Einfach gesagt: Wer kein Geld hat, um zu reisen, dem nutzt die Reisefreiheit nichts; wer keine ausreichenden Informationen bekommt, dem nutzt die Wahlfreiheit nichts; und wer keine Stimme hat, die gehört wird, dem nutzt die Redefreiheit nichts.


Selten wurde das treffender formuliert als in dem Song «Freedom to Be Poor» der Folkband Fellow Travellers. Die letzte Zeile lautet: «Eine Freiheit, die dir gegeben wird und die du dir nicht nimmst, wird nicht bestehen.» Dies verweist auf eine Unterscheidung, die in der Geschichte der Philosophie immer wieder betont wurde, nämlich die zwischen einer Freiheit von und einer Freiheit zu. Eine Freiheit von Restriktionen reicht nicht aus, um Freiheit wirklich zu erleben; dazu bedarf es auch einer Freiheit zu, also aktiver Selbstbestimmung. Diese kann jedoch nur in einer Gesellschaft sichergestellt werden, in der gleiche und gerechte Voraussetzungen für alle gelten. Wo es keine Gleichheit und Gerechtigkeit gibt, dort kann es auch keine Freiheit geben.


Worin unterscheiden sich nun Anarchismus und Marxismus? Die Antwort ist relativ einfach, auch wenn viele Anarchisten sie in Zeiten des Neoliberalismus nicht gerne hören: Der Anarchismus ist seit jeher von liberalen Ideen ebenso geprägt wie von sozialistischen. Manchmal hat das zu stark individualistischen Tendenzen geführt, die die Probleme der bürgerlichen Gesellschaft nur verschärfen, anstatt sie zu lösen. Der Ökonom Murray Rothbard popularisierte in den 1970er Jahren gar den Begriff des «Anarcho-Kapitalismus», der das Heil der Welt im Abbau politischer Institutionen und dem uneingeschränkten Walten des sogenannten freien Marktes verortete. Zum Glück blieben Paradoxe dieser Art in der Geschichte des Anarchismus Randerscheinungen. Doch Individualismus sowie eine Phobie allem Sozialen, Gesellschaftlichen und Organisatorischen gegenüber plagen die Bewegung seit Anbeginn.
Glücklicherweise wussten weniger konkurrenzfixierte Anarchisten die Botschaft des Liberalismus besser zu deuten: Sie konzentrierten sich auf den berechtigten Widerstand des Individuums gegen das Auferlegen von Zwang. Das beinhaltet auch eine Infragestellung und Kritik politischer Autorität. Macht, so das Argument, korrumpiert und führt zwangsläufig dazu, dass diejenigen, die Macht haben, Zwang auf diejenigen ausüben, die keine haben. Und mehr: Einmal auf den Geschmack gekommen, wollen sie diese Macht nicht mehr abgeben.


Die Anarchisten des späten 19. Jahrhunderts betrachteten dies als psychologische Notwendigkeit bzw. als Prozess, der unweigerlich eintritt, völlig unabhängig davon, wie gut die Intentionen der Machthaber einst gewesen sein mögen. Sie prognostizierten damit das Schicksal der Sowjetunion und anderer staatssozialistischer Experimente. Wie sehr man auch die fehlende analytische und theoretische Tiefe des Anarchismus bekritteln mag (was gerade in marxistischen Kreisen sehr beliebt ist), so kann diese Einsicht dem Anarchismus niemand nehmen. Die Anarchisten hatten mit ihren Prognosen recht, weil sie das Ziel der Freiheit nie aus den Augen verloren. Es kommt nicht von ungefähr, dass die älteste noch existierende anarchistische Zeitschrift, die 1886 in London unter anderem von dem berühmten Anarchisten Peter Kropotkin gegründet wurde, den schlichten Titel Freedom trägt.


In den totalitären Ausformungen des Marxismus wird die gesellschaftliche Freiheit nur noch abstrakt gefasst und für die Einzelnen bedeutungslos. Wenn Menschen davon berichten, wie sie in jungen Jahren ihr Leben aufs Spiel setzten, um den kommunistischen Regimen Osteuropas zu entfliehen, taucht als zentrales Motiv immer wieder die «Sehnsucht nach Freiheit» auf. Nun lässt sich das soziologisch wie philosophisch auseinandernehmen, etwa indem die «Freiheit» im Kapitalismus relativiert oder ein zu individualistisches Freiheitsverständnis beanstandet wird, aber das Freiheitsstreben dieser Menschen als «egoistisch» oder «bürgerlich» zu karikieren, ist unverschämt und zynisch. Dieses Streben bringt vielmehr ein existentielles Grundbedürfnis zum Ausdruck, das in all unseren Gesellschaftskonzeptionen unbedingt zu berücksichtigen ist. Natürlich muss gesellschaftliche Freiheit individuell erfahrbar und lebbar sein, sonst ist sie genauso bedeutungslos wie verbürgte Freiheitsrechte, die aufgrund fehlender materieller Mittel unerfahrbar und unlebbar bleiben. Verlogene und hämische Freiheitsappelle reichen von den propagandistischen Selbstbeweihräucherungen angeblicher «Volksrepubliken» bis zu den stolzierenden «Führern der freien Welt», die ihr abstruses Freiheitsverständnis mit militärischen Interventionen, Masseninhaftierungen und Steuersenkungen für Reiche durchsetzen wollen. Dass der Anarchismus als Synthese von Sozialismus und Liberalismus immer deutlichen Abstand zu beiden dieser gleichermassen falschen Pole gehalten hat, gehört zu seinen grössten Verdiensten.


Wie aber lässt sich Freiheit im Sinne des Anarchismus verwirklichen – also als gesellschaftliche Freiheit, die individuell erfahrbar und lebbar bleibt –, wenn gleichzeitig auf jeden Zwang verzichtet werden soll? Dies ist unmöglich ohne das Prinzip der Verantwortung, das – gängigen Bildern des Anarchismus gänzlich widersprechend – eine grundlegende Bedingung dafür ist, dass Anarchismus funktionieren kann bzw. überhaupt denkbar wird. Ohne Verantwortlichkeit keine Freiheit und vice versa. Wenige haben das prägnanter zusammengefasst als Craig O’Hara in seinem Buch The Philosophy of Punk: «Anarchismus bedeutet nicht, keine Gesetze zu haben. Anarchismus bedeutet, keine Gesetze zu brauchen.»
Wie sich das realpolitisch umsetzen lässt, ist eine schwierige Frage, und vielleicht bleibt die Verwirklichung des Anarchismus in die Bereiche der Utopie und der Science Fiction verbannt. Es ist womöglich bezeichnend, dass sich in diesen Bereichen viele Autoren mit anarchistischen Sympathien tummeln, von Ursula Le Guin bis zu Kim Stanley Robinson. Das heisst jedoch nicht, dass anarchistische Ideen für unser Leben bedeutungslos sind. Sie taugen vorzüglich als moralischer Kompass, legen den Grund für eine solidarische Lebenshaltung und können als Richtlinie in jeder Menge Alltagsentscheidungen dienen: Freiheit als Freiheit für alle auf der Basis von Gleichheit, Gerechtigkeit und Verantwortung.     

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21. August 2017
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