Das Schaudern vor der Sinnlosigkeit
Wie ich mich das erstemal verliebte – und zugleich in literarische Abgründe stieg. Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #27
Das Mädchen meiner Träume lebte in London, hiess Iris und ich kannte sie schon ein ganzes Jahr, ohne zu ahnen, was sie mir bald bedeuten würde. Sie hatte mit ihren Eltern an Ostern Verwandte von uns in der Schweiz besucht, und weil auch ich die Ostertage bei diesen Verwandten verbringen durfte, lernte ich die fast gleichaltrige Iris kennen. Danach begannen wir uns zu schreiben, und mit jedem ihrer Briefe wuchs mein Interesse an ihr.
Endlich, im folgenden Frühling, als Ostern erneut vor der Tür stand, vereinbarte ich mit Iris, sie zu besuchen. Ich reiste nach London – und vom Augenblick an, an dem wir uns gegenüberstanden, begleitete uns eine gespannte scheue Erwartung, wie wir sie beide noch nie erlebt hatten. Wir standen an einer Schwelle, von der wir spürten, dass wir sie gleich übertreten würden. Noch am gleichen Tag, am Ufer der Themse, mitten in London, erlebte ich endlich, was ich lange herbeigesehnt hatte: Ich küsste ein Mädchen.
Verliebt bis ins Innerste meiner jugendlichen Gefühle kehrte ich nach Hause zurück, und schon erhielt ich von Iris die nächste Post. Sie schrieb mir den kreativsten und fröhlichsten Brief, den ich jemals erhalten hatte – was mich als ambitionierter Jungautor natürlich beflügelte, ihr ebenso überschwänglich zu antworten. Schwärmerisch, sprühend vor Phantasie schrieb ich zurück, und so kreuzten sich nun die Liebespostillen zwischen der Schweiz und London in leidenschaftlicher Folge.
Mein Schreiben für die Öffentlichkeit jedoch durfte auch im siebten Himmel nicht ruhen. Während ich mein unschuldiges erstes Verliebtsein in poetische Worte zu giessen versuchte, schrieb ich zur gleichen Zeit auch Zeilen wie diese:
«In seiner fortdauernden Unfähigkeit, das Leben unter Mitmenschen zu meistern, gerät er in immer grössere Isolation.»
«Er erlebt zunächst eine bedrückende, oft totalitäre Erziehung, die ihn mit Komplexen behaftet ins Leben entlässt. Später wird ihm dann häufig der Intellektualismus eines Studiums zur letzten Zuflucht. In seiner fortdauernden Unfähigkeit, das Leben unter Mitmenschen zu meistern, gerät er in immer grössere Isolation. In masochistischer Weise beschäftigt er sich in einsamer, abweisender Gegend mit Theorien, die vollständig ins Abstrakte entglitten sind. Er vermag sich seinen Zustand wohl zu erklären, kann ihm aber nicht mehr entfliehen. Angst vor plötzlicher geistiger Leere, die den Selbstmord zur Folge hätte, zwingt ihn, seinen Intellekt fortwährend zu martern; körperlich ist er eigentlich bereits tot. Dringt ein Aussenstehender in seine Abgeschiedenheit ein, wird ihm seine Impotenz aufs neue bewusst. Die ihn umgebende Welt ist dem Zerfall preisgegeben, was wiederum zu seiner Selbstgeisselung beiträgt. Seine unbeirrbare Sehnsucht nach dem Tod wird ihn schliesslich auf eine unnatürliche Weise sterben lassen.»
Für meine erste Buchrezension im Feuilleton der «Zürichsee-Zeitung» hatte ich mich an einen harten Brocken herangewagt: Ich besprach das damals neu erschienene Buch von Thomas Bernhard, «Midland in Stilfs» und schilderte in meiner Besprechung den Bernhard’schen Menschen, der in den Werken des Österreichers fast immer dieselbe existenzielle Sinnlosigkeit erlebt. Die Art und Weise, wie der Schriftsteller seine Figuren zeichnete, fesselte und schockierte mich, denn ich fühlte und lebte so vollkommen anders als dieser damals 40-jährige Autor, von dem ich annehmen musste, dass er in seinen Büchern eigentlich über sich selber schrieb. Es schauderte mich, dass ein Mensch das Leben so grauenhaft finden kann – doch genau deshalb musste ich mich mit ihm beschäftigen.
Worum geht es in dem Buch, das ich besprach? In der ersten Geschichte erzählt der verstörende Dichter von zwei Brüdern, «die sich zur völligen Isolierung in ein Ferienhaus im Gebirge zurückziehen. Bereits auf dem Weg dahin lassen sie sich bis zum Wahnsinn über ihre deprimierende Vergangenheit aus – und müssen dann erkennen, dass die Hütte nicht mehr bewohnbar ist.»
Eine zweite Geschichte handelt von einem Anwalt, der sich derart in ein theoretisches Denken verkrallt hat, dass er unfähig wird, seinen Klienten zu helfen. Dadurch macht er sich sogar an einem Selbstmord mitschuldig. Und die Titelgeschichte im Buch führt in die Abgeschlossenheit eines Bergdorfs, dessen Bewohner zur Erkenntnis gelangen, «dass sie sich zwar nicht umbringen werden, ihr natürliches Ende jedoch, das kein natürliches Ende ist, beschleunigen wollen.»
Selbst mitten im Hochgefühl meiner emporschiessenden Liebesgefühle zog es den jungen Suchenden, der ich war, aus dem Licht in den Schatten. Ich wollte das Phänomen eines Menschen begreifen, der über die Liebe nicht schreiben konnte, weil er offenbar nicht das Glück hatte, sie zu erfahren – und weil er sie auch nicht annehmen konnte. Heute weiss ich aus Berichten, die ich über ihn las, dass Thomas Bernhard nie eine längere Beziehung gehabt hat.
An weiblicher Zuwendung fehlte es ihm keineswegs, aber wenn eine Frau ihm zu nahe kam, sei er «eiskalt« geworden. Er selber habe einmal gesagt: «Eine Frau für mich gibt es nicht. Alles wäre dann aus. Ich könnte dann nichts mehr schreiben.«
Mit anderen Worten: Die Kraft der Liebe hätte den Dichter daran gehindert, weiterhin über den Tod zu schreiben. Denn der Tod und alles, was in letzter Konsequenz zu ihm führt, beherrschte das Werk Thomas Bernhards. Es ist und bleibt ein schreckliches, hoffnungsloses Vermächtnis, das der exzentrische Österreicher der Welt hinterliess.
Und doch haben mich Menschen wie er, Menschen im Abgrund immer wieder beschäftigt. Meine Büchern enthalten viele Porträts von Männern und Frauen, deren Leben düster und schwer war. Licht und Schatten auf dieser Welt sind wie Geschwister. Ich kann das Helle nur schätzen, wenn ich mich auch dem Dunklen stelle. Heute weiss ich, dass es so ist. Damals spürte ich es.
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