Wir haben noch immer ein Büchergestell. Ich sage das deshalb, weil viele Menschen kein Büchergestell mehr besitzen. Manche, vor allem jüngere Menschen haben schon gar nie eines gehabt. Entweder lesen sie keine Bücher oder sie lesen das, was in Büchern steht, in ihrem elektronischen Büchergestell. Darin haben viele Tausende Bücher Platz. Trotzdem ist das elektronische Büchergestell nur so gross wie ein einzelnes Buch. Es passt in einen handlichen kleinen Bildschirm. Wozu also richtige Bücher kaufen, die Platz benötigen und abgestaubt werden müssen?
Unser Büchergestell stammt noch aus einer Zeit, als alle Menschen in meinem Umfeld eines besassen. Im Büchergestell standen Bücher, die man gelesen hatte oder irgendwann lesen wollte. Man behielt diese Bücher. Man behielt sie alle, weil sie einen Wert hatten. Einen äusseren und einen inneren Wert. Ihr innerer Wert machte ein Buch zu etwas Besonderem. Ein Buch war kein Gegenstand. Sein Inhalt war seine Seele. Deshalb war es mir fast unmöglich, ein Buch fortzuwerfen. Das brachte ich nur übers Herz, wenn das Buch wirklich schlecht war. Menschen mit schlechten Eigenschaften versuche ich, wenn immer möglich, zu meiden. Dasselbe galt für ein schlechtes Buch. In unserem Büchergestell durften schlechte Bücher nicht bleiben. Aber alle anderen hatten im Gestell ihren festen Platz.
Manche stehen schon seit Jahrzehnten am selben Ort. Sie stehen dort, seit wir sie gekauft und gelesen haben. Mit jedem neuen Buch, das hinzukam, wuchs das Büchergestell. Ich habe Häuser und Zimmer betreten, wo jede freie Wand mit Büchergestellen bedeckt war. Mich hätten so viele Bücher erdrückt. Doch den Menschen in diesen Häusern gefiel es in ihrer Bücherwelt. Sie lebten nicht draussen im Leben, sondern in dem, was über das Leben in ihren Büchern stand.
So bibliophil war ich nie. Deshalb blieb das Wachstum unseres Büchergestells überschaubar. Doch es wuchs von Jahr zu Jahr spärlicher, und irgendwann wuchs es gar nicht mehr. Nämlich dann, als auch ich keine Bücher mehr kaufte. Seither hat sich das Büchergestell nicht mehr verändert, und die Bücher wurden zu Möbelstücken. Sie verteidigen ihren Platz, doch mit jedem Jahr werden sie wertloser.
Würde ich sie verkaufen – niemand würde sie wollen. Weil es zu viele Büchergestelle gibt, in denen dieselben Bücher herumstehen. Jeden Tag werden den Brockenhäusern kistenweise Bücher gebracht, die niemand mehr will. So wenig sind Bücher noch wert. Jedesmal, wenn ein Mensch stirbt, der ein Büchergestell besass, stehen die Angehörigen vor der Frage, was sie mit all diesen Werken und Schmökern, diesen Gesamtausgaben und Lexika, diesen Weltromanen und Groschenromanen, Wörterbüchern und Taschenbüchern, Fotobüchern und Kochbüchern anfangen sollen.
Um der Nachwelt meinen persönlichen Bücherberg dereinst zu ersparen, halte ich vor dem Büchergestell manchmal inne, lasse meinen Blick über die Reihen schweifen und überlege mir, ob ich dieses Buch oder jenes Buch vielleicht weggeben könnte. Ich sage Weggeben, um ein anderes Wort zu vermeiden. Denn ich weiss, was mit Büchern heute geschieht, die man weggibt.
Ich stelle mir dann immer dieselbe Frage: Werde ich dieses Buch irgendwann nochmal brauchen, irgendwann nochmal lesen? Die Antwort ist immer Nein. Aber ich schiebe es zurück in die Reihe.
Weil man Bücher nicht fortwirft.
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Unter den Büchern in unserem Büchergestell hat es einige alte, von meinen Eltern geerbte Werke. Und das älteste Buch war eine Bibel aus dem Jahre 1777. Diese Bibel sah richtig alt aus. Sie sah nicht aus wie ein zerfleddertes altes Buch, sondern wie eine Antiquität, und ich wusste, ich könnte sie teuer verkaufen. Das wollte ich tun. Ich betrat ein Antiquariat in der Stadt, in dessen Schaufenster viele sehr alte Bücher stehen, und zeigte dem Antiquar meine Bibel aus dem Jahr 1777.
Der Antiquar schenkte der Heiligen Schrift einen flüchtigen Blick, blätterte kurz darin und führte mich dann zu einem Gestell in der Ecke des Ladens. Er zeigte mir die Bücher darin. Es waren ausnahmslos alte Bibeln aus dem 18. Jahrhundert. «Von denen habe ich schon genug», sagte der bücherkundige Buchhändler, «mehr kann ich gar nicht mehr unterbringen.»
In einem zweiten Antiquariat erhielt ich denselben Bescheid. Im dritten Antiquariat ebenso. Dann gab ich auf – und nahm die Zwanzigernote dankbar entgegen, die mir der dritte Buchhändler gönnerhaft über den Ladentisch schob.
Ich wusste nun, dass selbst alte Bücher nicht wertvoller sind, weil sie alt sind. Nachdenklich stand ich vor unserem Büchergestell und schlug mir die Einbildung aus dem Kopf, irgendeines der Bücher in klingende Münze tauschen zu können.
Stattdessen beschloss ich zu handeln und sagte mir: Obwohl ich Schriftsteller bin und es mir wehtut, daran zu denken, dass auch meine, für die Ewigkeit geschriebenen Werke den Weg alles Irdischen gehen, muss ich gerade deshalb den Mut aufbringen, der Vergänglichkeit ins Auge zu blicken und mich nicht an die Materie zu klammern. Vor allem aber darf ich das Schlachten des Kalbes nicht der Fleischfabrik überlassen. Ich muss ehrlicherweise selber der Metzger sein. Meinen Bücherberg muss ich selber abbauen können.
Ich suchte das Büchergestell nach einem geeigneten ersten Opfer ab und blieb bei zwei voluminösen Wälzern hängen, die aus der Bibliothek meiner Eltern stammten. Es handelte sich um das «Schweizer Lexikon» in zwei Bänden, 1949 erschienen im Encyclios Verlag Zürich.
Mit grimmiger Entschlossenheit legte ich die beiden je tausendseitigen Bände zum Altpapier. Aber das war nicht umweltgerecht. Ich musste die Deckel der sorgsam gebundenen Bände getrennt entsorgen.
Dieser massive Eingriff gestaltete sich aber gar nicht so leicht. Mein Versuch, die kartonisierten, stoffüberzogenen Deckel mit einem Ruck von ihrem Inhalt zu trennen, scheiterte an der Bindung des Buches, die sich als zäh erwies. Selbst das Taschenmesser vermochte die Fäden zwischen Inhalt und Deckel nicht auf Anhieb zu trennen. Ich rechnete ständig damit, dass mir das Messer entgleiten und mich verletzen würde.
Denn im Grunde war ich nicht sicher, ob ich ein Buch, das meinen Eltern bestimmt viele Dienste erwiesen hatte, zerstören durfte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sich das Lexikon gegen mein rohes Handeln zur Wehr gesetzt hätte.
Ein so gewichtiges und doch so bescheidenes, bodenständiges Werk, das im Unterschied zu manchen Romanen nicht in sich selbst verliebt ist, sondern lediglich dienen, lediglich etwas nützen will; ein so schwer in den Händen liegendes, schön gestaltetes Buch zu zerreissen – dies zu tun, widerstrebte mir. Mir schien, als würde ein altes Haus dem Erdboden gleichgemacht.
Das Schweizer Lexikon aus dem Jahre 1949 war nicht geschrieben, gesetzt, gedruckt und gebunden worden, um es mutwillig zu zerstören. Es wurde gemacht, um es viele Jahrzehnte lang zu benützen – bis es von selber zerfallen wäre. So dachten meine Eltern, die das Nachschlagewerk zur Hochzeit erhielten, und denselben Respekt hatte auch ich.
Als ich die Bücher erhalten hatte, glaubte ich noch, ich würde sie gelegentlich brauchen können. Ich brauchte sie nie. Denn das neue Jahrtausend hat mir ein Lexikon überreicht, das ich nicht einmal kaufen musste. Es ist ein viel umfangreicheres, farbenfroheres, handlicheres, aktuelleres Nachschlagewerk als das «Schweizer Lexikon» aus dem Jahr 1949, und es wird von Tag zu Tag grösser, informativer, umfassender.
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Ich habe die beiden Bände erfolgreich zerrissen und ihre Bestandteile weggeschmissen, die zweimal tausend Seiten ins Altpapier, die Deckel der Bücher in den sonstigen Kehricht. Aber ich fühle mich nicht entlastet und befreit von Ballast, und ich werde dieses Gefühl auch nicht haben, wenn ich mein Vernichtungswerk fortsetze. Denn im Grunde finde ich immer noch, dass man gute Bücher nicht fortwirft. Gute Bücher sind wie gute, lebendige Wesen, und lebendige Wesen tötet man nicht.
Aber ich weiss: Das Lexikon, von dem es schien, es sei für immer gemacht, war nur der Anfang. Ich werde noch vieles entsorgen müssen. Wenn ich es nicht tue, tut es die Zeit.